Das immaterielle Kapital
Das immaterielle Vermögen eines Unternehmens zeigt sich in der Differenz zwischen seinem offiziellen Eigenkapitalwert und seinem im Aktienkurs dokumentierten Börsenwert. Jede Aktie steht für einen Anteil am Buchwert. Liegt der Aktienwert eines Unternehmens deutlich über dem Buchwert, so muss es unter den Vermögenswerten des betreffenden Unternehmens etwas geben, was zukünftig hohe Renditen erwarten lässt. Diese Vermögenswerte sind jedoch nicht auf den ersten Blick sichtbar und werden zudem nicht im Jahresabschluss ausgewiesen. Da sie weder in Formen des Anlagekapitals noch in Geld zum Ausdruck kommen, können sie als immaterielles Kapital bezeichnet werden. Der hier angesprochene unsichtbare Teil der Bilanz kann in drei Gruppen unterteilt werden: a) das Know-how und die Kreativität der Mitarbeiter, b) interne Patente, Konzepte und Organisationsmodelle sowie c) das Ansehen des Unternehmens bei seinen Lieferanten, Kunden und in der Öffentlichkeit.
„Die Differenz zwischen dem Marktwert eines börsennotierten Unternehmens und seinem offiziellen Eigenkapitalwert ist der Wert des immateriellen Vermögens.“
Obwohl das Phänomen des immateriellen Kapitals v. a. bei Unternehmen der Informationstechnologie und in High-Tech-Branchen sichtbar wird, so beschränkt es sich doch keineswegs nur auf diese. Es tritt ebenso in Medienunternehmen sowie bei Pharmaherstellern, Abfallbeseitigungsfirmen und vielen Produzenten von Markenartikeln in Erscheinung. Gerade in Dienstleistungsunternehmen ist das immaterielle Vermögen die wertvollste Ressource. Wissen bildet hier die zentrale Grundlage erfolgreichen Handelns. Und schliesslich: Auch Manager in eher traditionellen Industrieunternehmen produzieren nicht nur Autos, Waschmittel oder Haushaltsgeräte, sondern schaffen zugleich nichtgreifbare Strukturen wie interne Prozesse oder Kunden- und Lieferantenbeziehungen, Markennamen oder Warenzeichen.
Wissen ist die Fähigkeit zu handeln
Betriebswirtschaftlich betrachtet ist Wissen im Gegensatz zu Rohstoffen weder knapp, noch vernutzt es sich in der Anwendung. Im Gegenteil: Wo Wissen zum Einsatz gelangt, verfeinert und differenziert es sich mit einem wachsenden Erfahrungsschatz. Während Anlagekapital mit seiner Verwendung an Wert verliert, steigt Wissen mit der Zeit in seinem Wert. Ebensowenig verringert es seinen Wert, wenn es geteilt wird. Geteiltes Wissen geht nicht anteilig verloren, sondern verdoppelt sein Potenzial. Damit nehmen wissensbasierte Unternehmen Abschied vom Gesetz abnehmender Grenzerträge und stellen diesem die gegenläufige Perspektive zunehmender Grenzerträge entgegen. Dies führt zu einem Paradigmenwechsel in der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung, der dem Übergang vom Industriezeitalter zur Wissensgesellschaft entspricht.
„In den meisten Unternehmen ist der Wert des immateriellen Vermögens höher als der des materiellen Vermögens.“
Im Zentrum des neuen Paradigmas steht der kompetente Mitarbeiter. Im Sinne des Kompetenz-Begriffes lässt sich Wissen als die Fähigkeit zum erfolgreichen Handeln definieren. Allerdings: Dieses Wissen ist zu einem Gutteil implizites Wissen, das sich kaum oder nur schwer in Worte fassen lässt. Implizites Wissen wirkt im Hintergrund und schafft Orientierung und Handlungssicherheit, ist Resultat früherer Erfahrungen, bildet unbewusste Verfahrensregeln aus und übernimmt die Funktion eines Wahrnehmungsfilters, der eingesetzt wird, um neues Wissen in altes Wissen zu integrieren (oder abzuwehren und der Handlungskompetenz fernzuhalten!). Zugleich verändert sich dieses Wissen kontinuierlich, weshalb es wichtig ist, die grundlegenden Transformationsmechanismen von Wissen eingehender zu betrachten.
