Vermutungen und Widerlegungen

Buch Vermutungen und Widerlegungen

London, 1963
Diese Ausgabe: Mohr Siebeck,


Worum es geht

Kritischer Ra­tio­nal­is­mus als Leben­shal­tung

Als Karl Popper 1963 in England einen Sammelband mit Aufsätzen und Vorträgen veröffentlichte, genoss er bereits über philosophis­che Fachkreise hinaus ein hohes Ansehen. Das The­men­spek­trum des Buches reicht von den griechis­chen Vor­sokratik­ern, denen sich der Philosoph stets verpflichtet fühlte, über erken­nt­nis­the­o­retis­che Fragen bis hin zu aktuellen poli­tisch-gesellschaftlichen Problemen. Durch alle Kapitel zieht sich wie ein roter Faden Poppers Werben für eine kri­tisch-ra­tio­nal­is­tis­che Haltung und für die stete Überprüfung eigener Traditionen und Überzeu­gun­gen. Mit seiner Position, dass eine Theorie nur als wis­senschaftlich bezeichnet werden kann, wenn sie sich überhaupt fal­si­fizieren lässt, dis­tanzierte sich Popper deutlich vom logischen Pos­i­tivis­mus des Wiener Kreises, der ihn maßgeblich bee­in­flusste. Seine ebenso elegante wie klare Prosa macht das Buch trotz aller Komplexität zu einem großen Lesevergnügen. Popper ist kein abgehobener Elfen­bein­turm­be­wohner: Was er über Dogmatismus, Toleranz und Demokratie äußert, ist von unge­broch­ener Aktualität.

Take-aways

  • Der Band Vermutungen und Wider­legun­gen ist eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen des Philosophen Karl Popper.
  • Inhalt: Die Methode der Induktion, die von einzelnen Beobach­tun­gen auf Regeln schließt und daraus Theorien ableitet, ist un­wis­senschaftlich. Die einzig gültige und nützliche Methode besteht darin, eigene Theorien kritisch zu prüfen und eventuell zu widerlegen. Nur so ist Fortschritt möglich – in der Wis­senschaft wie in der Politik.
  • Poppers Wis­senschaft­s­the­o­rie wurde vom logischen Pos­i­tivis­mus des Wiener Kreises beeinflusst.
  • Dennoch dis­tanzierte sich Popper immer wieder von dessen Methode der Ver­i­fika­tion.
  • Nach Popper sammelt der wahre Wis­senschaftler nicht einfach Fakten; er denkt sich mögliche Lösungen für Probleme aus und überprüft sie erst dann.
  • Eine Theorie ist für Popper nur dann wis­senschaftlich, wenn sie fal­si­fizier­bar ist.
  • Im Gegensatz zu Wittgen­stein ging Popper davon aus, dass es nicht nur sprachliche Rätsel, sondern auch echte philosophis­che Probleme gibt.
  • Dazu zählten auch politische und gesellschaftliche Fragen, an die man selb­stkri­tisch und ohne ide­ol­o­gis­che Scheuk­lap­pen herangehen müsse.
  • Aufgrund von Überset­zung­sprob­le­men ließ die deutsche Ausgabe 30 Jahre auf sich warten.
  • Zitat: „Ich bin Rationalist, womit ich ausdrücken will, dass ich an Diskussion und an Ar­gu­men­ta­tion glaube.“
 

Zusammenfassung

Irren ist menschlich – und fördert die Erkenntnis

Die op­ti­mistis­che Erken­nt­nis­the­o­rie von Bacon und Descartes, wonach wir die Wahrheit, wenn sie vor uns steht, auch erkennen, ist ein Mythos. Und doch setzte sie eine Revolution in Gang, indem sie den Menschen zum eigenständigen Denken anregte, ihn ermutigte, Autoritäten und Traditionen infrage zu stellen, und die Entstehung der modernen Natur­wis­senschaft ermöglichte. Allerdings ersetzt sie die alten Autoritäten durch die Sinne und den Intellekt als unfehlbare Instanz und verkennt, dass alle Erkenntnis menschlich ist und somit Irrtümern, Vorurteilen und Hoffnungen unterworfen ist. Empiristen wie Locke oder Hume dagegen zweifelten alle Be­haup­tun­gen an und glaubten die Wahrheit zu finden, indem sie dem Ursprung unseres Wissens nachgingen. Aber auch sie täuschten sich, weil sie von einer letzten, unverfälschten Quelle der Erkenntnis ausgingen. Reine Erkenntnis ist eine Illusion. Statt an eine letzte Autorität zu appellieren – sei sie nun göttlich oder menschlich –, sollten wir fragen, wie wir den Irrtum am besten erkennen und ausschalten können. Die Antwort des kritischen Ra­tio­nal­is­mus, der letztlich auf die alten Griechen zurückgeht, besteht darin, die eigenen Theorien und Vermutungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

