Masse - Mensch

Buch Masse - Mensch

Ein Stück aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts

Potsdam, 1921
Diese Ausgabe: Reclam,


Worum es geht

Pazifisten haben es schwer in der Revolution

Frustrierte Arbeiter, revolutionäre Aufwiegler, geldgeile Kriegs­gewinnler und angepasste Staats­di­ener: Ernst Toller bringt in Masse - Mensch das ganze Chaos der Revolution auf die Bühne. Die Handlung des Dramas ist schnell erzählt: Die paz­i­fistis­che In­tellek­tuelle Sonja Irene L. wird unverhofft Anführerin eines Ar­beit­er­auf­s­tands, die Geschehnisse geraten jedoch außer Kontrolle. Ein Namenloser peitscht die Massen auf, statt zum Streik kommt es zur Revolution. Sonjas Eintreten für Gewalt­losigkeit ist hoff­nungs­los. Sie bezahlt ihre Integrität mit dem Leben: Um das Leben einer einzelnen Wache zu verschonen, lässt sie sich an die Wand stellen. In ex­pres­siv-pa­thetis­cher Manier und einer aufs Äußerste reduzierten Sprache schildert Toller das große revolutionäre Dilemma anhand eines Einzelschick­sals. Dringlichkeit und De­sil­lu­sion­ierung halten sich die Waage, eines jedoch wird klar: Die Revolution verwandelt sich in das Unrecht, das sie doch abschaffen wollte. Pazifist und zugleich Revolutionär zu sein, muss jeden in die Verzwei­flung treiben.

Take-aways

  • Masse - Mensch ist das bekannteste Werk des deutschen Dramatikers Ernst Toller.
  • Inhalt: Die paz­i­fistis­che In­tellek­tuelle Sonja Irene L. ruft die Ar­beit­er­massen zum Streik auf, ein Namenloser jedoch zur Revolution. Sonja kann sich mit ihrer Men­schlichkeit gegen die entfesselte revolutionäre Wut nicht durchsetzen und bezahlt für ihre Haltung mit dem Leben.
  • Masse - Mensch zeigt ex­em­plar­isch das Grund­dilemma jeder Revolution: die Un­vere­in­barkeit des hehren Ziels mit den ver­w­er­flichen Mitteln.
  • Die meisten Figuren in Masse - Mensch sind anonym und gesichtslos, sie sind allein durch ihre Funktion bestimmt.
  • Mit der Figur der Sonja Irene L. setzte Toller der linken Aktivistin Sonja Lerch ein lit­er­arisches Denkmal.
  • Mit Masse - Mensch ve­r­ar­beit­ete er auch seine eigene Rolle als Politiker in der Münchner Räterepublik 1919.
  • Nach Nieder­schla­gung der Räterepublik entging Toller dank der Fürsprache des Soziologen Max Weber der Todesstrafe.
  • Masse - Mensch schrieb er während seiner fünfjährigen Fes­tung­shaft.
  • Toller dis­tanzierte sich später von seinem Stück, da er während der Abfassung die his­torischen Ereignisse noch nicht genügend verarbeitet hatte.
  • Zitat: „Die einen morden für ein Land, / Die andren für die Länder alle.“
 

Zusammenfassung

Erstes Bild – Revolutionäres Brodeln

Im Hin­terz­im­mer einer Ar­beit­er­wirtschaft sitzt Sonja Irene L. mit einer Gruppe Arbeiter zusammen. Der folgende Tag soll einen Masse­nauf­s­tand bringen. Sonja ist bereit und fiebert dem Moment entgegen, da Worte endlich zu Taten werden. Die Massen befreien sich vom Diktat der wohlgenährten Bürokraten und Schreibtis­chtäter, sie folgen der roten Fahne des Aufbruchs in eine neue Ära. Als Sonja fragt, wer denn diese Fahne vorantragen solle, weist ein Arbeiter ihr diese Aufgabe zu, denn die Massen würden sich ihr anschließen. Sonja fürchtet Polizei und Militär, doch der Arbeiter versichert ihr, dass die Polizei der Menge unterlegen sein wird und dass sich die Sol­daten­reg­i­menter sogar auf die Seite der Streikenden geschlagen haben. Als es klopft, fürchten die Arbeiter dennoch, verraten worden zu sein.

