Naturschutz ist Wirtschaftsförderung
Dass Naturschutz nicht nur eine Attitüde irgendwelcher Ökospinner ist, sondern unsere Lebensgrundlagen sichert, hat sich inzwischen herumgesprochen. Dennoch wird der Umweltschutz in der Wirtschaft zumeist als reiner Kostenfaktor gesehen, der den ökonomischen Erfordernissen widerspricht und die wirtschaftliche Entwicklung, speziell in Schwellenländern, bremst. Diese Haltung ist grundfalsch: Die Natur erbringt zum Nulltarif eine Vielzahl von Leistungen, die technisch nur zu sehr hohen Kosten oder gar nicht bereitgestellt werden könnten – vom Hochwasserschutz bis hin zur Ermöglichung von technischen und wissenschaftlichen Innovationen. Bereits vor zehn Jahren schätzten Experten den Gesamtwert dieser Leistungen auf 33 Billionen US-Dollar – das damalige weltweite Bruttosozialprodukt betrug dagegen nur rund 18 Billionen Dollar. Auch wenn eine intakte Natur ein Wert an sich ist, ist der Schutz der Natur darum nicht nur Selbstzweck, sondern zugleich eine ebenso sinnvolle wie gewinnbringende Investition in das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand.
Bionik: Von der Natur inspiriert
Viele bahnbrechende technische Entwicklungen sind nicht dem menschlichen Gehirn entsprungen, sondern der Natur entlehnt – Stichwort Bionik. Schon der Stacheldraht entstand nach dem Vorbild dorniger Zweige. Der Salzstreuer wurde von einer Mohnkapsel inspiriert und der Klettverschluss – der Name verrät es – von Kletten. Im Automobilbau werden Material sparende Leichtbaukonstruktionen nach dem Vorbild von Bäumen und Knochen gebaut, Kieselalgen waren das Vorbild für eine Autofelge, und durch das Studium von Katzenpfoten und Bienenwaben wurden die Autoreifen sicherer. Bekannt ist auch der Lotoseffekt, der Vorbild für unzählige selbstreinigende Oberflächen vom Fassadenlack bis zur Sanitärkeramik ist. Schiffe werden wie Wal- oder Delfinschnauzen geformt; das Strukturprinzip der Haihaut schützt sie vor Algenbewuchs und lässt in den neuen Superschwimmanzügen die Weltrekorde nur so purzeln. Außerdem ist es gelungen, Fasern zu entwickeln, die so stabil wie Spinnenseide sind, sowie Linsen, die nach dem Prinzip des Krakenauges arbeiten. Je nach Fragestellung stehen immer andere Tier- und Pflanzenarten im Fokus. Natürlich weiß man nicht immer, welches wirtschaftliche Potenzial eine Neuentwicklung hat, doch eines ist sicher: Je größer die Artenvielfalt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Natur auch in Zukunft genügend Lösungen für technische Probleme bereithält.
Medizinische Grundlagen
Viele Menschen setzen auf Naturheilmittel – in zahlreichen ärmeren Ländern gibt es gar keine Alternativen zu diesen Arzneien. Aber auch in den hoch entwickelten Ländern basieren viele Medikamente auf Naturstoffen bzw. sind synthetische Nachbauten natürlicher Substanzen. Mit der Natur wird also direkt oder indirekt viel Geld verdient; Deutschland ist dabei eines der großen Handelszentren für Medizinpflanzen. Doch diese Nutzung der Natur hat auch ihre Schattenseiten: Viele Pflanzen können nicht angebaut werden, sondern stammen aus Wildsammlungen. Übernutzung und mangelnde Nachhaltigkeit können hier zu Knappheit führen.
„Für die meisten von der Natur erbrachten Leistungen existiert kein Markt.“
Dazu kommt eine ungerechte Verteilung der Erträge: Die Naturvölker, deren Wissen bei der Erforschung der Natur genutzt wird, gehen oft leer aus, die großen Pharmakonzerne dagegen verdienen bestens. Derzeit wird aber – vor allem dank des Engagements von NGOs – intensiv an neuen vertraglichen Strukturen gearbeitet, die auch die Einheimischen angemessen beteiligen. Darüber hinaus wirkt eine intakte Natur an sich heilend bzw. vorbeugend auf die Gesundheit: Nachweislich belebt der Blick in die Natur, fördert Heilungs- und Genesungsprozesse und ist eine wichtige Ressource für Entspannung und Erholung. Auch Wellness und Natur gehören eng zusammen – und der Wellnessmarkt wird für 2010 auf rund 100 Milliarden Euro geschätzt.
Wirtschaftsfaktor Tourismus
Ob Wander- oder Fahrradurlaub, Angeln oder Whalewatching: Eine intakte Natur ist eine wichtige Grundlage für den Wirtschaftsfaktor Tourismus und bringt damit ganz unmittelbar gutes Geld. Bereits heute hängen weltweit rund 8 % aller Jobs und ein Drittel aller Dienstleistungen am Tourismus.