„Als Erken­nt­nis­the­o­retiker gibt es für mich nur ein Ziel: den Problemen der Erken­nt­nis­the­o­rie auf den Grund zu gehen und sie auf ihre Wahrheit zu prüfen, gleichgültig, ob diese Wahrheit mit meinen politischen Überzeu­gun­gen übere­in­stimmt oder nicht.“ (S. 7)

Unser Wissen beruht zum größten Teil auf Tradition, auf Büchern und Erzählungen. Erkenntnis beginnt nicht mit nichts und auch nicht mit reiner Beobachtung, sondern stützt sich auf überlieferte Wahrheiten. Diese kritisch zu untersuchen und ggf. umzustoßen, darin besteht der Fortschritt unseres Wissens. Ein Mangel an Klarheit und Fol­gerichtigkeit ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass wir es mit Un­wahrheiten zu tun haben. Erkennen wir überlieferte Irrtümer als solche, sind wir auf dem besten Weg zur Wahrheit, die es – entgegen allen pes­simistis­chen Erken­nt­nis­the­o­rien – tatsächlich gibt, auch wenn sie tief verborgen ist. Jeder neue Wis­senszuwachs lässt uns umso deutlicher das Ausmaß unserer gren­zen­losen Un­wis­senheit erkennen. Auch wenn die Wahrheit un­err­e­ich­bar ist, sollten wir nicht aufhören, danach zu suchen.

Der falsche Glaube an Induktion

Nach allgemeinem Verständnis zeichnet sich Wis­senschaft durch ihre empirische Methode aus, die induktiv ist, also auf wieder­holter Beobachtung und auf Ex­per­i­menten beruht. Was aber un­ter­schei­det etwa Einsteins Relativitätstheorie von der marx­is­tis­chen Geschicht­s­the­o­rie oder der Freud’schen Psy­cho­analyse, die alle vorgeben, wis­senschaftlich zu sein? Für deren Anhänger scheinen alle empirischen Fakten diese Theorien zu bestätigen, tatsächlich aber können alle Beobach­tun­gen in ihrem Sinn gedeutet werden. Das ist die Schwäche dieser Theorien: Sie passen immer und sind praktisch un­wider­leg­bar. Ganz anders die Grav­i­ta­tion­s­the­o­rie, die unvereinbar mit bestimmten Beobach­tun­gen und daher eine riskante Vorhersage ist. Die Wis­senschaftlichkeit einer Theorie ist ihre Überprüfbarkeit und Wider­leg­barkeit.

„Die Wahrheit ist, in Wahrheit, oft sehr schwer zu finden, und selbst wenn man sie gefunden hat, geht sie nur allzu leicht wieder verloren.“ (S. 10)

Hume behauptete, wir würden unser Wissen über die Welt erlangen, indem wir Wieder­hol­un­gen von Ähnlichem beobachten und daraus auf Regelmäßigkeiten schließen. Aber das stimmt nicht. Wir warten nicht passiv auf Regelmäßigkeiten, sondern wir bemühen uns aus einem angeborenen Bedürfnis heraus, Regelmäßigkeiten zu entdecken. Wir schreiben der Welt aktiv ihre Gesetze vor und zwingen ihr unsere In­ter­pre­ta­tio­nen auf. In gleicher Weise sind unsere wis­senschaftlichen Theorien keineswegs das Ergebnis zufälliger Beobach­tun­gen, sondern vielmehr Erfindungen und Vermutungen. Entgegen einem ver­bre­it­eten Missverständnis führt der Weg nicht von der Beobachtung zur Theorie, sondern unsere Beobach­tun­gen sind selektiv und werden immer schon von Hypothesen und Erwartungen bezüglich gewisser Gesetzmäßigkeiten gelenkt. Die dogmatische Haltung lässt uns an Erwartungen festhalten, während eine kritische Haltung uns in die Lage versetzt, diese starren Muster zu erkennen, zu überprüfen und ggf. zu mod­i­fizieren oder zu verwerfen. Dieses ständige Bemühen, eigene Vermutungen zu widerlegen, und nicht die Regeln der Induktion – um die sich übrigens Galilei und Einstein nicht kümmerten –, zeichnet die wahre wis­senschaftliche Methode aus. Überall Bestätigungen für die eigene Theorie zu finden, wie die Anhänger Marx’ und Freuds es tun, ist dagegen schein­wis­senschaftlich.

