Akademische Rückendeckung
Wirtschaftliche und politische Freiheit bilden die Grundsäulen des amerikanischen Marktprinzips. Die Geldpolitik hält die Inflation in Schach, der Staatshaushalt muss ausgeglichen sein, der Handel natürlich frei, Steuern auf Ersparnisse und privates Kapital so gering wie möglich. Der schlanke Staat mischt sich nach Möglichkeit nicht ein, und wenn doch, dann zumindest unauffällig.
„Fehlen Vorschriften, verdrängen die schlechteren Marktteilnehmer die besseren, und am Ende wird sich das Vertrauen in den Markt auflösen.“
Diese Marktauffassung besticht von jeher durch ihre intellektuelle Konsistenz – und natürlich durch ihre Attraktivität für wohlhabende Bevölkerungsschichten, die ihre privaten Ziele akademisch untermauern wollen. Nur: Diese Marktprinzipien wurden nie konsequent durchgesetzt, nicht einmal unter den konservativsten Regierungen Reagan und Bush Junior.
„Die Welt hat aufgehört darauf zu warten, dass Steuersenkungen die verborgene Kreativität der Geschäftsleute entfesseln.“
Unter Reagan fand die Doktrin ihre Anhänger, die sie umzusetzen trachteten; unter Bush dagegen wurde sie zur Grundlage eines Räuberstaats pervertiert, zu einer offiziell autorisierten staatlichen Plünderungsmaschinerie zum Wohl der Privatwirtschaft. Auch die neue amerikanische Regierung unter Barack Obama verspricht wenig Hoffnung auf Abkehr; zu tief verwurzelt sind die Strukturen in beiden politischen Lagern. Umso wichtiger ist es, darauf hinzuweisen, dass mehrere scheinbar feststehende Wahrheiten auf den Friedhof der Wirtschaftstheorien gehören.
Einmal Doktrin und zurück
Es war in den 1970er Jahren, als zwei konservative Strömungen die Deutungshoheit über die amerikanische Wirtschaftspolitik an sich rissen. Die so genannten Supply-Sider (am Angebot orientierte Theoretiker) machten sich für umfangreiche Steuersenkungen und weitestgehende Deregulierungen stark, die Monetaristen für eine rigide Kontrolle der Geldmengen. Beides zusammen kulminierte in der Politik Ronald Reagans, der Anfang der 80er an die Macht kam.
„Mittlerweile werden die übrig gebliebenen Veteranen der Reagan-Ära von den akademischen Theoretikern gemieden, weil diese keine Fingerabdrücke auf dem Trümmerhaufen hinterlassen wollen.“
Die Konservativen waren am Hebel und gaben die Richtung vor. Der großflächige Angriff auf Staat, Wirtschaftsregulierung und Gewerkschaften ließ nicht lange auf sich warten und zeigte Wirkung. Das Rezept: „Steuern senken, Inflation stoppen, Markt liberalisieren“ war denkbar einfach und eingängig. Zwei Jahrzehnte später gab Milton Friedman, der geistige Urvater der Monetaristen, zu, dass die Vorgabe von Geldmengenzielen keinen Erfolg gehabt habe – er würde heute nicht mehr dafür eintreten. Auch viele andere Theoretiker verabschiedeten sich im Lauf der Jahre von ihrer ehemaligen Doktrin. Das große Experiment der Steuersenkungen und Deregulierung war gescheitert.
Freiheit, die ich meine
Da die breite Bevölkerungsschicht gemeinhin nur ein begrenztes Interesse an wirtschaftspolitischen Themen an den Tag legt, fuhren die Konservativen eine verbale Geheimwaffe auf, um ihr Marktmodell bei der Mehrheit beliebt zu machen: Die Verbindung von „Markt“ und „Freiheit“ ergab „wirtschaftliche Freiheit“.