„Bin ich es noch, die Streik verkünden wird? / Mensch ruft Streik, Natur ruft Streik!“ (die Frau, S. 11)

Es ist ein Mann, der zu Sonja will. Er kommt heimlich, grüßt verschämt und möchte nicht vorgestellt werden. Sie nennt ihn einen Freund und schickt die Arbeiter weg, dann erst spricht der Mann offen mit ihr. Es ist ihr Ehemann, ein Beamter. Sonjas politische Aktivitäten sind eine Gefahr: Weil man in seiner Behörde von ihren Umtrieben weiß, ist seine Karriere bedroht. Er appelliert an ihre Rücksicht und ihr Taktgefühl und legt dar, dass sie sich auch in gesellschaftlich akzept­ablerer Weise sozial engagieren könnte. Doch sie findet das soziale Engagement der Bourgeoisie eitle Au­gen­wis­cherei. Sie habe sich ihr Schicksal nicht bewusst ausgesucht, sondern sei aus humanitärem Zwang dazu gekommen. Er findet das unglaubwürdig, doch sie hat sich das Los der Arbeiter, deren Erniedri­gung durch die Bourgeoisie, ihre eigene Klasse, zu eigen gemacht und sich ganz der pro­le­tarischen Sache ver­schrieben.

„Staat ist heilig … Krieg sichert Leben ihm. / Friede ist Phantom von Ner­ven­schwachen.“ (der Mann, S. 16)

Ihr Mann kündigt die Scheidung an. Sonja ist tief betroffen, denn sie liebt ihn aufrichtig. Sie nimmt die Schuld auf sich. Nach einem schwachen Moment fängt sie sich wieder. Sie gibt ihm zwar Recht, wird aber dennoch am nächsten Tag vor den Massen stehen und den Staat, den ihr Mann vertritt, entlarven. Er wirft ihr Verrat vor, sie entgegnet, sein Staat habe vielmehr das Volk verraten. Ihm ist der Staat heilig, sie sieht in ihm ein verpestetes, korruptes, mörderisches Gebilde. So steht Wort gegen Wort. Schließlich ver­schwinden die beiden dennoch gemeinsam in der Dunkelheit.

Traumbild – Die Kriegs­gewinnler

Im Börsensaal sitzen Bankiers und Makler zusammen, ein Schreiber trägt die Gesichtszüge von Sonjas Mann. Die Bankiers spekulieren mit Kriegsgütern. Außerdem wetten sie darauf, dass die große Offensive an der Westfront misslingen muss. Sie spekulieren über die Moral der Truppe und sehen in einem staatlichen Großbordell, getarnt als Er­hol­ung­sheim, eine rentable In­vesti­tionsmöglichkeit. Zwei der Banker zeichnen sofort 100 000 Aktien. Es geht um Profit und Dividende, man redet über Bilanzen und Fehlerquellen, während die Schlacht an der Westfront verloren geht. Die Aktien von Waf­fen­werken verlieren abrupt an Wert, Flam­men­wer­fer, Gift­gaswerke und Kriegsan­lei­hen werden zu Ladenhütern. Sonja stößt zu der Gruppe und verweist darauf, dass es doch um Men­schen­leben geht, worauf jähe Stille eintritt. Es hat ein Grubenunglück gegeben – ein Bankier, der soeben 100 000 Bor­del­lak­tien gezeichnet hat, spendet eine der Aktien zu wohltätigen Zwecken und regt eine Wohltätigkeitsver­anstal­tung mit Tanz an. Daraufhin tanzen die Bankiers einen Foxtrott um das Pult, auf dem sie soeben ihre Geschäfte gemacht haben.