Philosophis­che Probleme und wis­senschaftliche Traditionen

Wittgen­stein befand, es gebe keine philosophis­chen, sondern nur natur­wis­senschaftliche Probleme. Philosophie sei keine Theorie, sondern eine Beschäftigung. Der Ursprung philosophis­cher Schwierigkeiten sei im Missbrauch der Sprache zu finden. Die Aufgabe des Philosophen sei es, die rein sprach­lichen Rätsel und Schein­prob­leme, die die tra­di­tionelle Philosophie geschaffen habe, als Unsinn zu entlarven und die Menschen zu lehren, sich klar und präzise auszudrücken. Auf das sinnlose Geplapper vieler Philosophen, etwa Hegels, trifft Wittgen­steins Kritik zweifellos zu – und doch gibt es echte philosophis­che Probleme. Platons Theorie über den Aufbau der Materie etwa wurde zwar von physikalis­chen Problemen inspiriert, sie stellt aber den Versuch dar, die Welt und unsere Möglichkeiten der Erkenntnis in einem neuen Licht zu sehen – ein zutiefst philosophis­cher Ansatz. Es ist ein philosophis­ches Problem, an dem alle Menschen, die denken, in­ter­essiert sind: die Welt, in der wir leben, und uns selbst zu verstehen.

„Die Irrtümer, die wir als solche erkannt haben, scheinen mit einem schwachen Licht, das uns helfen kann, den Weg aus dem Dunkel der Höhle zu finden.“ (S. 43)

Wenn wir uns der Prägung durch Traditionen auch nicht entziehen können, sollten wir sie dennoch niemals unkritisch übernehmen und auch nicht einfach ablehnen, sondern sie verstehen und dann kritisch annehmen. Unsere wis­senschaftliche Tradition geht auf die Philosophie der griechis­chen Vor­sokratiker zurück: Sie versuchten zu begreifen, was in der Natur vor sich geht. Im Unterschied zu vor­wis­senschaftlichen Mythen­dichtern, die Naturphänomene mit göttlichem Wirken erklärten, führten die Vor­sokratiker kühne Theorien über die Welt ein. Sie ersetzten die religiöse Tradition durch eine neue, die mythenkri­tisch und ra­tio­nal­is­tisch war, sie disku­tierten mögliche Erklärungen, statt sie kritiklos zu übernehmen. Diese kritische und ar­gu­men­ta­tive Einstellung bildet bis heute die Grundlage der wis­senschaftlichen Methode. Auch die Wis­senschaft produziert – wie die Religion – Mythen; aber sie stellt diese zur Diskussion und verwirft sie, wenn sie bessere findet. Ein Wis­senschaftler, der Neues entdecken will, sollte nicht einfach Beobach­tun­gen anhäufen und daraus Schlüsse ziehen, sondern bei Problemen in aktuellen wis­senschaftlichen Diskus­sio­nen ansetzen. Es geht nicht darum, mit Traditionen zu brechen, sondern diese kritisch zu prüfen und fortzuführen. Allein diese Vorge­hensweise führt zu einem Wachstum wis­senschaftlicher Erkenntnis. Eine falsche Theorie kann dabei ebenso fruchtbar sein wie eine wahre, denn sie regt Kritik an.

