Heute arbeiten, morgen kassieren
Ganz neu ist die Idee nicht: VW startete bereits 1998 mit seinem Zeit-Wertpapier eine neue Ära der Altersabsicherung. Was der Arbeitnehmer während seines Arbeitslebens an Überstunden und Entgeltbeträgen ansparte, konnte er später dazu nutzen, bei vollen Bezügen früher in Rente zu gehen. Die Beine dieses Modells waren allerdings noch etwas wacklig, weil rechtliche Grundlage und Insolvenzschutz fehlten. Doch der Gesetzgeber zog schnell nach, es kam das erste „Flexigesetz“ (Gesetz zur sozialrechtlichen Absicherung flexibler Arbeitszeitregelungen), das zehn Jahre später, im August 2008, novelliert und zum so genannten „Flexi II“ umgebaut wurde. Ein wichtiges Element dieses Gesetzes ist, dass der Arbeitgeber ein Zeitwertkonto nicht antasten darf, um z. B. laufende Arbeitszeit- oder Produktionsschwankungen auszugleichen.
„Zeitwertkonten sind ein komplexes, aber höchst wirkungsvolles und nachhaltiges Lebensarbeitszeitmodell abseits jeder kurzlebigen Mode.“
Was Sie als Arbeitnehmer auf Ihrem Konto ansparen, steht in den Betriebsvereinbarungen: Dies können z. B. Tantiemen, Weihnachts- oder Urlaubsgeld, Resturlaub oder Überstunden oder ein fester Betrag Ihres Gehalts sein, auf den Sie monatlich verzichten. Letzteres ist derzeit die Regel. Das Guthaben wird Ihnen dann in Form von Freistellung von der Arbeit ab mindestens einem Monat wieder ausgezahlt. Für den dann weiter bezahlten Lohn werden Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und ggf. Kirchensteuer fällig. Aber eben erst bei Auszahlung; deshalb ist das Bruttosparen über Zeitwertkonten so attraktiv.
„Zeitwertkonten sind Modelle für abhängig Beschäftigte, die nach deutschem Recht rentenversicherungspflichtig sind.“
Die Verwendung Ihres Zeitwertkontos lässt neben den „Klassikern“ Altersteilzeit und Vorruhestand weitere Gestaltungsmöglichkeiten zu: Sie können Ihr Konto für die Elternzeit verwenden, für Qualifizierungsmaßnahmen oder für die Pflege von Angehörigen. In vielen Ländern dient das Zeitwertkonto traditionellerweise zur Finanzierung eines Sabbaticals. Diese meist einjährige Auszeit lässt sich u. a. für Weiterbildung, Umschulung, Hausbau oder Reisen nutzen. Der Ausgleich steht Ihnen auch dann zu, wenn Sie den Arbeitgeber wechseln. Der ehemalige Arbeitgeber muss Ihnen das Guthaben mitgeben (Portabilität). Hat das neue Unternehmen keine Zeitwertkonten, können Sie Ihr Guthaben der Deutschen Rentenversicherung Bund übertragen oder es auflösen.
Unterschiedlichen Interessen gerecht werden
Im Jahr 2004 sind die Deutschen durchschnittlich mit 63 in Rente gegangen. Bis Ende 2011 liegt die Regelaltersgrenze bei 65 Jahren und sie wird sukzessive steigen, bis die ab 1964 Geborenen bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres arbeiten müssen. Das gefällt kaum jemandem. Die Gothaer Versicherung hat dazu eine Studie gemacht: 84 % der Arbeitnehmer würden demnach lieber vorher die Füße hochlegen – allerdings ohne sich finanziell einschränken zu müssen. Ein Zeitwertkonto hatten 2008 jedoch nur 18,4 % der Beschäftigten, und nur eine Minderheit wusste, dass es so etwas gibt. Während Arbeitgeber oft davon ausgehen, dass die Nachfrage danach gering ist, ergab die Umfrage anderes: Fast die Hälfte der Arbeitnehmer würde es sofort nutzen, weitere 35 % hätten gerne mehr darüber erfahren. Große Betriebe mit über 20 000 Mitarbeitern bieten Zeitwertkonten schon an, allen voran die Metall-, Elektro- und die chemische Industrie.
„Ein Zeitwertkonto bilanziert eine aufgeschobene Vergütung mit dem Ziel der Freistellung.“
Natürlich sind die Anforderungen an Zeitwertkonten aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmersicht unterschiedlich, aber es existieren Vorschläge für einen Interessenausgleich. Die Ziele für Unternehmen und Belegschaft sind letztlich ja dieselben: Arbeitsplätze und Unternehmen sollen erhalten bleiben. Die drei Hauptreibungspunkte bei Zeitwertkonten sind:
- Finanzierung: Ist es allein Sache der Arbeitnehmer, ihre Wertguthaben zu finanzieren, bremst das ein wenig deren Motivation, vor allem bei den älteren Mitarbeitern. Will der Arbeitgeber das Ansparverhalten seiner Mitarbeiter lenken, muss er einen Anreiz schaffen. Der Arbeitgeberzuschuss ist dafür ein probates Mittel. Aber Vorsicht: Wenn Sie keine jährliche Obergrenze für den Zuschuss pro Mitarbeiter festlegen, gerät womöglich die Liquidität Ihres Unternehmens in Gefahr.
