Verwirrende Realität
Die Finanzkrise hat im Frühling 2008 erst einmal Schluss gemacht mit den hohen Wachstumsraten der Weltwirtschaft. Die Angst vor der Inflation geht um, das Verbrauchervertrauen ist auf dem Boden und in den Entwicklungsländern verschärft sich der Hunger angesichts der steigenden Nahrungsmittelpreise. Die Menschen beginnen, an der Grundstruktur der Weltwirtschaft zu zweifeln. Durch die Globalisierung sind die Länder immer stärker miteinander verbunden. Gewohntes verändert sich: So könnte die Supermacht USA schon bald als Wirtschaftsmotor der Welt abgelöst werden.
„Wenn die Grundstruktur der Weltwirtschaft bei aller Technologie und Ausgefeiltheit auf Sand und nicht auf festem Stein gebaut ist, wie lassen sich dann all unsere Anstrengungen rechtfertigen?“
Der Mensch hat heute mit vielen Uneindeutigkeiten, mit einer verwirrenden Realität zu kämpfen. Dazu gehört die Frage, wie die Welt für unsere Enkel aussehen wird. Klimawandel, Konflikte und Pandemien lassen die Zukunft bedrohlich aussehen. Trotzdem geben wir die Hoffnung nicht auf, dass wir zu einer besseren Welt beitragen können. Dabei betrachten wir oft Familie, Freunde und Arbeit als getrennte Bereiche – eine Strategie um wenigstens im Arbeitsleben Gedanken über Recht und Unrecht zu vermeiden. Das ist kurzsichtig. Will man sein eigenes Ich erforschen, darf man die Suche danach nicht auf einzelne Bereiche beschränken.
Das Phänomen Globalisierung
Trotz der Globalisierung sind die Wettbewerbschancen immer noch sehr ungleich verteilt. Die kulturellen und regionalen Unterschiede nehmen zu statt ab. Manche Wissenschaftler sehen daher nicht in der Wirtschaft, sondern in Kultur und Religion den Keim für Konflikte. Doch auch das ist zu einfach. Menschen sind komplex. Die Globalisierung hat zwar eine stärkere Vernetzung mit sich gebracht, die Individualität aber bleibt: Die Menschen unterscheiden sich hinsichtlich Klasse, Sprache, Politik und Nationalität.
„Wir wissen, dass das Böse auf der Welt weit verbreitet ist, und dennoch glauben wir, dass etwas Besseres möglich ist – wir hoffen weiter, oft selbst wider alle Beweise für das Gegenteil.“
Die Frage, ob die Globalisierung gut oder schlecht ist, kann nur schwer beantwortet werden. Sie ist nämlich nicht das Produkt bewusster Entscheidungen, sondern einfach ein Phänomen der Menschheitsgeschichte. Sie wurde der Welt nicht von einzelnen Akteuren aufgezwungen, hat die Welt aber verändert – und wird dies weiterhin tun. So könnten z. B. die USA ihre Macht zugunsten Chinas, Indiens und Brasiliens einbüßen. Von allen Volkswirtschaften wächst China heute am schnellsten. In 20 Jahren könnte sie die größte sein.
Der Handel als Wurzel der Globalisierung
Im Verlauf von gut 150 000 Jahren breitete sich der Homo sapiens auf der Suche nach fruchtbarem Land und Nahrungsmitteln über die Erde aus. Dabei entstand der Handel, der Motor der Globalisierung. Während auch Tiere soziale Strukturen aufbauen, miteinander teilen und sich gegenseitig unterstützen, tauscht nur der Mensch systematisch Waren und Dienstleistungen aus. Im Jahr 3000 v. Chr. tauschten sumerische Bauern mit Bewohnern der Sinaiwüste Getreide gegen Kupfer. Später lieferte China Seide für den römischen Adel, und im 16. Jahrhundert wurde Gold aus der Neuen Welt nach Europa transportiert. Aus all diesen Handelsbeziehungen entwickelte sich der Massenkonsum von heute. Der rasche Fortschritt des Konsums gründete auf der Verkettung dreier Faktoren im 19. Jahrhundert: Migration, neue Erfindungen und Handel.
„Die Wahrheit lautet, dass Globalisierung weder ein Konzept noch eine Ideologie ist, sondern ein Phänomen.“
Zwischen 1870 und 1900 verdoppelten sich in den großen Produktionsländern die Einkommen. Der Erste Weltkrieg und die Große Depression setzten dem Wirtschaftswunder aber ein jähes Ende. Welche Rolle sollte der Staat einnehmen – aktiv eingreifen oder sich vornehm zurückhalten? Der Ökonom Adam Smith vertrat im 18. Jahrhundert die Ansicht, man solle den Markt sich selbst überlassen. Nachfrage und Angebot regulieren sich nach Smith selbst – geleitet von einer „unsichtbare Hand“ –, wenn jeder Konsument selbst entscheiden kann, was er kauft, und jeder Produzent, was er verkauft. Das Ergebnis sei ein Zuwachs an Nutzen für die gesamte Gemeinschaft.