Wis­senschaftlicher Fortschritt

Ein Blick auf die Wis­senschafts­geschichte lässt erkennen, dass eine neue Theorie immer an eine ältere Tradition anknüpft. Galilei ebenso wie Descartes und Newton waren große Kritiker des Aristoteles, und doch gehörten sie zur aris­totelis­chen Tradition. Gerade ihr Bespiel zeigt, dass as­tronomis­che Beobach­tun­gen und physikalis­che Experimente Theorien nicht vorangehen, sondern dass sie vielmehr Prüfungen und kritische Fragen darstellen, die mithilfe von Theorien der Natur gestellt werden. Kant widerlegte den Mythos von Bacon, wonach wir aus unseren Beobach­tun­gen Theorien logisch ableiten: Wir müssen mit Hypothesen an die Natur herantreten und sie befragen, um in der Wis­senschaft vo­ranzukom­men.

„Ich glaube, dass es der Mühe wert ist, den Versuch zu machen, mehr über die Welt zu erfahren, selbst wenn alles, was bei dem Versuch herauskommt, nichts ist als die Erkenntnis, wie wenig wir wissen.“ (S. 45)

Das Sammeln zufälliger Beobach­tun­gen bringt dagegen keinerlei Erken­nt­nis­gewinn. Die Welt, wie sie uns erscheint, ist unsere In­ter­pre­ta­tion dessen, was wir im Licht unserer Theorien und Mythen beobachten. Einstein ging noch einen Schritt weiter und erkannte in den Theorien freie, intuitive Schöpfungen unseres Verstands. Indem er abweichende Theorien und sogar mehrere In­ter­pre­ta­tio­nen ein und derselben Sache zuließ, rev­o­lu­tion­ierte er die Wis­senschaft. Er befreite den Menschen davon, an die wahre und einzige Theorie zu glauben und sie der Natur aufzuzwin­gen. In aller Freiheit entwerfen wir kühne Theorien und versuchen nicht, sie zu beweisen. Vielmehr prüfen wir sie selb­stkri­tisch, versuchen sie zu widerlegen und korrigieren sie wenn nötig. Wenn eine kühne Theorie mit Voraussagen, die gemäß unserem aktuellen Wissen unlogisch sind, solch strenger Überprüfung standhält, hat sie sich bewährt.

„In Wirk­lichkeit lässt sich (außerhalb der Mathematik und der Logik) nichts beweisen oder recht­fer­ti­gen.“ (S. 77)

Probleme und Widersprüche in unseren Theorien bringen die Wis­senschaft voran. Das Wachstum wis­senschaftlicher Erkenntnis aber wird niemals zu Ende sein, da unsere Un­wis­senheit unendlich ist. Bedroht wird der wis­senschaftliche Fortschritt vielmehr durch einen Mangel an Fantasie und den falschen Glauben an Präzision. Wis­senschaft ist die Suche nach der Wahrheit, aber nicht nur der reinen Wahrheit, sondern nach in­ter­es­san­ten, relevanten Wahrheiten, die unser Hin­ter­grund­wis­sen erweitern. Die alte Frage, ob es eine objektive Wahrheit im Sinn einer Übere­in­stim­mung mit Tatsachen überhaupt gibt, ist eindeutig zu bejahen. Dies objektive Wahrheit lässt sich vergleichen mit einem Berggipfel, der durch Wolken verhüllt ist. Der Bergsteiger kann sich nie sicher sein, ob er oben angekommen ist, da er durch die dichten Wolken nicht un­ter­schei­den kann, ob er den Hauptgipfel oder nur einen Nebengipfel erreicht hat – und doch existiert objektiv ein Gipfel.

„Induktion, das heißt ein Schluss, der auf vielen Beobach­tun­gen beruht, ist ein Mythos.“ (S. 81)

Aus Sicht der Dialektiker folgt wis­senschaftlicher Fortschritt im di­alek­tis­chen Dreischritt. Zuerst gibt es eine These, die durch eine Antithese her­aus­ge­fordert wird, bis eine Lösung zustande kommt, die sogenannte Synthese; diese verbindet die Stärken und vermeidet die Schwächen der beiden ersten Schritte. Die Synthese wiederum provoziert eine Gegenthese, und alles beginnt von vorn. Dialektiker betonen die Frucht­barkeit von Widersprüchen, aber diese bringen die wis­senschaftliche Entwicklung nur voran, wenn man sie nicht duldet. Theorien, die Widersprüche enthalten, werden beliebig und bringen keinen Wis­senszuwachs. Besser ist es, die Ter­mi­nolo­gie von These und Antithese zu vermeiden und stattdessen von einer Methode des Versuchs und Irrtums zu sprechen. Zu welchem starren Dogmatismus di­alek­tis­ches Denken führen kann, zeigt der wis­senschaftliche Marxismus, der auf Hegels Dialektik beruht. Er ist die beste Warnung davor, Philosophie zur Grundlage der Wis­senschaft zu machen.

