Nichts ist selbstverständlich
Die Deutschen haben ein klares Japanbild. In diesem Japan leben ebenso höfliche wie emsige Arbeitsbienen auf engen Raum und essen rohen Fisch. Wenn sie ins Ausland kommen, fotografieren sie ohne Unterlass. Wer ein wenig länger nachdenkt, kommt auf noch ein paar Eigenarten, die sich zu einem Bild fügen: eine fremde, kaum zugängliche Kultur. Die Japaner ihrerseits kennen ebensolche Stereotype von Deutschland. Sie sehen die Deutschen als logisch denkende, arbeitsame, regelgläubige Pünktlichkeitsfanatiker, die sich hauptsächlich von Wurst und Bier ernähren und mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten.
„Japaner sind sehr freundlich und werden Sie normalerweise nicht spüren lassen, wenn Sie sich falsch verhalten.“
Wer die andere Kultur kennen lernen und verstehen will, muss zuerst begreifen, wie sehr diese Stereotype kulturell geprägt sind. Weil sich Deutsche z. B. in der Regel mit festem Händedruck begrüßen, irritiert sie der als schlaff empfundene Händedruck eines japanischen Gegenübers. Der hingegen wertet das herzhafte Zupacken des Deutschen als zudringlich, oft gar als Ankündigung eines unfreundlichen Akts: „Wer so zugreift, der will mir Böses.“ Körperkontakt ist in Japan nämlich über einen leichten Händedruck hinaus tabu. Japaner – oder jede andere Kultur – kennen lernen zu wollen, beginnt daher mit einer grundlegenden Einsicht: Nichts ist selbstverständlich.
In der Gruppe stark
Das gilt etwa für den Umgang mit der Wahrheit. Das deutsche Verständnis von Aufrichtigkeit soll Verlässlichkeit signalisieren. Man steht zu dem, was man sagt – Konfliktbereitschaft inklusive. Offene Diskussionen bringen den Prozess voran und führen zur Lösung, so das Selbstverständnis. Wer seine Meinung oft ändert, wird als nicht vertrauenswürdig empfunden. Diese Offenheit wird in Japan fast immer als unangemessen, häufig sogar als verletzend empfunden. Es ist nicht wichtig, dass der Einzelne sich durchsetzt, sondern das Wohl der Gruppe hat höchste Priorität. Dafür hat der Einzelne sich zurückzunehmen. Erfahrung ist wichtig, deshalb treffen in Japan meist die Älteren die Entscheidungen. Am wichtigsten aber ist, dass niemand sein Gesicht verliert. Damit notwendige oder gewünschte Entscheidungen nicht endlos verschoben werden, schaffen Japaner bewusst Situationen, in denen sie offen reden.
„Bildung ist in der japanischen Gesellschaft ein extrem wichtiger Faktor.“
Das Ganze ist kein Versteckspiel. Es ist der Versuch, gewachsene Traditionen mit modernen Notwendigkeiten zu vereinbaren. Natürlich wollen auch die Japaner erfolgreich Geschäfte machen – wie gut sie das können, haben sie in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen. Sie verstehen sich allerdings immer als Teil einer Gruppe, eines Innen („uchi“). Das kann die Familie, die Firma oder bei Auslandsbesuchen ganz Japan sein; die Gruppe ist immer wichtiger als der Einzelne. Wer sich nicht eingliedert, wird in Unternehmen nicht befördert –das nützt dem Gruppengedanken. Wer nicht „uchi“ ist, ist „soto“, d. h. draußen. Alle Ausländer sind erst einmal „soto“.
Der Weg zum Konsens
Das führt nicht zur Ablehnung von Ausländern, wohl aber zur Distanz. Wer mit Fremden ins Geschäft kommen will, muss verhindern, dass diese ihr Gesicht verlieren. Wenn Sie diesen Ansatz verstanden haben, wundern Sie sich nicht mehr, warum die Entscheidungsfindung in Japan so anders ist. Es beginnt damit, dass Informationen zwar sehr früh, allerdings nur in kleinen Prisen weitergegeben werden. Aus dem Feedback lässt sich rechtzeitig erkennen, ob noch umgesteuert werden muss. Wenn eine Entscheidung fällt, ist meist weitgehender Konsens erreicht.
„Wer nicht in der Lage ist, seine Gefühle und seine Meinung zu kontrollieren, gilt als selbstsüchtig.“
Dieser Bottom-up-Ansatz kollidiert mit dem europäischen Verständnis des „par ordre de mufti“. Das Problem beim hiesigen Top-down-Ansatz: Wenn der Chef ein Machtwort spricht, heißt das noch lange nicht, dass es auch umgesetzt wird. Beim Bottom-up-Ansatz ist das viel wahrscheinlicher. Schließlich wissen alle, worum es geht, und haben bei der Entscheidungsfindung mitgewirkt. Also setzen sie quasi eine eigene Entscheidung um.