Drittes Bild – Ein Krieg für den ewigen Frieden

Im Dunkeln singt von Weitem ein gewaltiger Chor und stellt Fragen nach Liebe, nach Erfüllung, nach Erlösung. Eine Gruppe junger Ar­bei­t­erin­nen beschreibt die un­men­schlichen Ar­beits­be­din­gun­gen in der Waf­fenin­dus­trie, Schilderun­gen von solcher Brutalität, dass Unmut im Saal aufkommt. Sonja spricht und macht den Menschen klar, dass Krieg und In­dus­tri­al­isierung nicht mehr zurückgedreht werden können, sondern ein integraler Bestandteil des 20. Jahrhun­derts sind. Würde man die Fabriken zerstören, sie schössen wie Pilze wieder aus dem Boden. Man müsste es vielmehr schaffen, dass sie dem Menschen dienen, im Sinne eines würdigen Lebens; dass menschliche Bedürfnisse die Fabriken beherrschen und nicht andersherum. Die Masse im Saal reklamiert die Erde für alle. Sonja weist den Pro­le­tari­ern den Ausweg: Streik. Sie sollen ihre Schwäche in Stärke verwandeln, keinen Handschlag mehr tun, sich gewaltlos aus ihren Ketten befreien. Wer weiter in den Rüstungs­fab­riken arbeite, verrate, nein: töte den eigenen Bruder.

„Maschinen pressen uns wie Vieh in Schlachthaus, / Maschinen klemmen uns in Schraub­stock, / Maschinen hämmern unsre Leiber Tag für Tag / Zu Nieten … Schrauben …“ (Ar­bei­t­erin­nen, S. 25)

In dem Moment, da die Masse im Saal lautstark nach Streik verlangt, tritt ein Namenloser auf die Tribüne und sabotiert Sonjas Bemühungen. Das sei alles schön und gut, aber Streik sei wie eine Brücke, der die Pfosten fehlten. Streik verschaffe nur eine Ruhepause vom Krieg, setze ihm aber kein Ende. Damit der Krieg ein für alle Mal vorbei sei, müsse es einen gewaltsamen Ausbruch geben: nicht Streik, sondern Krieg, Krieg gegen „Monsieur Kapital“, Macht gegen Macht, Gewalt gegen Gewalt – Revolution. Der Namenlose peitscht die Massen im Saal auf, bis sie nach Waffen rufen. Sonja versucht verzweifelt, sich Gehör zu verschaffen. Sie will neues Morden und Sterben verhindern, doch der blutrünstigen Rev­o­lu­tion­sstim­mung kann ihr Pazifismus wenig ent­ge­genset­zen. Ihre Herkunft aus der Bourgeoisie schmälert dazu ihre Glaubwürdigkeit. Die Menschen sprechen dem Namenlosen nach, dass Masse Schicksal, Führung, Kraft und Tat bedeute. Ein einziger blutiger Kampf und danach ewiger Frieden – heiligt nicht dieser Zweck alle Mittel? Der Namenlose beschwört die endgültige Befreiung aller Völker und fordert Sonja auf, um der Sache willen zu schweigen. Sie gibt nach und ergibt sich dem Diktat der Masse. Der Namenlose hat damit die Schleusen der Revolution geöffnet, die Masse stürmt taten­durstig aus dem Saal.

Traumbild – Tanz der Todgewei­hten

In einem ummauerten Hof tauchen aus dunklen Ecken Ar­beit­erwachen auf, die Lieder von pro­le­tarischer Trost­losigkeit singen. Der Namenlose wird von den Wachen an der Parole „Masse ist namenlos!“ als einer der Ihren erkannt. Er hat eine Entschei­dung zu verkünden. Ein Verurteil­ter tritt mit einem Strick um den Hals aus dem Dunkeln und beginnt einen gespen­stis­chen Totentanz, während der Namenlose dazu Harmonika spielt. Dann ruft der Verurteilte seine ebenfalls dem Tod geweihten Kameraden aus der Dunkelheit hervor. Mit ihnen und den Ar­beit­erwachen tanzt er im Reigen um den Namenlosen herum. Als ein Wachmann mit Sonja durch die Mauer tritt, bricht der Tanz abrupt ab. Ein Gefangener trägt die Gesichtszüge ihres Mannes. Weil er als Staats­di­ener auf die Revolutionäre geschossen hat, ist er nun zum Tode verurteilt. Sonja fällt den Todesschützen in den Arm und bittet um das Leben ihres Mannes. Es entspinnt sich ein grundsätzliches Streitgespräch zwischen Sonja, dem Namenlosen und den Wachen, ob Vergeben Größe oder Feigheit sei, ob die Masse oder der Mensch Vorrang habe. Für das Leben ihres Mannes würde sie sich allen hingeben. Die Wachen lachen hämisch. Sonja stellt sich neben ihren Mann und sagt: „Schießt!“