„Heute sind etwa 50 % aller weltweit zugelassenen Medikamente pflanzlichen Ursprungs.“
Dazu kommt die Wertschöpfung aufgrund von Investitionen in Schutzgebiete oder in den Bau von Besucherzentren, Radwegen und anderen Infrastrukturmaßnahmen. Allein die Angler sichern in Deutschland etwa 52 000, in den USA sogar rund 300 000 Arbeitsplätze. In Australien, dessen Naturparks wie z. B. das weltbekannte Great Barrier Reef zu den wichtigsten touristischen Attraktionen gehören, kann ein einziger in ein Naturschutzgebiet investierter Dollar bis zu 21 $ Gewinn erwirtschaften. Umgekehrt kann ein gestörtes Ökosystem (z. B. die Algenblüte in Florida) zu empfindlichen Einnahmeausfällen und erheblichen Kosten für die Regeneration des Systems führen.
„Die natürliche Umgebung fördert die Belebung nach mentaler Ermüdung, wirkt aufbauend und hilft beim Heilungsprozess.“
Speziell für ärmere Länder und wirtschaftlich schwache Regionen bietet der Naturtourismus (z. B. Tierbeobachtung) große ökonomische Chancen. Natürlich gibt es auch Interessenkonflikte, wenn die Natur touristisch genutzt wird. Nicht immer ist diese Nutzung unbedenklich für die jeweiligen Ökosysteme, und die einheimische Bevölkerung steht Schutzzonen nicht grundsätzlich positiv gegenüber. Allerdings werden zunehmend Systeme entwickelt, um die Besucherströme zu lenken und eine In-Wert-Setzung der empfindlichen Ökosysteme zu erreichen, etwa über Konzessionen, Steuern, Eintritte und Nutzungsgebühren.
Standortfaktor Natur
Leben im Grünen – wer will das nicht? Die Natur bietet Lebensqualität und genau diese Lebensqualität ist es, die den Wert eines Standorts bestimmt: für die Menschen, die dort leben, und für die Unternehmen, die qualifiziertes Personal anziehen wollen. Auch und gerade in Städten ist Grün ein wesentliches Qualitätsmerkmal: Je mehr Freiräume und Grünflächen, desto teurer werden die Grundstücke. Ganz nebenher tun die Städte damit etwas für die Artenvielfalt, denn diese Grünflächen bilden nicht nur Miniökosysteme, sondern bieten auch Lebensräume für z. T. seltene Tier- und Pflanzenarten. Die Naherholungsgebiete im Umkreis der Ballungszentren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle für die Attraktivität der Städte. Speziell stadtnahe Wälder sind ein wichtiger Faktor für die Regeneration und Freizeitgestaltung.
„Wellness-Urlaub und Tourismus sind ohne intakte Natur nicht denkbar.“
Früher lieferte das Umland die Nahrungsmittel und die Arbeitskräfte, die Stadt dagegen Güter und Dienstleistungen. Dieser alte Stadt-Umland-Vertrag gilt so heute nicht mehr. Die landwirtschaftlichen Produkte haben immer weniger Wert, gleichzeitig verursacht die intensive Landwirtschaft immer mehr kostspielige ökologische Schäden. Der neue Stadt-Umland-Vertrag sollte deshalb den Wert der Natur für die Städte, der bislang kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, angemessen berücksichtigen und so zu mehr Umweltschutz und einem neuen Gleichgewicht zwischen Stadt und Land führen.
Nachhaltige Naturnutzung
Es ist kein Geheimnis, dass wir alle von der Natur leben. Wir ernähren uns von landwirtschaftlichen Produkten; eine nicht nachhaltige Landwirtschaft erzeugt verschmutzte Gewässer und verarmte Böden und bedroht somit unsere Lebensgrundlage. Daneben führt sie zu einer enormen Verminderung der landwirtschaftlich genutzten Arten, mit allen damit verbundenen Folgen für die genetische Vielfalt. Das gilt sowohl für Pflanzen als auch für Tiere. Beispielsweise werden von den ehemals 2000 Reissorten in Sri Lanka heute nur noch fünf angebaut, und in Deutschland gibt es praktisch nur noch drei Schweine- und eine einzige Hühnerrasse. Trotz einer durchindustrialisierten landwirtschaftlichen Produktion mit enormen Überschüssen leiden über 900 Millionen Menschen an Hunger. Der Grund ist vor allem die unzureichende Verteilung, die vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung zunehmend an Dramatik gewinnt.