- Kombination ist der Prozess, kommunizierbare Informationen (explizites Wissen in Form von Texten, Dokumenten, Beschreibungen etc.) durch Analysieren, Kategorisieren und Verarbeiten in neues explizites - also sprachlich beschreibbares und schriftlich fixierbares - Wissen umzuwandeln.
- Internalisierung bezeichnet die Umwandlung von explizitem Wissen in implizites Wissen. Dies geschieht durch unterschiedliche Formen des "Learning by Doing". Übung und Verinnerlichung gehen hier so weit, dass Mitarbeiter zwar in der Lage sind, entsprechend den Vorgaben des impliziten Wissens gewissermassen automatisiert zu handeln, ihre Vorgehensweise jedoch nicht genau begründen können.
- Sozialisation markiert einen Lernprozess, der als Transfer impliziten Wissens zu sehen ist. Beobachtung, Nachahmung und Einübung führen zum Aufbau eines verinnerlichten Werte- und Normensystems, der auch als Unternehmenskultur beschrieben worden ist. Weder Vorbild noch Nachahmer sind in der Lage zu begründen, wer was warum tut.
- Externalisierung ist der Vorgang, implizites Wissen in explizites Wissen zu überführen - in Form von Metaphern, Modellen und Analogien, die es in begrenztem Masse erlauben, impliziten Deutungsmustern Ausdruck zu verleihen. Hier spielen Intuition und unbewusstes Verständnis eine grosse Rolle.
„Die meisten Mitarbeiter von Wissensunternehmen sind hochqualifizierte und gut ausgebildete Spezialisten, das heisst, sie sind ‚Knowledge Worker’ (Wissensarbeiter).“
Vor dem Hintergrund eines solchen Lern- und Kompetenzkonzepts besteht Handlungsfähigkeit aus fünf verschiedenen Elementen: explizite Fakten und Informationen, praktisches Können, Erfahrungen, Werturteile und soziale Beziehungen.
Personalentwicklung in Wissensunternehmen
Information ist nur ein Aspekt der Kompetenz. Folglich hat sich Wissensmanagement und die Bewertung immaterieller Vermögensbestandteile mit mehr als nur der Kommunikations- und IT-Struktur eines Unternehmens auseinander zu setzen. Schlüsselfaktor in Wissensunternehmen ist das Personal. Daher fallen der Personalbeschaffung, dem Personalmanagement und der Personalentwicklung eine zentrale Rolle bei der Bewertung eines Unternehmens zu. So sollte die Einstellung neuer Mitarbeiter ähnlich einer Investition von Industrieunternehmen in neue Maschinen gesehen werden. Gleiches gilt für Aufwendungen für Personalentwicklungsmassnahmen. Hier ist zu beachten, dass diese stets handlungsorientiert ausgerichtet sind und es ermöglichen, das neue Wissen auch praktisch umsetzbar zu machen. Und schliesslich gilt es, die wichtigsten Kompetenzträger an das Unternehmen zu binden, ihnen Perspektiven einer internen Karriere zu erschliessen und sie zum Austausch und zur Weitergabe ihres Wissens zu ermutigen. Als hilfreiche Massnahmen werden dazu Konzepte der Job-Rotation, die kommunikationsintensive Arbeit in Grossraumbüros sowie der Einsatz von Teamarbeit und Mentoren vorgeschlagen.