- Verwendung: Das Wertguthaben gehört dem Arbeitnehmer, keine Frage, also kann er frei entscheiden, wann er es nutzen will. In auftragsstarken Zeiten findet der Vorgesetzte die Entscheidung für ein Sabbatical sicher wenig angebracht, und wenn es kriselt, hätte der Arbeitgeber es vermutlich gerne, dass Sie Ihr Wertguthaben für eine Freistellung nutzen. Ganz wichtig also, dass es eine Entnahmeregelung gibt.
- Anlage: Die Sicherung z. B. bei Insolvenz und die Beschränkung für die Anlage in Aktien und Aktienfonds auf max. 20 % des Guthabenwertes sind ohnehin vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Darüber hinaus suchen die Arbeitnehmer eine möglichst hohe Flexibilität bei der Anlageform, während die Arbeitgeber ihr Augenmerk auf niedrige Verwaltungskosten legen.
„Zeitwertkonten sind kein politisches, sondern ein tarifliches Instrument.“
Nicht nur dass diese Interessenkonflikte gelöst werden müssen – auch die seit 2009 grassierende Wirtschaftskrise setzt der Akzeptanz von Zeitwertkonten zu. Tatsächlich hält sich das Risiko aus Arbeitnehmersicht aber in Grenzen. Werden Sie freigestellt, profitieren Sie dank finanzieller Absicherung und bestehender Sozialversicherung von Ihrem Guthaben. Übertragen Sie Ihr Guthaben an die Deutsche Rentenversicherung Bund, ist es sogar vor einer Anrechnung auf Hartz-IV-Ansprüche sicher.
Eine perfekte Verwaltung ist nötig
Zeitwertkonten erfordern das Zusammenspiel von vier Partnern: Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Treuhänder/Insolvenzsicherung und Produktgeber (Bank, Versicherung, Kapitalanlagegesellschaft). Die Fäden zu allen vier Beteiligten hält ein fünfter in der Hand: der Verwalter. Er ist die kommunikative Schnittstelle und archiviert alle Daten.
„Im Fall der Arbeitslosigkeit bewertet die Bundesagentur für Arbeit das ausgezahlte Guthaben nicht anders als jede Sparrücklage.“
Deshalb ist es besser, die Verwaltung nicht dem Produktgeber zu überlassen, denn wenn Sie sich von ihm trennen möchten, wird es kompliziert. Selbstverständlich können Sie die Verwaltung in Ihrem Unternehmen selbst abwickeln, aber Sie können sie natürlich auch in die Hände eines entsprechenden Dienstleisters legen, der die nötigen Softwarelizenzen und Erfahrungen besitzt. Künftig soll es für diese Dienstleister ein Zertifikat geben, achten Sie darauf.
Pro und kontra Zeitwertkonten
So schön dieses Modell ist, es hat auch seine Schattenseiten, und zwar für beide Tarifpartner. Das fängt schon bei der Frage an, ob Sie sich das Ansparen überhaupt leisten können. Wer körperlich schwer arbeitet, hat zwar den Vorruhestand am nötigsten, kann aber in der Regel den geringsten Teil vom Lohn abzwacken und kaum Überstunden schieben. Als Arbeitgeber brauchen Sie aber gerade in diesen Berufsgruppen junge und motivierte Mitarbeiter.
„Betriebe mit hoch qualifizierten Mitarbeitern sollten die Altersteilzeit einer Frühverrentung vorziehen, um Kompetenzen möglichst lange im Unternehmen zu halten.“
Ein Beispiel, wie es funktionieren kann: Ein 30-jähriger Mitarbeiter mit einem Monatseinkommen von 3000 € brutto schreibt wöchentlich zwei Arbeitsstunden auf seinem Zeitwertkonto gut, sein Arbeitgeber zahlt dort jährlich 1000 € zusätzlich ein. Dieser Arbeitnehmer kann (einen Gehaltstrend von 2 % und eine Verzinsung des Guthabens von 4,5 % vorausgesetzt) 44 Monate vor Erreichen des Rentenalters bei vollem Gehalt den Ruhestand genießen. Lässt er sich nur 70 % auszahlen, darf er 60 Monate früher gehen. Oder, Variante drei, er wählt 140 Monate Altersteilzeit, arbeitet davon in der ersten Hälfte 100 % und die zweite Hälfte gar nicht mehr bei jeweils 70 % seines Gehalts (50 % vom Arbeitgeber, 20 % aus dem Zeitwertkonto). Aber zögern Sie nicht zu lange mit der Eröffnung eines Zeitwertkontos: Mit einem Einstiegsalter von 55 Jahren schaffen Sie es je nach Variante nämlich nur noch 9, 13 bzw. 36 Monate früher in den Ruhestand.