„Bis heute ist noch keine Ölfirma erfunden worden, die eine Möglichkeit zur Benzinpreiserhöhung auslässt, weil sie befürchtet, eine Zentralbank könnte später als Vergeltung den Zinssatz anheben.“
Das Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit lehnt jede staatliche Einflussnahme auf private Entscheidungsprozesse ab – also auch die allgemeine Krankenversicherung oder die Sozialhilfe, sofern sie durch Umverteilung zustande kommt. Ein Bürger kann wirtschaftlich frei sein, ohne dass er politisch etwas zu sagen hat. Genauer gesagt handelt es sich um die Freiheit, einzukaufen, was immer ihm beliebt. Amerikaner definieren sich geradezu über ihre Einkäufe. Pech nur, dass diese Doktrin alsbald von Großkonzernen korrumpiert wurde, als sie die „Freiheit des Marktes“ in eine Art Freiheit zur Monopolbildung umdefinierten.
Staatlich erzwungenes Marktversagen
Ersparnisse sollen nicht besteuert werden, so die Theorie der angebotsorientierten Wirtschaftslehre. Denn Geld, das auf der Bank hinterlegt ist, kommt auch den Mitbürgern zugute, da das Institut dieses Geld in den Wirtschaftskreislauf zurückführt. Die Reichen, so das Argument, tragen zum Wohle aller bei.
„Eine Regierung, die den Amerikanern hilft, durch Steuererleichterungen einen Verlust zu kompensieren, hat in ihren Augen einen größeren Wert als eine, die durch ihre Politik überhöhte Einkommen überhaupt möglich macht.“
Diverse Steuersenkungen später fiel auf, dass diese stets nur einer extrem kleinen Gruppe von Amerikanern zugutekamen. Zudem widerspricht der staatliche Eingriff zur Erhöhung der Spartätigkeit grundlegend dem Gesetz des freien Marktes: Ein solcher hätte nämlich von allein für eine effiziente Verteilung der Ressourcen gesorgt. Eine Umverteilung in Form von Steuersenkungen schafft Ineffizienzen. Weiter gedacht bedeutet dieser Widerspruch, dass einzig durch „Marktversagen“ (durch einen Eingriff des Staates nämlich) ein höheres Gemeinwohl erzwungen werden kann – keine angenehme Erkenntnis für die konservativen Theoretiker.
Dauerdefizite gebucht
Auf dem Höhepunkt der Internet- und Technologieblase Ende der 90er Jahre – mithin auf dem Höhepunkt der Steuereinnahmen – prognostizierten clevere amerikanische Bundesbeamte, dass die gesamte Staatsschuld binnen 15 Jahren abgetragen sein könnte. Kaum stand die Prognose im Raum, brach die Wirtschaft ein. Nur wenige verstanden, dass ein Haushaltsüberschuss alles andere als ein Segen ist – zumindest nicht für die USA.
„In den USA gibt es noch zwei weitere öffentliche Institutionen, die sonst schwer einzustellende junge Menschen von der Arbeitslosigkeit fernhalten. Die eine ist die Armee. Die andere ist das Gefängnissystem.“
Haushalts- und Handelsdefizit sind zwei Seiten derselben Medaille und Kennzeichen des globalen Systems, das sich zu jener Zeit herausformte. Nur Dank der Übernahme des notorischen Handelsdefizits durch den Privatsektor, nämlich indem sich die Unternehmen und Privathaushalte massiv verschuldeten, konnte das Haushaltsdefizit temporär – und auch das nur kurz – schrumpfen. Kurz gesagt kann das Haushaltsdefizit heute nicht mehr zurückgehen oder gar ausgeglichen werden. Umso unsinniger war und ist es darum, dass die amerikanischen Liberalen stets einen „ausgeglichenen Haushalt“ zu einer ihrer Maximen erheben. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen.