Kritik am Marxismus

Nach Ansicht der Marxisten ist es die Aufgabe der Sozial­wis­senschaften, historische Prognosen zu liefern, etwa über soziale Rev­o­lu­tio­nen. Als Anhänger des His­tor­izis­mus glauben sie, die Men­schheits­geschichte verlaufe nach Plan und lasse sich positiv bee­in­flussen, sofern man diesen kennt. Sie un­ter­schei­den dabei nicht zwischen Prognose und his­torischer Prophezeiung und verkennen, dass die Gesellschaft, wie auch die Evolution des Menschen, sich nicht zyklisch entwickelt. Es ist naiv zu glauben, soziale Phänomene ließen sich ebenso untersuchen wie Tiere und Pflanzen. Die Aufgabe der Sozial­wis­senschaften ist es, Einblick in das soziale Leben zu geben und mögliche Folgen unserer Handlungen aufzuzeigen.

„Theorien sind unsere eigenen Erfindungen, unsere eigenen Ideen; sie werden uns nicht aufgezwun­gen, sondern sie sind unsere selb­st­gemachten Werkzeuge des Denkens.“ (S. 180)

An den humanitären Zielen von Marx und seinen Anhängern ist an sich nichts aussetzen. Aber mit revolutionären Mitteln, wie Marx sie propagierte, lassen sich diese Ziele nicht ver­wirk­lichen – im Gegenteil, diese Mittel schaffen nur noch mehr Leid und Gewalt und zerstören die Freiheit. Ein Umsturz der In­sti­tu­tio­nen und Traditionen bedroht auch immer die bestehende Wertordnung. Die Revolution stellt alles infrage – auch die hehren Ziele der Revolutionäre selbst. Zudem übersehen Marxisten, dass Macht korrumpiert. Was wir brauchen, sind daher nicht bessere Menschen, sondern gute In­sti­tu­tio­nen, die uns vor schlechten Herrschern schützen. Eine staatlich verordnete Steigerung des allgemeinen Glücks führt leicht in die Diktatur. Der Staat sollte hier und jetzt konkrete soziale Missstände beseitigen, statt ein fernes, abstraktes Ideal vom Glück der Menschheit zu verfolgen. Das Streben nach Glück sollte ohnehin Privatsache sein. Im Unterschied zum Marxismus setzt der Lib­er­al­is­mus nicht auf revolutionäre, sondern auf evolutionäre Entwicklung. In der Macht des Staates, die eng begrenzt sein sollte, erkennt er ein notwendiges Übel. Der demokratis­che Staat erweist den Bürgern keine Wohltaten, sondern bildet nur den Rahmen für deren selbsttätiges Handeln.