„Der japanische Angestellte versteht sich als kleiner, aber wichtiger Teil eines großen Ganzen.“
Wichtig ist, sich vor Entscheidungen erst einmal gründlich zu informieren; in dieser Pflicht sehen sich die Japaner. Für Europäer bedeutet das, sich von der Vorstellung zu verabschieden, in Meetings verbindliche Entscheidungen zu fällen. Wird aber im Nachgang des Treffens festgestellt, dass Konsens herrscht, dann wird die Entscheidung umgehend umgesetzt.
Vom Aussitzen
Konflikte werden in Japan selten offen ausgetragen. Nur hierarchisch hochrangige Manager dürfen sich einen etwas ruppigen Ton erlauben – allerdings nur rangniedrigeren Managern gegenüber. Hierarchieebenen dürfen nie übersprungen werden. Wer als rangniedriger deutscher Manager ein Problem konstruktiv mit einer hochrangigen japanischen Führungskraft lösen will, wird keinen Erfolg haben. Der Japaner wird allein schon die Idee für ehrverletzend halten. Offen formulieren wird er das aber nicht: Beide würden ihr Gesicht verlieren. Deshalb werden Konflikte in Japan dann auf die lange Bank geschoben oder umschifft. Direkt angegangen werden können sie jedenfalls nicht. Das bedeutet aber auch, dass sie mitunter lange schwären. Eine Möglichkeit, Konflikte zu entschärfen, ist die Entschuldigung. Sie bedeutet aber – anders als in Europa – nicht das Eingeständnis von Schuld. Es geht nur darum, sein Bedauern zum Ausdruck zu bringen, eben in Form einer Entschuldigung. Das lockert die Fronten entscheidend auf: Die andere Seite hilft mit bei der Gesichtswahrung.
„Japaner mögen keine Überraschungen.“
In Deutschland schimmert oft der Eindruck durch, die Asiaten würden es übertreiben mit dem „Gesicht wahren“. Das täuscht und ist wohl eher eine Frage von Begrifflichkeiten, denn auch Deutsche stellen andere ungern bloß und bringen niemand gern in Verlegenheit. Einen Unterschied gibt es allerdings: Während Deutsche eher „Schwamm drüber“ sagen, schleppen Japaner einen Gesichtsverlust lange mit sich herum.
„Japaner versuchen, Konflikte nicht anzusprechen, sondern auszusitzen.“
Als Gesichtsverlust gilt auch, anderen etwas schuldig zu bleiben, einen Gefallen etwa. Deshalb ist der Austausch von Gefälligkeiten und kleinen Geschenken („giri“) ebenso wichtig wie komplex. Für Westler sind Geschenke an Japaner Pflicht, um Verbundenheit zu erzeugen. Und es ist natürlich klug, sich gefällig zu zeigen, um „giri“ aufzubauen.
Verstehen, was nicht gesagt wird
In Deutschland dienen Besprechungen vordergründig dem Weiterkommen des Unternehmens durch konstruktive Diskussion. Im Subtext geht es für die Teilnehmer aber auch darum, sich bestmöglich zu präsentieren, also das persönliche Weiterkommen zu befördern. In Japan stellen die Teilnehmer den Stand ihrer Arbeit vor und liefern so die Argumente, die für eine Entscheidung benötigt werden. Diese wird – nach weiteren Besprechungen – vom Vorgesetzten verkündet. Wer dies verstanden hat, wird nicht auf Entscheidungen in Meetings drängen. Er wird aber in jedem Fall die Form einhalten, d. h. pünktlich sein (vor allen bei Kunden), korrekt und unauffällig gekleidet erscheinen, auf Small Talk aufgeschlossen und höflich eingehen, keine Diskussion anzetteln.
„Das eigene Gesicht und das der anderen zu wahren sind Verhaltensregeln, die vermutlich jede Kultur kennt.“
Das alles ist schwierig für Deutsche, die klare und verlässliche Aussagen brauchen, weil sie es so gewohnt sind. In Japan bekommen sie die nicht. In Gesprächen ist mitunter wichtiger, was nicht gesagt wird. Es spielt eine entscheidende Rolle, wer was wann wo sagt. Die Kommunikation ist vielschichtig und schwer zu interpretieren – oft auch für Japaner selbst. Sie lässt sich durch Zuhören (d. h., die eigene Ungeduld zu bezwingen) und Lesen von nonverbalen Zeichen verbessern.