„Man muss Richard Nixon zugestehen, dass er sich durch keinerlei wirtschaftspolitische Anschauungen und Theorien beeinflussen ließ.“
In die gleiche Kategorie fällt der Freihandel, eine andere Doktrin der Konservativen. Japan stieg zu einer der größten Wirtschaftsnationen auf, nicht aufgrund eines „komparativen Kostenvorteils“, wie es die Theorie behauptet, sondern aufgrund von Größenvorteilen, Produktivität und Hochtechnologie. Genauso unerklärlich ist im Rahmen der Freihandelstheorie, wie ein kommunistisches Land – namentlich China – zum am schnellsten wachsenden Handelspartner der USA avancieren konnte. Die offenkundig funktionierende chinesisch-amerikanische Symbiose ist weder dem Freihandel noch sonst einer Doktrin geschuldet; sie hat sich einfach so ergeben.
Des Kaisers barmherzige Kleider
Barmherzigkeit hat einen Preis. Sie beeinträchtigt die Effizienz des Systems. Daher gewichten amerikanische Regierungen die Wachstumsrate stets höher als die sozialverträgliche Umverteilung. Bei der eigenen Nabelschau wird jedoch gern übersehen, dass Länder wie beispielsweise Dänemark ein geringes Lohngefälle mit einem weit entwickelten Wirtschaftssystem und hohem Wohlstand zu kombinieren vermögen. Ist dieses skandinavische Prinzip nur die Laune eines Zufalls? Keineswegs, denn sämtliche menschlichen Ressourcen in einer Volkswirtschaft zu nutzen, ist hochgradig effizient. Ungleichheit verursacht Arbeitslosigkeit und umgekehrt. So erklärt sich die höhere Arbeitslosigkeit in Europa durch den Umstand, dass die Lohnungleichheit zwischen den verschiedenen Staaten sogar größer ist als in den USA.
Die Geburt des Räuberstaats
Im Wirtschaftssystem der USA nehmen bestimmte private Aktivitäten, die von der staatlichen Macht nicht nur protegiert, sondern auch unterstützt werden, eine Sonderstellung ein: Das amerikanische Wohlfahrtssystem ist in charakteristischer Manier als Marktsystem verkleidet. Dazu gehören in erster Linie das Militär, die Gesundheitsfürsorge, höhere Bildung, Wohnungswesen und Rentenversicherung.
„Die Rentenversicherung ist vielleicht das anschaulichste, einfachste und transparenteste Beispiel dafür, wie der Räuberstaat seine großen und langfristigen Ziele verfolgt.“
Allerdings wurden diese bedeutenden Zentren wirtschaftlicher Macht im Lauf der Jahre durch Missbrauch systematisch von innen ausgehöhlt. Die involvierten Interessengruppen – wohlhabende Privatpersonen, Lobbyisten bzw. beides – machten sich daran, den Staat quasi zu übernehmen. Sowohl der Wohlfahrtsstaat als auch die Regulierungseinrichtungen boten dankbare Angriffsflächen und offenstehende Einfallstore. Besonders effektiv gelingt eine Plünderung ja dann, wenn die Opfer animiert werden können, selbst mitzuwirken.
„Leider gab es Länder, die tatsächlich von marxistischen Regimen regiert wurden, und so sorgte der real existierende Sozialismus dafür, dass der Marxismus seine romantische Anziehungskraft verlor.“
Die Regierung Bush Junior bestand aus einer unheilvollen Allianz aus Vertretern regulierter Sektoren, allen voran Bergbau-, Öl-, Pharma- und Landwirtschaftsunternehmen, die keine Zeit verstreichen ließen, den Staat zum Zweck der Selbstbereicherung zu unterlaufen. Es gelang. Teil des groß angelegten Plans war es, die Steuerlast weg vom Kapital und hin auf die Arbeit zu verlagern. Unter Bush nahm auch die Kampagne zur Privatisierung der Rentenversicherung rasch an Fahrt auf – was natürlich wenigen, aber umso einflussreicheren Interessengruppen genutzt hätte.
