"Gestern Abend kam Oma erst wieder um elf nach Hause."
Entspricht diese Aussage der Wahrheit oder ist sie eine Wunschvorstellung desorientierter Marketingstrategen? Die bisherige werbliche Ansprache älterer Bevölkerungsgruppen zeigt zahlreiche Widersprüche. Ist die Werbung für Konsumprodukte seit annähernd 30 Jahren vom klar definierten "Jugendkult" geprägt, so geistert seit dieser Zeit eine Chimäre durch Marketing und Werbung, die nicht recht zu fassen ist: die "Alten". Selbst bei der Begriffsbestimmung, wer als alt zu bezeichnen ist und wer (noch) nicht, herrscht Uneinigkeit. Ist man Senior schon ab 45 oder erst ab 79, wie die Mehrheit der amerikanischen Jugendlichen in einer Umfrage behauptete?
„Es ist zu erwarten, dass der Altenmarkt den Teenagermarkt in naher Zukunft übertreffen wird.“
Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass es sich lohnt, ältere Konsumenten anzusprechen. Denn sie sind eine rapide wachsende Bevölkerungsgruppe mit der mit Abstand grössten Kaufkraft. Deutschland hat die wohlhabendsten Rentner aller Zeiten und es werden immer mehr - absolut wie relativ. Bereits heute leben rund 26 % der deutschen Bevölkerung im Ruhestand. Im Jahr 2030 werden 38 % der Bevölkerung über 60 Jahre alt sein. In der Vergangenheit beschränkte sich Senioren-Marketing auf Butterfahrten, Stärkungsmittel und Heizdecken. Mittlerweile hat sich jedoch die Erkenntnis durchgesetzt, dass Produkte, die bislang über Jugendlichkeit und Attraktivität verkauft wurden, zunehmend von älteren Menschen benutzt werden, ohne dass die Werbung diese gezielt anspricht. Es scheint, dass sich das Konsumverhalten älterer Menschen quantitativ und qualitativ verändert.
„Dem ‚mit Abstand reichsten Markt der deutschen Bevölkerung’ wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.“
Die gegenwärtige Fachliteratur behauptet: Deutschland erlebt bei soziodemografischer Alterung eine gleichzeitige Verjüngung der Lebensgewohnheiten und Ansichten. "Forever young" lautet die Devise. Alte sind heute nicht mehr arm und krank, sondern reich und gesund. 40-Jährige auf Rockkonzerten, Designermode für 50er, die erste Harley-Davidson mit 60 und Fitnesskurse mit 70 fangen an, zum Alltag zu gehören.
„Die heutigen Alten sind gesünder und vitaler als je zuvor und leben länger als ihre Vorfahren. Sie reisen mehr und sorgen dafür, dass die Pharmaindustrie boomt.“
Auf der anderen Seite steht jedoch auch die Erkenntnis, dass die ältere Generation nicht der Meinung ist, dass mit 50 die schönste Zeit des Lebens erst anfängt - sie ist vorbei. Bis die "Neuen Alten" zu Top-Konsumenten werden, dürften noch mindestens zwei Jahrzehnte verstreichen. Die Alten von heute sind eine "Übergangs-Generation".
Das Gesicht der "Neuen Alten"
Alte Menschen sind eine der heterogensten Zielgruppen des Marketings. "Den" Senior gibt es nicht. Allein die Altersstruktur macht eine derartige Pauschalisierung unmöglich. Denn als "alt" gelten all diejenigen Menschen, die heute wie gestern aufgrund ihres biologischen Alters aus dem aktiven Erwerbsleben ausscheiden. Dabei erfolgt der Eintritt ins Rentenalter heute immer früher. Zugleich steigt die Lebenserwartung, sodass als alte Menschen alle zwischen 55 und 90 bezeichnet werden können - das ist fast die Hälfte der gesamten Lebensspanne. Für diese lange Zeit gilt: Je älter die Menschen werden, desto stärker unterscheiden sie sich voneinander. Ihr Spektrum an Lebenslagen, Werten, Weltanschauungen, Verhalten und Konsumgewohnheiten wird sich stark auffächern, ihr Selbstbewusstsein wird wachsen. Dennoch muss das Marketing bestimmte Gemeinsamkeiten erkennen, um eine effektive Zielgruppenansprache zu ermöglichen. Eine Studie der Hamburger Agentur Springer & Jakobi zeigt vier Typen alter Menschen:
- Die Familiären bevorzugen klare Familienstrukturen mit klassischer Rollenaufteilung. Sie sind 60-70 Jahre alt, haben geringe Mittel, sind aber genussorientiert und haben Interesse an Marken und neuen Produkten.
- Die Traditionellen leben stark in Konventionen, die ihnen zwar Halt geben, sie aber auch einengen. Sie sind sparsam und haben durchschnittliche finanzielle Mittel.
