Im freien Fall

Buch Im freien Fall

Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft

Siedler,


Rezension

Joseph Stiglitz legt mal wieder ein besonders kritisches Werk vor. Diesmal geht er den Fehlern der US-amerikanis­chen Regierung nach dem Platzen der Im­mo­bilien­blase auf den Grund. Er wirft sowohl George Bush als auch dessen Nachfolger Barack Obama vor, die Krise nicht frühzeitig und entschieden genug bekämpft zu haben. Stiglitz plädiert mit viel Verve dafür, die Schwächsten der Gesellschaft zu unterstützen. Statt dem Heer der Ar­beit­slosen und überschulde­ten Haus­be­sitzer zu helfen, pumpte das Weiße Haus Mil­liar­den­sum­men in die Banken. Das Buch macht Zusammenhänge verständlich, wenngleich sich über die präsentierten Lösungskonzepte trefflich streiten lässt. BooksInShort hält das Werk des No­bel­preisträgers für eine aus­geze­ich­nete Darstellung der Krise, die überdies nicht am Faktischen haften bleibt, sondern Wege in die Zukunft aufzeigt. Eine Empfehlung für alle Wirtschaftsin­ter­essierten, die die Finanzkrise besser verstehen wollen.

Take-aways

  • Die weltweite Finanz- und Wirtschaft­skrise ab 2007 wurde von einer unglücklichen Kombination aus niedrigen Zinsen und laxen Kred­itver­gaberichtlin­ien ausgelöst.
  • Die Banken überprüften die Bonität ihrer Kunden nicht sorgfältig genug.
  • Auf­sichts­gremien, Ratin­ga­gen­turen und Zentralbank kamen ihrer Kon­trollpflicht nicht nach.
  • Als brandgefährlich entpuppten sich die Vergütungsregelun­gen für Führungskräfte, die an der kurzfristi­gen Gewin­nen­twick­lung aus­gerichtet waren.
  • Wenn Kon­junk­tur­pro­gramme erfolgreich sein sollen, müssen sie schnell wirken.
  • Die Regierung half während der Krise nicht den Menschen, sondern lediglich den Banken.
  • Die Banken hätten für ihre Fehler bezahlen sollen.
  • Der Schulden­berg aus dem Ret­tung­spro­gramm wird Amerika auf Jahre hinaus belasten.
  • Hohe Steuere­in­nah­men sind notwendig für ein gutes Bildungs- und Gesund­heitssys­tem sowie für gute Verkehr­swege.
  • Die Chance, nach der Krise eine neue, bessere Weltordnung zu schaffen, besteht nur, wenn das Wohl aller ins Zentrum des Interesses rückt.
 

Zusammenfassung

Wie die Krise entstand

Eine explosive Mixtur aus niedrigen Zinsen und laxen Vorschriften bei der Vergabe von Hypotheken in den USA löste die Finanz- und Wirtschaft­skrise ab 2007 aus. Die Amerikaner lebten zu lange über ihre Verhältnisse, sie kon­sum­ierten mehr, als sie verdienten, und bei der Kred­itver­gabe wurde die Bonität der Kunden zu wenig geprüft. Auf­sichts­gremien, Zentralbank und Ratin­ga­gen­turen, sie alle übersahen die Warn­hin­weise und verpassten es, rechtzeitig einzuschre­iten. Bis zu drei Viertel der Wirtschaft­sleis­tung in den USA speisten sich direkt oder indirekt aus dem Im­mo­biliensek­tor: indem neue Häuser gebaut und ein­gerichtet wurden und auch indem man alte Häuser belieh, um weiter konsumieren zu können. All das war auf der Annahme begründet, dass der Wert der Immobilien immer weit­er­steigen würde. Mit den neu gewonnenen Mitteln kauften sich die Amerikaner Autos, machten Urlaub und dergleichen.

„Das einzig Überraschende an der Wirtschaft­skrise von 2008 war die Tatsache, dass sie für so viele überraschend kam.“