Liberale Gesellschaft­skri­tik statt Utopismus

Nur eine rationale, kritische Haltung, die auf vernünftige Argumente setzt, bringt die gesellschaftliche und politische Entwicklung voran. Utopien dagegen, mögen sie noch so men­schen­fre­undlich sein, stellen eine Gefahr dar, denn sie sind intolerant und reagieren auf abweichende Meinungen gern mit Unterdrückung und Gewalt. Wir können nicht den Himmel auf Erden schaffen, aber wir können das Leben in dieser Welt stetig etwas weniger elend und ungerecht machen, indem wir Kranke und Schwache unterstützen, Kriege und Unterdrückung bekämpfen, Ar­beit­slosigkeit beseitigen und Chan­cen­gle­ich­heit schaffen. Betrachtet man die vergangene und gegenwärtige Entwicklung in der Gesellschaft unserer freien Welt, besteht Grund, op­ti­mistisch zu sein. Wir haben aus Fehlern gelernt und sind der Wahrheit ein Stück nähergekommen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Vermutungen und Wider­legun­gen vereint 20 Aufsätze und Vorträge Karl Poppers zu ganz ver­schiede­nen Themen: von der Wis­senschaft­s­the­o­rie über alt­griechis­che Philosophie bis zu gesellschaft­spoli­tis­chen En­twick­lun­gen des 20. Jahrhun­derts. Dennoch wirkt die Zusam­men­stel­lung nicht beliebig. Das Werben für eine kri­tisch-ra­tio­nal­is­tis­che Haltung und für Wis­senszuwachs durch kühne, streng überprüfbare Thesen – ob in Wis­senschaft oder Politik – zieht sich wie ein roter Faden durch sämtliche Kapitel. Da Popper sich in den meisten der hier abge­druck­ten Beiträge an ein breiteres Publikum wandte, ist er spürbar um Verständlichkeit bemüht; er schreibt einnehmend und elegant. Selbst seine Darstellung komplexer wis­senschaft­s­the­o­retis­cher, math­e­ma­tis­cher und lin­guis­tis­cher Probleme bleibt gut verständlich. In manchen Passagen greift Popper auf schwierige math­e­ma­tisch-lo­gis­che Beweisführungen zurück, wendet sich aber gle­ichzeitig immer wieder an die Zuhörer bzw. Leser und versucht, seine Gedanken nachvol­lziehbar zu machen. Humorvolle, ironische An­spielun­gen lockern die wis­senschaftliche Strenge auf und verleihen den Aufsätzen einen leichten, typisch angelsächsischen Ton.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Karl Poppers Philosophie, bei der wis­senschaftliche Methoden und Mathematik, Kausalität und Logik eine bedeutende Rolle spielen, ist unbe­stre­it­bar vom Wiener Kreis und der Richtung des logischen Pos­i­tivis­mus beeinflusst. Dennoch betonte Popper, der wegen seiner Abneigung gegenüber Ludwig Wittgen­stein nie zu Sitzungen des Wiener Kreises eingeladen wurde, fast schon zwanghaft die Differenzen. Zeit seines Lebens sah er sich als Opponent zum Wiener Kreis und glaubte, dessen philosophis­che Richtung und ins­beson­dere Wittgen­stein überwunden zu haben.
  • Nach seiner eigenen Darstellung verbesserte Popper die Arbeit des Wiener Kreises, indem er das Ver­i­fika­tion­sprinzip, das dieser zur Un­ter­schei­dung von Sinn und Unsinn nutzte, durch das Fal­si­fika­tion­sprinzip ersetzte: Eine wis­senschaftliche Theorie könne nicht durch Fakten bewiesen werden, doch es lasse sich im Prozess der Widerlegung nachweisen, dass sie unrichtig gewesen sei. Mitglieder des Wiener Kreises sahen den Unterschied in der Ar­gu­men­ta­tion als eher unwichtig an und be­tra­chteten Poppers Fal­si­fika­tion­sprinzip bloß als Spielart des Ver­i­fika­tion­sprinzips, was Popper wiederum als Fehlin­ter­pre­ta­tion abtat.
  • Popper ging es weniger um die in seinen Augen spitzfind­ige Un­ter­schei­dung von Sinn und Unsinn mit lin­guis­tis­chen Mitteln, sondern darum, Wis­senschaft von Schein­wis­senschaft abzugrenzen und sich in zeitgenössische Kon­tro­ver­sen einzu­mis­chen. Eine Philosophie des Elfen­bein­turms, die sich um sich selbst dreht, lehnte er ab.
  • Die Ansicht, unser Denken werde von Problemen und möglichen Lösungen geleitet, übernahm Popper von dem Wiener En­twick­lungspsy­cholo­gen Karl Bühler, dem er im Zuge seiner Lehreraus­bil­dung am Pädagogischen Institut begegnete.
  • Popper war ein äußerst streitbarer Debattierer, und weil es zu seiner Philosophie gehörte, dass bewährte Theorien nicht ohne Weiteres aufgegeben werden sollten, warfen ihm einzelne Kritiker vor, er unterstelle seine eigenen Theorien nicht dem Kriterium der Fal­si­fizier­barkeit.