„Wir sind eine Welt, in der sich die Globalisierung der menschlichen Anwesenheit fortsetzt und beschleunigt, ohne die Individualität zu reduzieren.“
Einige Jahrzehnte nach Smith mischte sich David Ricardo in die Debatte, indem er das „Gesetz des komparativen Vorteils“ vorstellte: Zwei Länder, die zwei Güter miteinander handeln, steigern ihren Nutzen, wenn sich jedes Land auf die Produktion jenes Gutes verlegt, das es relativ zum anderen Land effizienter herstellen kann, selbst wenn eines der beiden Länder beide Güter effizienter herstellen könnte. Smith und Ricardo legten den Grundstein für die Theorien des Wettbewerbs und des freien Handels. Ihr berühmtester Opponent war Karl Marx, der den Untergang des Kapitalismus voraussagte. Der ist bekanntlich nicht eingetreten – weil der dem Kapitalismus zugrunde liegende Drang zum Handel so alt wie die Menschheit ist.
Von Arm und Reich und der Stadt
Nach den Einschnitten durch die Weltkriege und die Große Depression zeigte die Weltwirtschaft erst ab den 1950er Jahren wieder einen Aufschwung. Dessen Geschwindigkeit aber stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten. Im 20. Jahrhundert explodierte die Weltbevölkerung von 1,6 Mrd. auf 6,5 Mrd. Menschen. Gleichzeitig vergrößerte sich der Abstand zwischen Arm und Reich – heute leben mehr als eine Milliarde Menschen in großer Armut. Doch es gibt Hoffnung: Zwei der früher ärmsten Länder der Welt, China und Indien, mit 40 % der Weltbevölkerung, haben durch ihr rasantes Wirtschaftswachstum einiges aufgeholt.
„Handel und Tauschgeschäfte zum beiderseitigen Nutzen sowie die Arbeitsteilung scheinen menschliche Universalien zu sein.“
Dennoch leidet die Bevölkerung beider Länder unter Umweltschäden und Gesundheitsproblemen. Außerdem wandern die Menschen vom Land in die Stadt ab: In Indien waren es in den vergangenen sechs Jahrzehnten 300 Millionen Menschen, die es aus den Dörfern in die Städte zog. In China lebten 1950 ca. 13 % der Einwohner in Städten, 2050 werden es voraussichtlich schon 73 % sein. Städte sind anziehend: Sie bieten Kontakt und Vernetzung, Klimaanlagen, Fernsehgeräte und Autos. Immer mehr Menschen wollen am globalen Basar teilnehmen, wodurch das Wachstum der Städte weiter begünstigt wird. Das hat Schattenseiten: Gewohnte Familien- und Dorfstrukturen brechen auf, das Leben der Menschen wird unberechenbarer, die Kontrolle geht verloren. In der Einsamkeit inmitten der Masse steigt der Drang des Menschen nach Selbstverwirklichung. Dieser wird z. T. durch Konsum befriedigt. Der maßlose Konsum knapper Ressourcen ist jedoch eine Gefahr für zukünftige Generationen.
Moral ist die Antwort auf die Finanzkrise
Die Finanzkrise, die im Jahr 2007 ihren Anfang nahm, hat den Kreditmarkt ausgetrocknet und in der Folge alle Wirtschaftsbereiche in Mitleidenschaft gezogen. Warnsignale gab es genug: Die USA, der größte Schuldner der Welt, animierten ihre Bevölkerung zu kreditfinanziertem Konsum. Und während die USA konsumierten, häuften die Fertigungsnationen, die Ressourcenlieferanten und die Anlagegüterexporteure massenhaft Liquidität an, die sie oft in US-Dollar anlegten. Durch diese Flut an Liquidität mussten sich die Gläubiger mit immer weniger Rendite für immer mehr Risiko zufrieden geben. Bald waren die Investmentvehikel so komplex, dass sie niemand mehr verstand. Das Vertrauen der Kapitalmarktteilnehmer in den Markt schwand, und schließlich brach im September 2008 die Investmentbank Lehman Brothers zusammen. Die Banken scheuten sich, einander Kredite zu geben. Die Finanzkrise wurde zur Wirtschaftskrise, die Auftragsbücher der Unternehmen blieben leer.
