Der Kollaps
Der Untergang der einst renommierten US-Investmentbank Lehman Brothers wird heute als fester Bestandteil der Ereignisse gesehen, die im Herbst 2008 nicht nur New York erschütterten, sondern ihre Schockwellen rund um den Globus sendeten. Dabei war es weniger der Kollaps selbst als vielmehr das Drumherum und das Wie. Was ging damals schief? War der Zusammenbruch wirklich unvermeidlich? Und natürlich: Wer trägt die Schuld daran, dass weltweit Hunderte Milliarden an Werten vernichtet wurden? Einer, der damals mittendrin war und damit Teil jener schicksalhaften Ereignisse wurde, ist Lawrence G. McDonald, seinerzeit stellvertretender Leiter der Abteilung Handel mit notleidenden Anleihen und Wandelanleihen bei Lehman.
Ein Fuß in der Tür der Finanzindustrie
Als Eintrittskarte in die elitäre Welt der New Yorker Finanzjongleure diente McDonald seine Datenbank für Wandelanleihen, die er zusammen mit einem Kumpel aufgebaut hatte. Das wusste er aber Mitte der 90er, nachdem er sich in mehreren Finanzjobs mehr schlecht als recht durchgeschlagen hatte, noch lange nicht. Wandelanleihen sind komplexe Wertpapiere, die einiges an Beratungsbedarf erfordern – in den späten 90er Jahren, als das Internet erst im Kommen war, alles andere als eine leichte Materie, selbst für ausgebuffte Finanzprofis.
„Ich spürte, dass ich einen Riecher dafür hatte, frühzeitig kommende Katastrophen zu erkennen.“
Langsam, aber sicher zog McDonalds Internetunternehmen ConvertBond.com Aufmerksamkeit auf sich, vor allem nachdem er in einem geschickten Schachzug mit der einflussreichen CNBC-Moderatorin Kate Bohner angebandelt hatte. Von da an gab es kein Halten mehr: Die namhafte US-Investmentbank Morgan Stanley, die ihren Anleihenhandel ausweiten wollte, hatte als erstes Blut geleckt und übernahm im Herbst 1999 die Website inkl. ihrer Gründer – aber nur, um ConvertBond.com dann zugunsten einer hauseigenen Konkurrenzseite stillzulegen. McDonald aber hatte jetzt bei einer der größten Investmentbanken Amerikas einen Fuß in der Tür.
Wechsel zu Lehman
Morgan Stanley sollte sich nur als kurze Zwischenstation erweisen. Die Spekulationsblase, die im Jahr 2000 platzte, forderte ihre Opfer. So landete McDonald 2004 schließlich bei Lehman Brothers – ein früherer Weggefährte hatte ihm Einlass in dieses von vielen begehrte Finanzinstitut verschafft. Eine Einstiegsposition als Vizepräsident im Anleihenhandel, noch dazu mit seinem guten Bekannten als Vorgesetztem, war mehr, als er sich erhofft hatte. Konnte es noch besser kommen?
Von Lehman zu Fuld
Lehman Brothers wurde 1850 von den Lehman-Brüdern Henry, Emanuel und Meyer – ihrer Herkunft nach Viehhändler aus Bayern – gegründet. Das Finanzinstitut erlebte seinen größten Schub unter Bobbie Lehman, der 1969 verstarb. In den nächsten Jahrzehnten entbrannten Streitereien um die „Thronfolge“. Aus diesen Machtkämpfen ging schließlich jener Manager hervor, der Lehman Brothers im Herbst 2008 vorstand und dem später viele die Schuld am Desaster gaben: Richard Fuld. Sein Hauptquartier lag im 30. Stock des sündhaft teuren Lehman-Gebäudes, das in bester Lage Manhattans, in der Nähe des Times Square, stand. Normale Angestellte, so das Gerücht, bekamen den Alleinherrscher u. U. während der gesamten Zeitspanne ihrer Anstellung nie zu sehen. Fuld traf morgens an einem separaten VIP-Eingang ein, wo ein nur für ihn reservierter Fahrstuhl ohne lästige Zwischenhalte den 30. Stock ansteuerte – beste Voraussetzungen also, um den sprichwörtlichen Bodenkontakt komplett zu verlieren.
„Bei Lehman hatten die Abteilungen beständig die Räume zu wechseln, damit es sich bloß niemand irgendwo gemütlich machte.“
Fuld, der bereits als Collegeabgänger einen harten, aber raschen Aufstieg innerhalb der Bank vollzogen hatte, mied die niedrigen Ränge wie der Teufel das Weihwasser. Wenn einer der Händler durch zu viel Intelligenz auffiel, war das der beste Weg, um das Missfallen des Obersten zu wecken – eine Gefahr, die viele, auch wichtige Schlüsselpersonen innerhalb Lehmans, zu vermeiden suchten. Um Fulds Handeln in den Jahren 2007/08 zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass sein früherer Mentor in der Firma auf unschöne Art und Weise herausgemobbt wurde – ein Schicksal, das ihm selbst nicht widerfahren sollte. Deshalb lehnte er einen starken Stellvertreter stets rigoros ab.