- Die Bewussten zeichnen sich durch hohe Dialog- und Lernbereitschaft aus, sie lehnen klassische Rollenmuster ab. Bildung und frei verfügbares Einkommen sind hoch.
- Die Ichbezogenen wollen ihr Leben aktiv und selbstbestimmt gestalten. Häufig sind sie männliche Singles mit hoher Bildung und hohem Lebensstandard.
„Es gibt nicht den Senioren. Nichts macht die Menschen so verschieden wie der Alterungsprozess.“
Viele der heutigen Senioren betrachten ihre Lebensphase jenseits der Erwerbstätigkeit als Befreiung, gerade so, als ob ein schwerer Druck von ihnen genommen wurde. Sie geniessen ihre Freiheit und haben keine Scheu, dies auch zu zeigen. Jedoch verstehen sie ihre Freiheit mehr als Freiheit für etwas, weniger als Freiheit von etwas (Arbeit). Daraus ergibt sich für sie die Frage nach dem Sinn ihres Lebens. Sie suchen in geringerem Masse als früher materielle Güter und fragen vermehrt nach Dienstleistungen und kulturellen Angeboten. Sie wollen mehr Wohlbefinden als Wohlstand. Sie pflegen einen neuen Lebensstil, geben sich jünger und leben mehr nach Lust und Laune als nach Regeln und Ritualen. Sie bekennen sich zu Musse und Laissez-faire und haben es nicht nötig, aktiv zu wirken. Sie sind realistisch und machen sich keine Illusionen. Der Master-Consumer unter den Älteren ist 50-59 Jahre alt, ausgabefreudig, aktiv und beweglich, erlebnisorientiert.
„Unsere Vorstellungen vom Alter sind veraltet, sie tragen den Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten und der heutigen Dauer des Alters nicht mehr Rechnung.“
Bis zum Jahr 2010 werden sich die Lebensgewohnheiten der Alten in Richtung Aktivität und Konsum verändern. Viele von ihnen werden in grössere und bessere Wohnungen ziehen, werden häufiger reisen und sich modischer kleiden. Ein Auto auch für Frauen wird normal sein, das Sparkapital wird nicht nur gemehrt, sondern v. a. auch genutzt, ehrenamtliche Tätigkeiten und soziales Engagement werden zunehmen, Bildungsangebote mehr nachgefragt.
Die neuen Aufgaben des Marketings
Die klassische Senioren-Werbung hat vor diesem Hintergrund ebenso ausgedient wie der noch immer dominierende Jugendkult. Wenn Sie mit Ihren Produkten und Ihrer Werbung ältere Menschen glaubhaft erreichen wollen, müssen Sie versuchen, sie in die Lebenszusammenhänge der jüngeren zu integrieren, ohne sie zu zwingen, sich jünger zu machen, als sie sind. Seniorenreisen und Seniorenteller werden abgelehnt, sie zementieren in der Sicht alter Menschen die immer wieder auftauchende Ghettoisierung. Stattdessen ist von Ihnen ein generell verbraucherfreundlicheres Produktdesign gefragt - das auch Jüngeren zusagen dürfte - und eine Ansprache, die die tatsächliche Gemütslage der Senioren trifft und nicht überkommene Klischees. Hierbei müssen Sie beachten, dass zwar die Anzahl der in Einpersonenhaushalten lebenden Alten zunimmt, diese aber in der Mehrzahl keineswegs einsam sind, sondern häufig eine Vielzahl sozialer Kontakte zu allen Altersgruppen pflegen. Auch die Pflegebedürftigkeit ist eine grosse Ausnahme, nur 5 % sind davon betroffen. Werbung, die ältere Menschen in ihrer wirklichen Situation zeigt und dabei Produkte und Dienstleistungen anbietet, die nicht Bedürftigkeit, sondern die tatsächlichen Bedürfnisse befriedigt, ist deshalb notwendig.
„90 Prozent halten die Werbung für jugendorientiert und interessieren sich nicht dafür.“
Die Kaufinteressen der Älteren erstrecken sich über eine breite Spanne von Produkten, die häufig nicht oder nicht in erster Linie für sie entworfen sind. Mit relativ neuen Geräten wie Mikrowelle, CD-Spieler oder Computer sind Seniorenhaushalte bisher noch geringer ausgestattet als die der Jüngeren. Ein hohes Interesse besteht an Heimwerken, Gartenarbeit, Wandern, Reisen, Fotografie, Produkten für Kinder und Enkel (z. B. Spielzeug), Sport, Vereinsleben, sozialem Engagement und Geldanlagen. Nicht zuletzt Mode und Kosmetik haben einen hohen bis sehr hohen Stellenwert. Teilgruppen der 50- bis 69-Jährigen besitzen eine höhere Modeorientierung als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Schliesslich sind langlebige Gebrauchsgüter wie Autos und Möbel gefragt. Generell gilt, dass Ältere mehr auf Qualität und Marke als auf den Preis achten.