„Die Aufgabe, die breite Öffentlichkeit in den USA und im Rest der Welt über die Konsequenzen des Klimawandels zu informieren, kann nicht der Initiative Hollywoods und Al Gores überlassen werden.“
Das Vorgehen ähnelte sich in allen Bereichen: Zuerst muss die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, dass das bestehende System auf der ganzen Linie versagt hat und abgeschafft werden muss; als Alternative dazu wurden ständig Programme präsentiert, die Regulierungsaufgaben auf Lobbyisten übertrug. Der Räuberstaat war geboren.
Das Unwort: Planung
Um gegenzulenken, bedürfte es vor allem systematischer Planung. Unglücklicherweise ist dieser Begriff in den USA ähnlich beliebt wie Syphilis und Lepra. Der Markt sorgt theoretisch für eine Verteilung der gegenwärtigen Produktion und Dienstleistungen unter den Konsumenten.
„Die Repräsentanten des Räuberstaats haben sehr wohl verstanden, was für sie auf dem Spiel steht. Das ist der Grund, weshalb heute die Ideologie des freien Marktes und die Behauptung, dass gar kein Klimawandel stattfindet, so eng miteinander verflochten sind.“
Das funktioniert in der Tat recht zufriedenstellend. Wir müssen aber sicherstellen, dass die heutigen Ressourcen so verwendet werden, dass auch die Bedürfnisse von morgen befriedigt werden können. Das kann kein Markt leisten. Planung legt fest, wie viel und in welche Richtung investiert werden soll, mit welcher Dringlichkeit und mit welchen Prioritäten.
Bei kaum etwas anderem wird dies so deutlich wie beim Umweltschutz. Die Bewohner einer sauberen zukünftigen Welt haben im Jetzt nur eine geringe Stimme. Wer vertritt die Interessen der nächsten Generationen? Hurrikan Katrina ließ in New Orleans die Dämme brechen. Aufgrund fehlender Planung hatte man es versäumt, sich einen Hurrikan vorzustellen, der aus der ungünstigsten Windrichtung auftritt. Ein Gegenbeispiel ist die erfolgreiche Mobilisierung aller wirtschaftlichen Ressourcen während des Zweiten Weltkriegs. Fazit: Bildung, Wissenschaft und technische Planung müssen in die gewünschte Richtung gelenkt werden.
Auf in die Metamorphose
Stellt sich die Frage nach der Finanzierung sowohl der Planung – der Berücksichtigung der Interessen künftiger Generationen – als auch der Standards, die einen Wettlauf nach unten im Sinne niedrigster ethischer Verhaltensregeln verhindern.
Die Antwort ist einfach: Ausländische Investoren werden auch weiterhin in den USA anlegen, wenn sie gute Gründe darin sehen. Kein guter Grund ist die Verknüpfung finanzieller mit militärischer Sicherheit, da deren Aufrechterhaltung zu fragil ist. Speziell China befindet sich außerhalb des amerikanischen Sicherheitsbereichs, kann also tun und lassen, wie ihm beliebt.
Aufgrund des Systems der Dollarreserven haben die USA auch weiterhin eine Sonderstellung in der Welt, mit der sie achtsam umgehen müssen. Es ist alles andere als sicher, dass die amerikanische Wirtschaft Schaden nähme, wenn beispielsweise der Klimaschutz auf der Tagesordnung – sprich: der langfristigen Planung, verbunden mit entsprechenden Auflagen – weiter nach oben rücken würde. Würde die übrige Welt auf ein Amerika, das sich in vielen Bereichen von innen heraus erneuert, mit Furcht oder mit Zuversicht reagieren? Noch hat das Land seine Anpassungsfähigkeit nicht gänzlich eingebüßt, Universitäten und Forschungszentren sind immer noch weltweit führend. Bestehende Institutionen lassen sich noch verändern – und der Räuberstaat umkrempeln.