Nichtfinanzielle Kennzahlen für den Unternehmenserfolg
Was tun nun Unternehmen konkret, um ihr immaterielles Vermögen zu messen? Grundlage dafür ist ein Messsystem, das auf nichtfinanziellen Kennwerten aufgebaut ist. Diese liefern anfangs vielleicht noch kein volles und umfassendes Bild der immateriellen Vermögenswerte eines Unternehmens. Doch können sie zu Steuerungszwecken eingesetzt werden. Und: Sie dienen v. a. zum Einstieg in ein neues strategisches Navigationssystem, das es Unternehmen erlaubt, Kurs in Richtung Wissensmanagement aufzunehmen. Um dem Kern immaterieller Vermögenswerte, dem vorhandenen Wissenskapital und dem Zufluss und Abfluss von Wissen auf die Spur zu kommen, benötigen wir neue beobachtbare Kennziffern. Sie stehen stellvertretend für die nicht direkt beobachtbaren Variablen und ermöglichen so auf indirekte Weise eine Inventarisierung und Bilanzierung. Man unterteilt ein dafür eingerichtetes System in das sichtbare Eigenkapital (materielle Vermögenswerte abzüglich sichtbarer Verbindlichkeiten) und immaterielle Vermögenswerte. Letztere untergliedert man schliesslich nochmals in die Kompetenz der Mitarbeiter, die interne Struktur und die externe Struktur des Unternehmens.
Immaterielle Vermögenswerte messen
Um Mitarbeiterkompetenz, interne Struktur und externe Struktur exakt zu vermessen, gibt es einen "Monitor für immaterielle Vermögenswerte". Dieser untergliedert die Faktoren Kompetenz, interne Struktur und externe Struktur nochmals in die Kategorien Wachstum/Entwicklung, Effizienz und Stabilität in Form einer 9-Felder-Matrix. Für jedes Feld der Matrix sind nun ein oder zwei Kennzahlen zu entwickeln, sodass der Monitor inhaltliches Gesicht bekommt. Damit steht das Grundgerüst zur Erfassung von immateriellem Kapital.
Konkrete Messwerte entwickeln
Betriebliche Wissensmanagement-Konzepte liefern den Orientierungsrahmen, innerhalb dessen Schwerpunkte bzw. Ziele gesetzt werden können, die sich dann in Kennzahlen übersetzen lassen. Sie liefern sozusagen eine Vorgabe, in welche Richtung sich das Unternehmen zu entwickeln hat. Ein solches Ziel kann beispielsweise sein, den Anteil von Nicht-Umsatzträgern (d. h. Mitarbeitern, die keine Umsätze erzielen) unter einem bestimmten Grenzwert zu halten oder ihn darauf zurückzufahren. Ein anderes Ziel ist die Vorgabe eines oberen und unteren Werts für die gewünschte Mitarbeiterfluktuation, um einen Rahmen zu stecken für die Wissenssicherung und die Wissenszuwanderung. Diese Vorgaben können für unterschiedliche Mitarbeitergruppen (Umsatz-Träger, Nicht-Umsatzträger, Spezialisten, Verwaltungskräfte, Führungskräfte) differieren.
„Das Kennzeichen eines wahren Experten ist nicht seine Fähigkeit, die Regeln aufzuzählen und anzuwenden, sondern seine Fähigkeit, sie zu brechen und durch bessere Regeln zu ersetzen.“
Es empfiehlt sich, mit den Kennzahlen für die Kompetenz zu beginnen, da diese nicht nur eine der drei Grundfaktoren des Monitors darstellt, sondern zugleich auch Quelle für interne und externe Strukturen ist. In Bezug auf die Kategorie Wachstum/Erneuerung lassen sich hier folgende Kennziffern in Betracht ziehen: Anzahl der Berufsjahre der im Unternehmen beschäftigten Spezialisten (Gesamtjahre, durchschnittliche Berufserfahrung der Spezialisten), Ausbildungsstand der Spezialisten, Trainings- und Weiterbildungskosten (Trainingskosten in Prozent des Umsatzes, durchschnittliche Anzahl der Trainingstage pro Spezialist), der Einfluss der Fluktuationsrate auf die durchschnittliche Berufserfahrung der Spezialisten, Anzahl kompetenzerweiternder Kunden. Als Kennzahlen zur Effizienz werden der Anteil von Spezialisten an der Gesamtbeschäftigtenzahl sowie die Wertschöpfung pro Spezialist vorgeschlagen. Indikatoren für die Stabilität des Faktors Kompetenz sind ein gleich bleibendes Durchschnittsalter, eine über die Fluktuation hinaus gleich bleibende Berufserfahrung wichtiger Umsatzträger sowie das Gehaltsniveau von Spezialisten (Gefahr der Abwanderung bei zu geringer Entlohnung).