Die Banken schnürten Pakete aus zweitk­las­si­gen Hypotheken, die an Ger­ingver­di­ener mit schlechter Bonität vergeben worden waren. Diese Pakete wurden von Ratin­ga­gen­turen mit guten Bewertungen aus­ges­tat­tet und als ver­meintlich er­stk­las­sige komplexe Fi­nanzpro­dukte (Derivate) an Investoren weit­er­verkauft. Und die Im­mo­bilien­fi­nanzierer, von ihrer Last befreit, konnten weitere Hypotheken ausreichen. Weltweit schlossen die Akteure auf dem Finanzmarkt mil­liar­den­schwere Wetten ab. Die Derivate ver­schlim­merten die Krise noch, denn am Ende wusste aufgrund der enormen Komplexität niemand mehr, ob die verliehenen Geldsummen dem Wert der Aktiva entsprachen oder ihn überstiegen. Selbst einander vertrauten die Banken auf dem Höhepunkt der Krise nicht mehr, der Geldfluss geriet ins Stocken, die Konjunktur kollabierte. Wen trifft die Schuld? Da sind viele zu nennen, zuallererst aber die Banken: Sie ver­mark­teten zweitk­las­sige Hypotheken, ohne dass ein politischer Druck oder staatliche Anreize in diese Richtung vorhanden waren. Auch wenn Kon­ser­v­a­tive das nicht gern hören: Alles in allem war der freie Markt an dem Desaster schuld und nicht der Staat. Kernproblem waren die Vorstände. Anders als bei Fam­i­lienun­ternehmen handelten sie nur im eigenen Interesse. Sie waren auf kurzfristige Kurssteigerun­gen aus, um daran über Bonuszahlun­gen mitzu­ver­di­enen. Das langfristige Wohl des Un­ternehmens geriet aus ihrem Blickfeld.

„Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.“

Weil das Glass-Stea­gall-Gesetz unter Präsident Clinton aufgehoben wurde, durften Investment- und Geschäftsbanken ab dem Jahr 1999 fusionieren. Es entstanden Megabanken. Die Regierung konnte diese Riesen aufgrund ihrer Größe irgendwann nicht mehr untergehen lassen. Denn im Falle einer Insolvenz wären un­kon­trol­lier­bare Gefahren für die Gesamtwirtschaft entstanden. Es wären reihenweise andere Akteure in Mitlei­den­schaft gezogen worden. Wegen dieses Domi­no­ef­fekts und weil Vorstände tendenziell persönliche Interessen verfolgen, ist eine strenge staatliche Reg­ulierun­gen der Märkte vonnöten.

Der Hy­potheken­be­trug

Vor der Krise en­twick­el­ten die Banken ständig neue Produkte. Hierzu zählte etwa die 100%-Hypothek: Die Bank finanzierte 100 % oder sogar mehr als den Objektwert. Kunden und Banken konzen­tri­erten sich auf immer teurere Häuser. Stieg der Preis, konnte der Haus­be­sitzer die Differenz als Gewinn ein­stre­ichen. Fiel eine Immobilie dagegen im Wert, gab der Kred­it­nehmer den Schlüssel seiner Bank zurück und zog aus. Mit Lock­vo­ge­lange­boten köderten die Institute Menschen mit Darlehen, die in den ersten Jahren zinslos blieben. Es gab sogar so genannte Lügen­hy­potheken: Die Käufer mussten keine Einkom­men­snach­weise vorlegen und konnten sich durch falsche Angaben leicht einen Kredit verschaffen. Oder die Kred­it­sach­bear­beiter schraubten das Einkommen des Kunden einfach auf dem Papier in die Höhe, um den Vertrag in trockene Tücher zu bringen. Je größer das Haus war, desto höher fielen die Gebühren aus. Und je öfter die Kunden ihre Darlehen um­schulde­ten, desto mehr Gebühren kassierte die Bank. Als das Kartenhaus zusam­men­fiel, kamen die faulen Kredite zum Vorschein. Präsident Obama half den Kred­it­nehmern in einem ersten Schritt, die Tilgung zu verringern, nicht jedoch die Kreditsumme. Es war ein Fehler, die Kreditsumme nicht zulasten der Banken zu korrigieren. Bei fast allen Beschlüssen des Fi­nanzmin­is­teri­ums war der politische Einfluss des Fi­nanzsek­tors zu erkennen. Die Banken hätten für das Desaster, das sie angerichtet hatten, bezahlen sollen. Grundsätzlich gilt: Der Kap­i­tal­is­mus funk­tion­iert nicht, wenn der Bezug zu volk­swirtschaftlichen Gewinnen verloren geht, wie das bei dieser Krise der Fall war.

„Die Banker, die dem Land das Debakel beschert hatten, hätten für ihre Fehler zahlen sollen.“

Bush und Obama häuften mit Bürgschaften und Ret­tungspaketen mehr als 12 Billionen Dollar Schulden an. Dadurch werden die Amerikaner auf Jahre hinaus ökonomisch und sozial beeinträchtigt sein. Vermutlich hat das Fi­nanzmin­is­terium den Untergang von Lehman Brothers am 15. September 2008 vor allem benutzt, um Angst zu schüren. Das Lehman-De­bakel diente als Argument für die Rettung anderer Banken. Anzunehmen, die Krise wäre mit dem Fortbestand von Lehman Brothers nicht aus­ge­brochen, wäre ein grober Fehler. Fest steht: Das Ziel, mit der Banken­ret­tung die Kred­itver­gabe anzukurbeln, hat die Regierung gründlich verfehlt.