„Durch Geschenke und Gefälligkeiten baut man Beziehungen aus und kleine Abhängigkeiten auf.“
Ein „Nein“ wird beispielsweise nur nonverbal vermittelt, etwa durch das Kreuzen der Finger oder Hände, durch das Wedeln der flachen Hand oder durch das „Wegschieben“ von Luft. Hörbares Einsaugen von Luft signalisiert: Probleme! Kombiniert mit einem Blick nach oben wachsen die Probleme. Wer zuvor das Wort „mutsukashi“ („schwierig“) – die dichtestmögliche Annäherung an „Nein“ – gehört hat, weiß eh Bescheid.
„Japaner sind im Vergleich zu uns weniger zielorientiert, sondern mehr prozessorientiert.“
Das vielschichtigste nonverbale Signal ist das Schweigen. Was es bedeutet, hängt ganz vom Kontext ab. Japaner wissen allerdings: Westler tun sich schwer mit dem Schweigen. Oft wird dieses Instrument daher eingesetzt, um Geschäftspartner zu Zugeständnissen zu bringen – nach dem Motto „Mal sehen, ob’s klappt“.
Der allmächtige Chef …
Wer als europäischer Manager japanische Untergebene hat, sollte wissen, was diese von ihm erwarten. Der Chef hat seine Mitarbeiter auf die gemeinsamen Ziele einzuschwören und dafür zu sorgen, dass sie sich tatsächlich dafür einsetzen können. Das bedeutet auch, sich bei Bedarf um deren private Belange zu kümmern. Der Chef wird in Japan niemals offen hinterfragt. Was er sagt, gilt. Diese Medaille mag manche Vorgesetzte freuen, aber sie hat natürlich auch eine Kehrseite: Selbstständiges und weitgehend eigenverantwortliches Arbeiten ist unüblich. Die Mitarbeiter müssen geführt werden. Fachkenntnisse spielen bei der Einstellung in japanischen Unternehmen keine große Rolle: Was an Wissen benötigt wird, kann auch noch später vermittelt werden. Hauptsache, die Leistung der Gruppe leidet nicht.
„In Japan ist der Kunde nicht König, sondern Gott.“
Die Gruppe geht abends gelegentlich aus, mindestens einmal pro Monat. Das ist so in Japan. Sich auszuklinken geht eigentlich gar nicht. Was für Westler wie Gruppenzwang wirkt, hat ein praktische Komponente für das Arbeitsleben: Weil während der offiziellen Arbeit der Austausch stark ritualisiert ist, können offene Worte nur im inoffiziellen Kontext ausgetauscht werden. Alkohol hilft. Das gemeinsame Trinken ist natürlich ebenfalls ritualisiert: Oft sind die Kollegen nicht halb so betrunken, wie sie tun, um endlich mal ihrem Herzen Luft machen zu können. Was abends gesagt oder gehört wird, darf am nächsten Morgen auf gar keinen Fall wieder aufgegriffen werden. Aber im Hinterkopf sollte (und darf) es behalten werden.
… und der kaum weniger mächtige Kunde
Es hat sicher seine Gründe, wenn Deutschland als Dienstleistungswüste gilt – dort scheinen die Menschen es ja schon als unanständig zu erachten, Kunden ein Lächeln zu schenken. In Japan ist das anders. Der Wille zur Dienstleistung ist da, und er wird goutiert. Oft sind die Kundenbeziehungen stark personalisiert. Sie aufzubauen dauert lange: Bis die Beziehung sich rentiert, wird bis zu zehn Jahren Aufbauarbeit in Kauf genommen. Um die so mühevoll aufgebaute Loyalität guter Kunden nicht zu gefährden, neigen manche japanische Unternehmen dazu, europäische Mitarbeiter zu Treffen mit Kunden nicht mitzunehmen – zu viel Porzellan könnte zerschlagen werden. Bei jedem geschäftlichen Treffen gilt: Verbeugen statt Händedruck und – wichtig – der formale Austausch von Visitenkarten. Diese zeigen in Japan die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (dem Unternehmen als Arbeitgeber), und der Umgang mit ihnen spiegelt die Achtung wider, die diesem Unternehmen entgegengebracht wird. Wer nachlässig mit eigenen Visitenkarten umgeht, entehrt damit seinen eigenen Arbeitgeber; wer fremde Visitenkarten nicht achtet, lässt es an Wertschätzung für das andere Unternehmen mangeln. Visitenkarten werden übrigens mit beiden Händen überreicht (und entgegengenommen) und zwar so, dass das Gegenüber sie lesen kann. Wieder einmal zeigt sich: Begreifen ist der Anfang von allem.