Die Erfindung des modernen Füllhorns
Die Hypothekenleute von Lehman avancierten in den Jahren des US-Immobilienbooms angesichts traumhafter Gewinnmargen sehr schnell zu den Lieblingen des 30. Stocks. Während sich Händler sonst für jeden ihrer Trades abmühen mussten, schien den Hypothekenstrukturierern das Geld geradezu auf den Schreibtisch geschaufelt zu werden. Gerüchten zufolge soll Fuld sogar einige Male persönlich mit ihnen gesprochen haben – es gab keine höhere Weihe als diese, jedenfalls nicht bei Lehman.
„Die allgemeine Aufklärung im Hause hatte erbracht, dass zu viel Klugheit der einfachste Weg war, Fulds größtes Missfallen zu erregen, denn damit war seine Macht gefährdet.“
Außerhalb der glitzernden New Yorker Fassaden wurde derweil der Grundstein für die Hypothekenmisere gelegt: Eigenkapital beim Hauskauf? Fehlanzeige. Job, regelmäßiges Einkommen oder sonstige Sicherheiten? Nicht erforderlich. Die Mittelsmänner erhielten ohnehin ihre Provision, direkt nach Abschluss. Da interessierte es auch nicht weiter, dass manche der unglückseligen neuen Eigenheimbesitzer nicht einmal lesen und schreiben konnten – aber offenbar befugt waren, einen Hypothekenvertrag über sechsstellige Summen zu unterschreiben. Die Hypothekenverträge wurden u. a. von Lehman Brothers gekauft. Die Bank bündelte sie zu „verbrieften Wertpapieren“, ließ ihnen von Ratingagenturen ein Gütesiegel ausstellen und verkaufte sie dann in alle Welt mit exorbitanten Gewinnen. Lehman und die anderen Banken waren im Besitz des modernen Füllhorns namens „Finanzmarktinnovation“. Lange Zeit gab es keine Verlierer, nur Jubel, Gewinne und steigende Hauspreise, die den Normalbürger nicht selten zum Millionär machten, wenn auch nur auf dem Papier.
Abgeblitzt
Im Hause Lehman erkannten einige wenige, dass die zunehmende Exposition auf dem US-Immobilienmarkt die Firma früher oder später gefährden könnte. Das jedenfalls notierten Starhändler wie Larry McCarthy, Michael Gelband und Alex Kirk. Irgendwann schlossen sie einen Bund, um nötigenfalls gegen die Konzernspitze zu meutern – nicht um ihrer selbst, sondern um des Überlebens von Lehman willen. Gelband schaffte es sogar, seine Skepsis hinsichtlich des US-Häusermarkts persönlich bis in den 30. Stock zu Fuld und Joseph Gregory, dem leitenden Geschäftsführer, zu tragen. Mit dem Verweis auf diejenigen, die bei Lehman immerhin die größten Gewinne einfuhren, kassierte er eine Klatsche erster Kategorie: Er denke „zu konservativ“.
Die Hypothekenbombe tickt
Derweil taten diejenigen Lehman-Händler, die nicht der lukrativen Hypothekenverbriefungsabteilung angehörten, genau das, was sie ihrer Überzeugung nach tun mussten: Sie machten aus der Not eine Tugend und fuhren aus der ab 2006 aufkommenden Misere der US-Hypothekenbranche Gewinne ein, indem sie auf fallende Aktienkurse wetteten. Auf Lehmans Händleretage machte sich offenbar längst eine neue Sicht der Realität breit, als Fuld und Co. in ihrem Elfenbeinturm immer noch die schönen Gewinne der fetten Jahre zählten, aber nicht mitbekamen, wie sich der Boden unter ihren Füßen aufzulösen begann. Denn irgendwann gab es keine Abnehmer mehr für die so pfleglich geschnürten Hypothekenpakete – und Lehman als Mittler blieb auf immensen Positionen im Eigenbestand sitzen.
„Anfang der 80er Jahre gab es in den alten Finanzhäusern New Yorks noch so etwas wie Anstand oder Kaufmannsgeist. Den muss man aber schon von Zuhause mitbringen, was bei Fuld nicht der Fall war. Was ihn antrieb, war unverhohlene, nackte Gier.“
Noch schlimmer: Die Firma hatte in einem Anflug fataler Betriebsblindheit sogar Hypothekenfinanzierer übernommen, um die Wertschöpfungskette vollständig ins eigene Haus zu holen – natürlich genau auf der Spitze des Booms. Wie sich dann herausstellte, hatte man eine nun nicht mehr abreißende Verlustkette gekauft. Plötzlich war der Notausgang verstopft.