„Eine nachhaltige Energieversorgung für die Zukunft ist nur zu leisten, wenn gleichzeitig die Energieeffizienz gesteigert und der Energieverbrauch deutlich reduziert wird.“
Studien zeigen, dass eine ökologisch ausgerichtete Landwirtschaft sich weniger negativ auf die Umwelt und das Klima auswirkt und weniger Energie und Ressourcen verbraucht. Ökobetriebe schaffen in Deutschland mehr Arbeitsplätze und erwirtschaften trotz höherer Personalkosten höhere Gewinne als konventionelle Betriebe. Allerdings hätte allein in Deutschland eine vollständige Umstellung auf Ökolandbau einen um 24 % höheren Flächenbedarf zur Folge. Um dies auszugleichen, müssten sich die Ernährungsgewohnheiten ändern: weniger flächenintensive tierische, mehr pflanzliche Produkte.
„Die Schädigung von Ökosystemen setzt mehr CO2 frei als der weltweite Verkehr.“
Der industrielle Fischfang bedroht das ökologische Gleichgewicht. Die zunehmende Überfischung entzieht den kleinen Fischern in den ärmeren Ländern die Existenzgrundlage. Dadurch verschlechtert sich nicht nur die Ernährung der lokalen Bevölkerung, sondern es entsteht auch ein teuer zu bezahlender sozialer Sprengstoff – aktuelles Beispiel ist die Piraterie vor Somalia. Auch Aquakulturen, also die Zucht von Fischen und anderen Meerestieren, schaden oft der Umwelt, denn sie zerstören beispielsweise empfindliche Mangrovengebiete, die sich nur schwer regenerieren. Fangquoten, Schutzgebiete und Zertifizierung sind Ansätze einer nachhaltigen Fischereiwirtschaft.
Ökologische Energieversorgung
Die fossilen Brennstoffe werden nur noch wenige Jahrzehnte reichen, eine Umstellung auf erneuerbare Energien ist unumgänglich. Sie verursachen geringere ökologische Folgekosten und schaffen Arbeitsplätze. Allerdings hat die Energie aus Sonne, Wasser und Wind ebenfalls ihre Schattenseiten: Nicht immer sind beispielsweise Wasserkraftanlagen mit den Bedürfnissen von Fischen und anderen Lebewesen zu vereinbaren; Windräder verschandeln in den Augen mancher die Landschaft und sind laut; die Erzeugung von Biomasse verbraucht Anbauflächen, die für die Lebensmittelproduktion gebraucht werden. Auch haben die regenerativen Energien rein quantitativ ihre Grenzen. Trotz vielversprechender Technologien muss darum die Energieeffizienz deutlich gesteigert und der Energieverbrauch gesenkt werden.
Klimaschutz und Naturkatastrophen
Die menschengemachte Klimaveränderung wird inzwischen von den meisten Experten anerkannt. Die Folgen des Klimawandels sind enorm: Erderwärmung, weniger Niederschläge, mehr Unwetter und vieles mehr. Neben den Emissionen durch Produktion und Verkehr sind in erster Linie die zunehmende Abholzung der Wälder sowie die Vernichtung von Mooren und Feuchtgebieten für diese Entwicklung verantwortlich. Der Schutz dieser Flächen, die Erhaltung intakter Ökosysteme und eine ökologische Landwirtschaft verbessern das Klima erheblich und sparen damit das Geld für Gegenmaßnahmen.
„Manches Naturereignis ist erst zu einer Katastrophe ausgewachsen, weil der Mensch zu sehr in die Natur eingegriffen hat.“
Viele Naturkatastrophen sind das Ergebnis von direkten Eingriffen des Menschen in die Natur und führen zu hohen Folgekosten. Allein das Hochwasser an Donau und Elbe im Jahr 2002 verursachte in Deutschland Schäden im Wert von 9,2 Milliarden Euro. Die Natur selbst hilft dabei, solche Schäden zu verhindern oder zu begrenzen: Überflutungsflächen verhindern Hochwasser; Feuchtgebiete, Mangroven und Korallenriffe bieten einen effektiven Küstenschutz; Bäume bremsen Lawinen; Wälder und Flussauen filtern das Trinkwasser; Bakterien bekämpfen Öl im Meer. Je intakter die Ökosysteme, desto effizienter funktionieren sie. Sind sie allerdings erst einmal kollabiert, sind die Gratisleistungen der Natur kaum mehr mit Geld aufzuwiegen.
Prof. Dr. Beate Jessel ist Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz. Sie ist studierte Diplom-Ingenieurin und war Professorin an der Universität Erfurt und der Technischen Universität München. Geograf Olaf Tschimpke ist Präsident des Naturschutzbundes Deutschland. Zudem ist er in verschiedenen Stiftungskuratorien und Aufsichtsräten aktiv. Verwaltungswissenschaftler Manfred Walser ist Projektleiter an der Universität St. Gallen und Mitinhaber eines privaten Beratungsbüros für Kommunal- und Regionalentwicklung.