His­torischer Hintergrund

Wien, Cambridge, Frankfurt: philosophis­che Hotspots

Zu Beginn der 20er-Jahre initiierte Moritz Schlick, Professor für Philosophie in Wien, eine wöchentliche Diskus­sion­srunde von Philosophen und Natur­wis­senschaftlern. Bei allen Un­ter­schieden teilten die Mitglieder dieses sogenannten Wiener Kreises, darunter Rudolf Carnap, Otto Neurath und Herbert Feigl, die Überzeugung, dass die natur­wis­senschaftliche Methode auf die Philosophie anzuwenden sei. Ethik und Moral­philoso­phie dagegen wollten sie daraus verbannt sehen. Als in­tellek­tueller Vater der Bewegung galt Albert Einstein, dessen auf den ersten Blick abstruse Be­haup­tun­gen über Raum und Zeit die Wis­senschafts­geschichte rev­o­lu­tion­ierten. Nicht durch empirische Beobachtung, sondern durch Nachdenken komme man zu Erken­nt­nis­sen darüber, wie die Welt funk­tion­iere, lautete die einhellige Meinung. Wichtige Impulse kamen auch von Bertrand Russell, dessen rigorose Anwendung logischer Methoden zur Analyse philosophis­cher und sprach­licher Probleme bahn­brechende Wirkung entfaltete. Die größte Verehrung des Wiener Kreises galt Russells Schüler Ludwig Wittgen­stein und seinem Tractatus logico-philo­soph­i­cus, in dem er behauptete, es gebe keine echten philosophis­chen Probleme, sondern nur durch sprachliche Un­ge­nauigkeit bedingte Rätsel.

Nach Schlicks Ermordung durch die Na­tion­al­sozial­is­ten im Jahr 1936 verlagerte sich der logische Pos­i­tivis­mus ins en­glis­chsprachige Exil, etwa nach Cambridge, wo Wittgen­stein Philosophie lehrte und von seinen Studenten wie ein Meister verehrt wurde. Die Fragen nach Ver­i­fika­tion und Kausalität blieben weiterhin be­herrschen­des Thema dieser Philoso­phierich­tung. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Cambridger Philosophie indessen an Boden. Ihr wichtigster Repräsentant, der inzwischen 70-jährige Bertrand Russell, galt zwar immer noch als ein Doyen der modernen Philosophie und seine Vorlesungen waren stets überfüllt. Tatsächlich aber hatte er Ende der 40er-Jahre den Höhepunkt seiner Karriere überschrit­ten. Die philosophis­chen Schüler Russells, Wittgen­stein und Popper, führten sein Erbe fort. Während allerdings der eine die sprach­lich-lo­gis­che Analyse von Begriffen zu dem Zweck betrieb, philosophis­che Fragen als Schein­prob­leme zu entlarven, war sie für den anderen ein nützliches Mittel, dringende reale Probleme – etwa der Wahrschein­lichkeit und Kausalität, des Wesens der Wis­senschaft oder der Struktur der Gesellschaft – zu überprüfen und im besten Fall auch zu lösen.

Trotz der Durch­set­zung und Sta­bil­isierung demokratis­cher Regierungs­for­men in Westeuropa schienen nach dem Zweiten Weltkrieg politische und soziale Fragen drängender denn je zu sein. In einigen westlichen Demokratien feierten kom­mu­nis­tis­che Parteien Erfolge, und marx­is­tis­che Ideen erlebten in den 60er-Jahren eine neue Blüte. In Deutschland etwa prägte die Frankfurter Schule maßgeblich das in­tellek­tuelle Klima. Deren Begründer Max Horkheimer und Theodor W. Adorno en­twick­el­ten die neo­marx­is­tis­che „kritische Theorie“ und sahen sich in der Tradition von Friedrich Wilhelm Hegels und Karl Marx’ di­alek­tis­cher Sozial­philoso­phie. Zwar lehnten Horkheimer und Adorno den real ex­istieren­den Kommunismus sow­jetis­cher Prägung ab, sie sahen aber den Kap­i­tal­is­mus mit seinen Klas­sen­ge­gensätzen als Ursache gesellschaftlicher Fehlen­twick­lun­gen. Nur durch Überwindung der grundle­gen­den, dem Gesellschaftssys­tem inhärenten Gegensätze würden sich soziale Probleme und Missstände beseitigen lassen. Dagegen hielt Popper es für unmöglich, ja sogar für gefährlich, die Gesellschaft als Ganzes verändern zu wollen. Stattdessen plädierte er dafür, un­dog­ma­tisch, ohne ide­ol­o­gis­che Scheuk­lap­pen und ohne gleich das ganze System infrage zu stellen an der Verbesserung einzelner Probleme zu arbeiten.