Gezeitenwende mit Ankündigung
Auch in Lehmans Geschäftszahlen begann sich die Gezeitenwende niederzuschlagen. Als börsennotiertes Unternehmen musste Lehman turnusmäßig einmal im Quartal Rede und Antwort stehen. Das fiel zunehmend schwer, denn zurückgehende Gewinne – oder gar Verluste – waren bis dahin unerhört. Finanzvorstand Chris O’Meara parierte Kreuzverhöre von Analysten und Journalisten mit vorbereiteten und verschnörkelten Ausführungen.
„Es gibt immer die drei Is. Zuerst den Innovator, dann den Imitator, dann den Idioten.“
Doch dann begann ein Fehler den anderen zu jagen: Das Management kaufte eigene Aktien zurück, sozusagen als Vertrauensbekundung. Natürlich zur Unzeit, zu Höchstkursen und mit geliehenem Geld. Keine Aufsichtsbehörde gebot den realitätsfernen Plänen der Managementspitze Einhalt. Was nicht weiter erstaunlich ist: Neun der zehn Mitglieder des Verwaltungsrats waren Ruheständler, vier davon 75 Jahre oder älter. Es war weit und breit niemand da, der beispielsweise Mark Walsh, Chef für Beteiligungen an gewerblichen Immobilien und Fulds ausgesprochener Günstling, hätte zurückpfeifen können, als er Lehman-Geld – und jede Menge geliehenes obendrauf – für Immobilienfinanzierungen zu Mondpreisen aus dem Fenster schleuderte.
„Wenn du dich an einen Pokertisch setzt, dann schau dich gründlich um, wer der Dumme ist. Wenn du ihn nicht findest, bist du es wahrscheinlich selbst.“
Richard Fuld versuchte beständig, zu den Branchen-Primadonnen wie Goldman Sachs oder dem zu dieser Zeit extrem erfolgreichen Hedgefonds Blackstone aufzuschließen – mit welchen Mitteln auch immer. Ab etwa Anfang 2007 begannen sich die klügsten Lehman-Köpfe abzusetzen. Die Firma verlor innerhalb weniger Tage mehrere Managing Directors. Eine Ära ging zu Ende. Derweil hatte sich der Hebel von Fremd- zu Eigenkapital auf das über 30-Fache hochgeschraubt (später gar auf das 44-Fache), d. h. auf jeden eigenen Dollar in der Lehman-Bilanz kamen mehr als 30 geliehene.
Das Ende der Wall Street, wie wir sie kannten
Anfang 2008 brach Bear Stearns, eine der größten US-Investmentbanken, zusammen. Die Umstände waren, wie sich später herausstellen sollte, jenen des Falls Lehman äußerst ähnlich. Allerdings konzertierte US-Finanzminister Hank Paulson eine gewagte Rettungsaktion, die Bear Stearns in die Obhut der sehr viel größeren JP Morgan verfrachtete. Für etwaige Risiken würde die US-Notenbank geradestehen – ein zuvor nie gekannter Präzedenzfall.
„Fuld brüllte los, um die Leute einzuschüchtern, so als wolle er sie durch Angst dazu zwingen, keine Verluste mehr zu machen.“
Schon bald sollte das Henkersbeil auch auf den Nacken von Lehman Brothers niedersausen. Eine von den Managing Directors angeführte Palastrevolte hatte keine weiteren Konsequenzen als einen Wechsel auf dem Posten der Nummer zwei neben Konzernlenker Fuld alias „König Richard“. Der brüllte in einer Sitzung: „Schluss mit den Scheißverlusten“, so als ob er ein Ende des Kapitalabschmelzens durch bloße Willenskraft hätte verordnen können. Ein noch eiligst anberaumtes Geschäftsessen mit Finanzminister Paulson endete im Eklat – Gerüchten zufolge soll damit das Schicksal des Traditionshauses besiegelt gewesen sein.
„Die Miene von Finanzminister Paulson verdüsterte sich, und wahrscheinlich war Lehmans Schicksal in diesem Moment besiegelt.“
Lawrence G. McDonald verlor wie viele andere im März 2008 seinen Job bei Lehman Brothers. Als es im Herbst des gleichen Jahres darum ging, einen Käufer für Lehman zu finden oder aber – wie zuvor bei Bear Stearns – staatliche Unterstützung zuzusichern, tat Paulson nichts dergleichen. Damit war die Insolvenz beschlossene Sache.
„Lehman Brothers hatte den Bürgerkrieg überlebt, dazu zwei Weltkriege, nicht aber Richard Fuld.“
Was erschütterte, war die Tatsache, dass das Unternehmen auf den Bankrott vollkommen unvorbereitet war. Diesen Fall hatte bis dahin niemand durchgespielt. Plötzlich standen nicht bedienbare Forderungen von mehr als 600 Milliarden US-Dollar im Raum. Lehman Brothers war Geschichte. Es mutete Fuld wie eine böse Verschwörung an, dass noch in derselben Woche der angeschlagene Finanzdienstleister AIG – zu dem Zeitpunkt der weltgrößte Versicherer – vom Finanzminister mit milliardenschweren Liquiditätsspritzen vor dem Untergang gerettet wurde.