„Zeitwertkonten ermöglichen es dem Unternehmer, in Bereichen mit einem Arbeitskräfteüberhang soziale Härten, Überalterung und Demotivation zu vermeiden.“
Ein weiteres Problem der Zeitwertkonten kann dann entstehen, wenn ältere hoch qualifizierte Arbeitnehmer mit ihrem Spezialwissen das Unternehmen aufgrund einer Freistellung frühzeitig verlassen. Wissenstransfer darf in Ihrem Unternehmen deshalb nicht nur auf dem Papier stehen, und das Know-how muss auch beim Nachwuchs ankommen – vorausgesetzt, Sie haben überhaupt genügend junge Talente. Wenn nicht, helfen Ihnen die Zeitwertkonten, um Ihre Mitarbeiter rechtzeitig für eine Fortbildung freizustellen.
Analysieren und planen spart Ärger
Nehmen Sie zunächst die Altersstruktur in Ihrem Unternehmen unter die Lupe und verschaffen sich einen Überblick über den Personalbedarf in den nächsten 20 Jahren. Was Sie dabei herausfinden ist z. B., in welchen Abteilungen relativ viele junge oder relativ viele ältere Mitarbeiter beschäftigt sind. Auch wie sich die Altersstruktur in den kommenden Jahren entwickelt, wird beantwortet, in welchen Abteilungen langsam die Talente ausgehen und an welchen Standorten Sie eher junge oder eher erfahrene Mitarbeiter brauchen.
„Wie die Erfahrungen in der betrieblichen Altersversorgung gezeigt haben, erhöht sich die Teilnahmequote durch individuelle Beratung der Mitarbeiter.“
Mit Zeitwertkonten können Sie auf all das reagieren. Zeichnet sich z. B. eine Überalterung ab, bieten sie sich als Instrument des strategischen Personalmanagements an, über Arbeitgeberzuschüsse junge Mitarbeiter zu gewinnen. Die hohen Rücklagen lassen dann eine Altersteilzeit zu, wodurch das Durchschnittsalter in Ihrem Unternehmen sinkt.
„Die Formel lautet: gesetzlicher Rahmen + Analyseergebnisse + Betriebsvereinbarung = langfristig funktionierendes Zeitwertkontenmodell zu beiderseitigem Vorteil.“
Als Nächstes klären Sie mit einer Zielgruppenanalyse, für welche Mitarbeiter die Einführung von Zeitwertkonten Sinn macht. Für die untersten Lohngruppen beispielsweise können Zeitwertkonten evtl. nur in Verbindung mit Arbeitgeberzuschüssen machbar sein. Oder es kristallisieren sich Unternehmensbereiche heraus, in denen die Mitarbeiter generell sehr häufig wechseln. Dort sind Langzeitkonten eher uninteressant. Für andere Abteilungen oder Standorte dagegen kann sich herausstellen, dass Ihr Unternehmen personalstrategisch aktiv werden muss, Zeitwertkonten sich also geradezu anbieten. Wo Sie in absehbarer Zeit dem „war for talent“ ausgesetzt sind und um Fachkräfte buhlen müssen, machen Zeitwertkonten den Arbeitsplatz besonders attraktiv.
„Gute Berater sind juristisch geschult und verstehen es, die Vorgaben des Sozialgesetzbuches für das Unternehmen auszulegen.“
Ein weiterer Schritt im Einführungsprozess ist die Zieldefinition: Was will Ihr Unternehmen damit erreichen? Wie sind die Auswirkungen auf die Altersstruktur, die Qualifikation und den Wissenstransfer? Was sich sicher auch ändert, sind Fehlzeiten und Motivation bei Ihren Mitarbeitern, aber auch der verwaltungstechnische Mehraufwand und die Liquidität. Das führt zum letzten Punkt, der Kostenanalyse. Einmalige (z. B. Beratung, Analyse und Einrichtung) und permanente Kosten (z. B. Verwaltung, Kapitalanlagekosten und Arbeitgeberzuschüsse) stehen den Einsparpotenzialen gegenüber, z. B. für Rekrutierung, Einarbeitung, Ausfallzeiten und Abfindungen.
Sorgfältige Ausgestaltung und Information sorgen für Akzeptanz
Damit das Modell der Zeitwertkonten für Mitarbeiter und Betrieb ein Erfolg wird, müssen die Zielvereinbarungen sehr sorgfältig ausgestaltet werden. Die Vorgaben des Sozialgesetzbuches erlauben tatsächlich einen großen Spielraum. Die Stellschrauben, an denen Sie drehen können, sind: Ansparvarianten (Gehalt, Überstunden, Resturlaub), Entnahmeoptionen (Elternzeit, Sabbatical, Vorruhestand), Zugriffsoptionen (z. B. nach Kündigung oder in Krisenzeiten), Kostenübernahme (wer trägt die Aufwendungen für das Zeitwertkonto?) sowie sonstige Regelungen (verlängern z. B. Krankheitstage die Freistellung?). Der Augenblick der Umsetzung ist die große Stunde des Verwalters, er ist die kommunikative Schnittstelle. Sorgen Sie dafür, dass alle Mitarbeiter rechtzeitig, ausführlich und individuell informiert werden. Wissen erhöht die Akzeptanz, und nur wenn alle mitmachen, wird das Zeitwertkontenmodell ein langfristiger Erfolg für beide Seiten.