Entstehung

Die Aufsätze und Vorträge des Bandes entstanden zwischen den späten 40er- und den frühen 60er-Jahren. Spätestens ab 1956 trug sich Popper mit dem Gedanken, eine Auswahl seiner Vorträge und Aufsätze in einem Sammelband unter dem Titel Conjectures and Refutations zu veröffentlichen. Schon bald nach Erscheinen des Buches im Januar 1963 plante er eine deutsche Übersetzung. Es dauerte allerdings noch mehr als 30 Jahre, ehe 1994 der erste Teil und 1997 der zweite Teil in einer deutschen – übe­rar­beit­eten und erweiterten – Ausgabe erschienen. Ursache für die Verzögerung waren Schwierigkeiten bei der Übersetzung, an der Popper selbst mitwirkte.

Wirkungs­geschichte

Im englischen Sprachraum waren die Vermutungen und Wider­legun­gen recht erfolgreich und erzielten sogar eine höhere Auflage als das 1935 erschienene erken­nt­nis­the­o­retis­che Hauptwerk Poppers, Die Logik der Forschung, das maßgeblichen Einfluss auf die Wis­senschaft­s­the­o­rien Paul Feyerabends und Thomas Kuhns ausübte – wenngleich beide Popper kri­tisierten und seine Theorie verwarfen. Viele Wis­senschaften bekennen sich heute, zumindest in der Theorie, zu Poppers Fal­si­fika­tion­is­mus, wenngleich viele Forscher in der Praxis nach wie vor in­duk­tiv-em­pirisch vorgehen.

Über den Autor

Karl Popper stammt aus einer wohlhaben­den, jüdischen, bürg­er­lich-in­tellek­tuellen Wiener Familie. Er wird am 28. Juli 1902 geboren; seine Erziehung atmet den Geist der Aufklärung und eines sozial­re­formerischen Lib­er­al­is­mus. Der Vater ist Recht­san­walt, die Mutter entstammt der Musik­er­fam­i­lie Schiff. Schon als Kind zeigt Karl Popper sich von philosophis­chen Problemen fasziniert. 1918 verlässt er vorzeitig die Schule, schreibt sich als Gasthörer an der Universität ein und schlägt sich mit Gele­gen­heit­sar­beiten durch. Nach einem kurzen Intermezzo mit dem Marxismus wendet er sich strikt von dieser Theorie ab. Er macht eine Tis­chler­lehre, studiert kurz am Kon­ser­va­to­rium, hält sich dann aber musikalisch für zu wenig begabt. Er holt die Matura nach und macht eine Ausbildung zum Grund­schullehrer. 1925 beginnt er eine höhere Lehreraus­bil­dung und promoviert parallel dazu an der Wiener Universität. 1929 schließt er seine Dis­ser­ta­tion ab und wird Hauptschullehrer für Physik und Mathematik. 1930 heiratet er seine Mitschülerin Josefine Anna Henninger („Hennie“). Die Ehe bleibt kinderlos. Als der An­ti­semitismus in Österreich untragbar wird und Popper das Ar­beitsver­bot droht, wandert er mit Hennie nach Neuseeland aus. Er muss seine Familie zurücklassen; 16 seiner Verwandten werden von den Nazis ermordet. In Christchurch bekommt er seine erste akademische Stelle. Der Faschismus macht aus ihm einen politischen Philosophen; 1945 erscheint sein berühmtes Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 1946 erhält er eine Dozentur an der renom­mierten London School of Economics, 1949 wird er dort Professor für Logik und Wis­senschaft­s­the­o­rie sowie britischer Staatsbürger. 1965 erhebt ihn die Krone in den Adelsstand. Der sogenannte Pos­i­tivis­musstreit, ausgelöst 1961, macht seine Gegen­po­si­tion zu jüngeren Philosophen wie Jürgen Habermas deutlich. 1977 schreibt Popper zusammen mit dem Neu­ro­phys­i­olo­gen John C. Eccles Das Ich und sein Gehirn; er publiziert weiter bis ins hohe Alter. Popper stirbt am 17. September 1994 in London.