Das Versagen der Politik

Zum ersten Mal nach der großen Depression der 1930er Jahre kam ab August 2007 alles zusammen: Börsencrash, Kred­itk­lemme, Preisver­fall bei Immobilien. Zunächst beschwichtigte Präsident Bush die Bevölkerung. Er unterschätzte die Krise, die ab Dezember in eine Rezession mündete, und griff viel zu spät ein. Im Februar 2008 folgte eine Steuersenkung im Umfang von 168 Milliarden Dollar, deren erhoffte Wirkung ausblieb: Warum auch hätten die Amerikaner, inzwischen voller Zukun­ft­sangst, dieses zusätzliche Geld ausgeben statt sparen sollen? Die Bush-Regierung half weder Eigen­heimbe­sitzern noch Ar­beit­slosen, die besonders unter dem Finanzcrash litten. Stattdessen stellte sie den Banken ein Ret­tungspaket in Höhe von 700 Milliarden Dollar zur Verfügung. Wenn die Konjunktur abkühlt, sollte jedoch der Staat massiv gegen­s­teuern und den Menschen helfen. Auch der neue Präsident Barack Obama unterschätzte die Rasanz der Talfahrt. Obama hatte keine Ahnung, warum das Fi­nanzsys­tem tatsächlich versagt hatte – nämlich wegen einer Fehls­teuerung des Systems durch Vorstände, deren Anreize falsch gesetzt waren. Obama führte die Strategie seines Amtsvorgängers fort und stützte die Banken. Im Herbst 2009 wuchs die Wirtschaft wieder einige Monate lang kräftig. Die Rezession war also, technisch gesehen, zu Ende. Doch die Wieder­bele­bung der Ökonomie bleibt weiterhin schwierig und dauert länger als bei normalen Rezessionen.

Fehler beim Krisen­man­age­ment

Ein Kon­junk­tur­pro­gramm sollte sieben Kernpunkte umfassen:

  1. Es muss schnell kommen.
  2. Es muss wirken, d. h. positive Mul­ti­p­lika­tor­ef­fekte entfalten.
  3. Es sollte die langfristi­gen Probleme adressieren. Darunter fallen etwa die globale Erwärmung oder Han­dels­bi­lanzde­fizite.
  4. Im Mittelpunkt müssen In­vesti­tio­nen stehen. Sind diese richtig platziert, erhöhen sie den Wohlstand effektiver als reine Kon­sum­spritzen.
  5. Das Programm soll gerecht sein, also nicht die Reichen noch zusätzlich begünstigen.
  6. Den Menschen, die durch die Krise in eine Notlage geraten sind, muss schnell geholfen werden, um deren Abrutschen zu verhindern.
  7. Die Sektoren, in denen die meisten Arbeitsplätze wegfallen, sind zu unterstützen oder es muss Um­schu­lungsmaßnahmen für Ar­beit­nehmer aus sterbenden Branchen geben.
„Mit dem Niedergang der Großbanken und Im­mo­bilien­fi­nanzierer und den anschließenden ökonomischen Turbulenzen und chaotischen Ret­tungsver­suchen ist die Zeit des amerikanis­chen Tri­umphal­is­mus vorbei.“

Die Regierung Obama stellte 2008 ein Ret­tungspaket von 800 Milliarden Dollar über zwei Jahre zur Verfügung. Gle­ichzeitig kürzten jedoch die Bun­desstaaten und Kommunen ihre Ausgaben – unter dem Strich ein Null­sum­men­spiel. Die Kürzungen trafen ins­beson­dere die Armen und Ar­beit­slosen. So wurden deren Probleme verschärft, und die Zahl der Zwangsver­steigerun­gen schnellte in die Höhe. Mit einer Art Hy­potheken­ver­sicherung wäre die Regierung besser beraten gewesen: Diese Assekuranz hätte für alle arbeitslos Gewordenen die Zin­szahlun­gen übernommen. Ein solcher Zahlungsauf­schub hätte die Abwärtsspirale stoppen können. Steuersenkun­gen wirken nicht, wenn die Regierung damit die Reichen entlastet. Denn die geben ihre Steuergeschenke nicht aus, sondern legen nur mehr Geld auf die hohe Kante. Maßnahmen wie die Abwrackprämie eignen sich eher für kurzfristige Branchenkrisen: Zwar stieg der Pkw-Absatz im Sommer 2009, doch im Herbst sanken die Verkauf­szahlen wieder. Dass Obama an dem von Bush eingeschla­ge­nen Kurs, hauptsächlich den Banken zu helfen, festhielt, war ein Fehler. Diese Taktik sta­bil­isierte nicht den Im­mo­bilien­markt, doch gerade das wäre notwendig gewesen, denn Häuser sind die wichtigste Vermögen­spo­si­tion der Amerikaner.