„Nichts scheint mehr heilig zu sein. Die Ranken des Konsumismus haben sich wie wild wucherndes Unkraut ihren Weg in jeden Winkel unseres Lebens gebahnt.“
Der Unterschied zwischen der Großen Depression der 1930er Jahre und der aktuellen Finanzkrise: Damals wollte keine Nation die Zügel in die Hand nehmen und gegensteuern, heute sind Konjunkturpakete – vermehrte öffentliche Ausgaben oder Steuersenkungen – zur Ankurbelung der Wirtschaft an der Tagesordnung. Doch das reicht nicht: Auch die Ursachen der Krise müssen beseitigt werden: das Schuldenspiel der USA, die hohen Verschuldungsgrade und das schlechte Liquiditätsmanagement der Banken. Wie die neue Weltfinanzordnung auch aussieht, diese vier Tatsachen sind zu berücksichtigen:
- Zum Markt, sei er nun ungerecht oder hocheffizient, gibt es keine Alternative.
- Wir können die Uhr nicht zurückstellen und müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.
- In der Krise braucht der Markt staatliche Eingriffe. Die Frage ist, ob die Staatslenker so zusammenarbeiten werden, dass die Dynamik des globalen Marktes erhalten bleibt und Exzesse vermieden werden.
- Die Wirtschaftsmacht wird sich von Westen nach Osten verlagern.
„Armut ist gewiss nicht unvermeidlich und das Problem gewiss nicht unlösbar.“
Wir müssen das Vertrauen in den freien Markt wieder herstellen. Was der Kapitalismus heute benötigt, ist eine neue Moral. Das bedeutet, dass Menschen und Institutionen sich nicht allein danach richten, was per Gesetz erlaubt, sondern was auch aus ethischer Sicht in Ordnung ist.
Gemeinsam etwas bewegen
Warum sollten Sie Ihrem Nächsten helfen? Jeder Gefallen will heute mit einem Gegengefallen belohnt werden. Unser ganzes Leben wird zunehmend kommerzialisiert. Es scheint, dass es statt Individuen nur noch Konsumenten gibt. Deren Chancengleichheit existiert nur theoretisch, tatsächlich ist sie auf eine Minderheit in den entwickelten Ländern beschränkt. Armut ist Realität – und müsste doch nicht sein: Würde man das Bruttoinlandsprodukt der Welt durch die Anzahl der Menschen dividieren, ergäbe dies ein Durchschnittseinkommen pro Kopf, das dem Lebensstandard der Türkei oder Russlands entspräche. Das Problem ist die Praxis: Die Einkommen müssten gerecht verteilt werden, was einen globalen Konsens der Politiker erfordern würde. Das ist natürlich unrealistisch.
„Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Dinge zum Verkauf stehen – einschließlich unserer eigenen Person.“
Hoffnungsträger sind und bleiben daher die Märkte. Entwicklungsländer sind auf ausländische Direktinvestitionen und Subventionen angewiesen. Aber auch Privatpersonen können einiges bewirken. Nehmen wir z. B. die Mikrofinanzierung: Ein Wirtschaftsdozent aus Bangladesch, der spätere Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus, verlieh in den 70er Jahren Kleinsummen an Wirtschaftstreibende, die sich das Geld ansonsten zu Wucherzinsen hätten beschaffen müssen. Entgegen den Befürchtungen der traditionellen Banken, die Kredite an diese Personen abgelehnt hätten, waren die Ausfallraten sehr niedrig. Im Jahr 2006 profitierten bereits 90 Millionen Personen von Mikrokrediten.
„Viele von uns haben keine andere Wahl, als sich auf diesem Markt zu behaupten und in all seiner Zweischneidigkeit und Unvollkommenheit zu leben und zu arbeiten.“
Der Markt bestimmt auch die Managergehälter – ein Thema, das heute vielfach Unbehagen auslöst. Die Unternehmen müssen bei der Vergütung die richtige Balance finden, sodass gute Leute behalten werden können und gleichzeitig profitables Wachstum möglich ist. Die Rolle der Regierungen ist es, mit Regulierung für Transparenz zu sorgen.
Am Basar teilnehmen oder aussteigen?
Akzeptieren Sie, dass Sie keine andere Wahl haben, als eine Rolle auf dem globalen Marktplatz zu spielen. Gehen Sie keinen faustischen Pakt ein, bei dem Sie Ihr Gewissen gegen Geld, Macht und Sex eintauschen. Folgen Sie stattdessen diesen Leitlinien auf dem Pfad zur Zufriedenheit:
- Bleiben Sie integer. Vertrauen und Ehrlichkeit machen überall auf der Welt ethisches Geschäftsgebaren aus.
- Sehen Sie in den Mitmenschen den Zweck, und nicht das Mittel zur Erreichung der Ziele.
- Nutzen Sie Ihren Ehrgeiz, um zum Gemeinwohl beizutragen.
- Ihr Engagement für Familie, Arbeit, Freunde und das eigene Ich muss ausbalanciert sein.
- Teilen Sie die Führung, doch behalten Sie die Verantwortung.
- Fragen Sie sich, wie das, was Sie gerade tun, zum Wohlergehen aller beiträgt.