„Eine hohe Fluktuation und hohe Fehlzeiten sind ein Warnsignal dafür, dass das immaterielle Vermögen eines Unternehmens gefährdet ist.“
Für die interne Struktur lassen sich der Kategorie Wachstum/Erneuerung zuordnen: die Höhe der betrieblichen IT-Investitionen in Prozent vom Umsatz oder aber der Umsatzanteil von Kunden, die zur Verbesserung der internen Prozesse im Unternehmen beitragen. Der Aspekt der Effizienz interner Strukturen bildet sich etwa in den Kennziffern Anteil der Sachbearbeiter an der Gesamtzahl der Beschäftigten, Umsatz pro Sachbearbeiter oder in Umfragen zur Einstellung der Mitarbeiter zum Arbeitsplatz ab. Als Ausdruck der Stabilität interner Strukturen lassen sich schliesslich das Alter des Unternehmens, die Fluktuationsrate von Sachbearbeitern und Managern sowie der Anteil neuer Mitarbeiter (weniger als zwei Jahre im Unternehmen beschäftigt) heranziehen.
„Wissensströme und immaterielle Vermögenswerte sind nichtfinanzielle Grössen und erfordern sowohl nichtfinanzielle als auch finanzielle Kennzahlen.“
Im Zentrum der Kennzahlen für die externe Struktur stehen Daten zu den Kundenbeziehungen eines Unternehmens. Um sie unter dem Aspekt Wachstum/Erneuerung näher fassbar zu machen, lassen sich der Gewinn pro Kunde sowie das organische Wachstum (Umsatzanstieg abzüglich des Umsatzes mit Neukunden) als Kontrollzahlen einführen. Die Effizienz externer Strukturen zeigt sich in Kennziffern zur Kundenzufriedenheit, der Erfolgsquote bei Ausschreibungen sowie dem Umsatz pro Kunde. Für die Bewertung der Stabilität externer Strukturen kann auf Daten wie Umsatzanteil von Grosskunden (z. B. Umsatzanteil der fünf grössten Kunden), Anteil von Stammkunden (die bereits länger als fünf Jahre Kunden sind), Häufigkeit von Wiederholungskäufen oder aber die Altersstruktur der Kunden (wie lange zählt der Kunde bereits zum Kundenkreis?) zurückgegriffen werden.
„Die Schwierigkeit der Interpretation nichtfinanzieller Kennzahlen war ein grösseres Hindernis für ihre Anwendung. Jetzt existiert ein derartiger Rahmen: Vom Standpunkt des Wissens aus werden Mitarbeiterkompetenz, interne Struktur und externe Struktur gemessen.“
All diese Kennziffern illustrieren, wie der Monitor zur Bewertung des immateriellen Kapitals aufgebaut wird. Sie liefern jedoch kein festes System, das ohne Anpassungsleistung auf ein beliebiges Unternehmen zu übertragen wäre. Wie in allen Indikatoren-Systemen interessieren auch bei der Bewertung des immateriellen Kapitals eines Unternehmens weniger die absoluten Werte als vielmehr die Entwicklung bzw. der Vergleich. Ein Messwert für sich sagt eigentlich noch nicht viel aus. Erst im Vergleich mit einem anderen Unternehmen, dem Vorjahr oder dem geplanten Budget- bzw. Zielwert bekommt er seine Bedeutung.
Dr. Karl Erik Sveiby übernahm 1979 als ehemaliger Unilever-Manager zusammen mit einigen Partnern die Wirtschaftzeitschrift Affärsvärlden, die er zusammen mit seinen Partnern zum Ekonomi + Teknik Forlag, einem der grössten Fachzeitschriftenverlag in Skandinavien weiterentwickelte. Seit 1986 hat er verschiedene Bücher zum Thema "Wissensmanagement" veröffentlicht. 1993 verkauften Sveiby und seine Partner ihr Unternehmen. 1994 promovierte er an der Universität Stockholm und ist seither weltweit als Berater tätig.