Habgier statt Beson­nen­heit

Die Krise hat gezeigt, dass eine freiwillige Selb­stkon­trolle der Wirtschaft nicht funk­tion­iert. Die Anreize der Bankvorstände gehen nicht mit den Interessen der Kunden konform. Gerade Unwissende werden von den Bankern skrupellos ausgebeutet. Dass sich die Vergütung des Managements am aus­gewiese­nen Gewinn orientierte, war ein Ansporn, die Bilanzen zu ma­nip­ulieren. Verluste gliederten die Vorstände aus den Bilanzen aus, das lukrative Gebührenwesen dagegen feierte fröhliche Urstände. Die Un­ternehmen­skon­trolle versagte. Das ist keine Überraschung: In den Aufsichtsräten sitzen in der Regel der Führungsspitze na­h­este­hende Personen. Man genehmigt sich gegenseitig ordentliche Gehälter, eine Hand wäscht die andere.

„Wir können nicht zum Status quo ante – dem Zustand vor der Krise – zurückkehren.“

Was ist zu tun? Wer die Bilanz manipuliert, muss wie ein Steuersünder bestraft werden. Der Gesetzgeber muss die Risikobere­itschaft eingrenzen, indem er die An­reizsys­teme für Führungsper­so­nen ändert. Megabanken müssen zerschlagen werden. Weil Derivate ein nützliches Instrument zur Risikoab­sicherung sein können, sind sie zwar nicht abzuschaf­fen, aber streng zu überwachen – sie können sonst das gesamte Fi­nanzsys­tem gefährden.

Neue Verhältnisse in Amerika

Die Amerikaner müssen nun mit einem sinkenden Lebens­stan­dard rechnen. Denn es gibt, jenseits der Krise, ohnehin viele Missstände: Die Gehälter steigen seit Jahren nicht mehr, 15 % der Menschen haben keine Kranken­ver­sicherung, und das Gesund­heitssys­tem ist, obwohl in den USA die Spitzen­medi­zin beheimatet ist, ineffizient und voller Mängel. Die USA haben die höchste Quote an Gefäng­nisin­sassen weltweit. Weitere Probleme sind die globale Erwärmung und die mangelhafte In­fra­struk­tur. In vielen Schlüssel­tech­nolo­gien wie in der Stahl- oder Au­to­mo­bil­branche haben die USA ihre Führungsrolle verloren. Hohe Steuere­in­nah­men sind unerlässlich, wenn ein gutes Bildungs- und Verkehrssys­tem und eine hin­re­ichende Gesund­heitsver­sorgung sichergestellt werden soll.

Globaler Wohlstand und eine bessere Gesellschaft sind machbar

Aus der Großen Rezession und dem Zweiten Weltkrieg ist eine neue Weltordnung entstanden. Wir haben nun erneut eine solche Chance. Auf diesem Weg sind der In­ter­na­tionale Währungsfonds und die Weltbank zu demokratisieren. Arme Länder müssen mehr Gelder erhalten, gle­ichzeitig muss aber auch die Korruption bekämpft werden. Die USA werden zwar vorerst die größte Volk­swirtschaft der Welt bleiben, China holt jedoch auf. Eine globale Regulierung ist wichtig, allen voran müssen sich die Steuerbehörden stärker un­tere­inan­der austauschen. Oberstes Ziel unserer Gesellschaft sollte es sein, für das Wohl aller zu arbeiten.

Über den Autor

Joseph Stiglitz lehrt an der Columbia University in New York. Seine vorherigen Stationen waren die Universitäten Yale, Stanford, Oxford und Princeton. Ab 1993 beriet er die Clin­ton-Regierung in Wirtschafts­fra­gen, bis er als Chefökonom zur Weltbank wechselte. Zu seinen er­fol­gre­ich­sten Werken zählen Die Schatten der Glob­al­isierung und Die Chancen der Glob­al­isierung. 2001 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswis­senschaften.