„Die Älteren fühlen sich als eine ‚unsichtbare’ Generation; auf eine derartige Werbung reagieren sie nicht.“
Spezielle Produkte und Dienstleistungen für alte Menschen könnten sein:
- Reise- und Freizeit mit Gesundheits- und Fitnessprogrammen, auch zur Vorbeugung von Alterserscheinungen, mit geistig-kulturellen Inhalten, zur Fortbildung und Förderung sozialer Kontakte.
- Produkte zur Verstärkung eines positiven Selbstbildes, z. B. moderne, aber bequeme und passende Kleidung, Kosmetik, Beratungsprogramme zur Auffrischung der äusseren Erscheinung und Ernährungsberatung.
- Bedienungsfreundlich gestaltete Produkte: manuell einfach zu bedienende technische Geräte, intelligente Hilfsmittel zur Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten, z. B. Dosenöffner oder Korkenzieher, die ohne Geschicklichkeit und Kraft zu bedienen sind.
- Verpackungen: leicht zu öffnen, lesbar auch ohne Brille, in kleinen Mengen für Einpersonenhaushalte.
„Die neuen Senioren wollen keine Inline-Skates mit Stützrädern, sondern Sinn- und Serviceangebote rund um die Uhr.“
Oft mangelt es an derartigen Angeboten, und diejenigen Produkte, für die sich Ältere genauso interessieren wie Jüngere, sind in Werbung und Design nur auf Letztere ausgerichtet.
Werbung für Senioren
Vermutlich hat die Vernachlässigung der Senioren in Produktdesign und Werbung auch psychologische Gründe. Die meist sehr jungen Kreativen in den Werbeagenturen können sich nur schwer in die Situation älterer Menschen hineinversetzen, und die Produktmanager in den Unternehmen dürften Scheu haben, dies zu tun, da sie sich dadurch möglicherweise an zukünftige eigene Defizite gemahnt fühlen. So unterscheidet sich das Selbstbild der Senioren von ihrem Fremdbild, das Agenturen und Werbetreibende von ihnen haben, erheblich. Während nur 49 % der über 50-Jährigen meinen, sich nicht mehr so sehr an aktuellen Trends zu orientieren, glauben das über drei Viertel der Agentur-Mitarbeiter. Nur 31 % der Älteren glauben, ihre Altersgenossen seien Neuem gegenüber weniger aufgeschlossen. Agenturen und Werbetreibende glauben dies zu 61 %.
„Dass Ältere generell nichts von Markenwechsel und Innovationen halten sowie nicht gerne Neues ausprobieren würden, ist eine Legende.“
Auch die Mediennutzung von Senioren und ihre Einstellung zur Werbung sollte alle Werbetreibenden ermutigen, sich dieser Zielgruppe zu widmen. Allein der Fernsehkonsum der Älteren ist überdurchschnittlich. Im Jahr 1998 gaben rund 43 % der über 70-Jährigen an, täglich vier Stunden und mehr fernzusehen. Bei der Gesamtbevölkerung ab 14 Jahren sind dies nur 22 %. Auch als Informationsquelle und hinsichtlich der Glaubwürdigkeit dominiert das Fernsehen bei den Älteren, gefolgt von Tageszeitungen und Radio.
„Der Begriff ‚Senioren’ ist negativ besetzt. Diese Zielgruppe(n) möchte(n) nicht über das Alter, sondern über positive Attribute angesprochen und ins Träumen gebracht werden.“
Der hohe Fernsehkonsum der Älteren bedeutet jedoch nicht, dass sie der Fernsehwerbung gegenüber überdurchschnittlich aufgeschlossen wären. Im Gegenteil: Oft herrscht erhebliche Skepsis, die sie jedoch mit anderen Altersgruppen teilen. Sie machen also in dieser Hinsicht keine Ausnahme, nehmen jedoch die Fernsehwerbung intensiver wahr als andere, da sie nicht gleich "wegzappen". Und die kritische Einstellung gegenüber der Fernsehwerbung ist nicht grundsätzlicher Natur. Häufig lehnen sie die Fernsehwerbung nur ab, weil sie zu jugendorientiert ist und ältere Menschen nicht glaubhaft, gelegentlich sogar abwertend darstellt. Pflegefälle für das Altersheim, strickende Grossmütter oder schrille Alte haben mit der Lebenswirklichkeit der Senioren nur sehr wenig zu tun. Gefordert ist also eine Werbung, die authentische Eindrücke vermittelt und Produkte anbietet, die den Bedürfnissen älterer Menschen angepasst sind. Sie sind die Konsumentengruppe der Zukunft. Sollten Sie diese Gruppe vernachlässigen, laufen Sie Gefahr, erhebliche Marktpotenziale zu verschenken.