Fünftes Bild – Revolution und Gewalt

Im Saal sitzen sich Sonja und der Namenlose gegenüber. Sie erhalten die Nachricht, dass eine Sol­daten­gar­ni­son gegen die Räterepublik putscht; Bahnhof und Postgebäude sind besetzt. Für Sonja hat der gewalttätige Ausbruch die Sache verraten. Sie sieht im bewaffneten Kampf eine Verge­wal­ti­gung – was der Namenlose zurückweist, denn auch der Kampf mit „Geis­teswaf­fen“, mit Worten, sei Verge­wal­ti­gung. Ein Arbeiter bringt die Meldung, dass der Bahn­hofsvor­platz von Toten übersät sei, was Sonja arg zusetzt: Tags zuvor noch redete sie gegen die Gewalt an und muss nun zulassen, dass Menschen zu Tode kommen. Auch das lässt der Namenlose nicht gelten: Bisher versklavt, würden die Arbeiter in diesem Krieg als freie Menschen kämpfen. Für Sonja macht das keinen Unterschied: Ob frei oder versklavt, es sind immer Men­schen­leben, um die es geht, und Krieg ist Krieg. Der ganze Bezirk ergibt sich, die Kämpfer geben ihre Waffen ab, die Stadt ist verloren. Der Namenlose gebietet Sonja zu schweigen, um die Moral nicht zu zersetzen. Eine verlorene Schlacht sei kein verlorener Krieg. Ein weiterer Arbeiter stürmt entsetzt in den Saal: Draußen findet ein furchtbares Gemetzel statt, er hat seine Frau und seinen Vater verloren. Der Namenlose antwortet ungerührt, sie seien für die Masse gestorben. Ein in­di­vidu­elles Schicksal sei nichts im Vergleich zum Los der Masse.

„Fabriken dürfen nicht mehr Herr, / Und Menschen Mittel sein. / Fabrik sei Diener würdigen Lebens! / Seele des Menschen bezwinge Fabrik!“ (die Frau, S. 26)

Ein Arbeiter klagt: Auf den Schlacht­feldern galt wenigstens noch das Völkerrecht, doch in diesem Bürgerkrieg werden die Proletarier wie Vieh hingemet­zelt. Der Namenlose und Sonja stehen sich unversöhnlich gegenüber. Während nach seiner Meinung die Masse Rache nimmt für jahrhun­dertealtes Unrecht, sieht Sonja in der Masse Liebe, Gemein­schaft und Gerechtigkeit. Sie fragt, ob der Namenlose Mörder oder Heils­bringer sei, worauf der nur entgegnet, er sei die Masse selbst. Sie bittet ihn inständig, der Gewalt Einhalt zu gebieten, worauf er sie des Verrats bezichtigt und sie als In­tellek­tuelle an die Wand stellen lassen will. Von draußen bringen Arbeiter die Nachricht, dass der Kampf verloren ist, man hört Schüsse. Einer der Arbeiter beginnt, die In­ter­na­tionale zu singen, die anderen stimmen mit ein, und es erhebt sich ein mächtiger Gesang. Dann stürmen Soldaten in den Saal. Sie nehmen Sonja als Anführerin fest und führen sie ab.

Traumbild – Schuld durch Unterlassen

Eine Frau, au­gen­schein­lich Sonja, sitzt gefesselt in einem Käfig. Schat­tengestal­ten ohne Kopf suchen sie heim, bezeichnen sie als Mörderin. Sie beteuert, nicht schuldig zu sein. Sie wollte kein Blutvergießen. Die Schatten werfen ihr vor, beim Sturm aufs Stadthaus und beim Waffenraub geschwiegen und Schuld durch Unterlassen auf sich geladen zu haben. Um die einen zu schützen, habe sie die anderen geopfert. Schuldig sei sie, dreimal schuldig. Sie nimmt diese Schuld auf sich, woraufhin die Schatten ver­schwinden. Da tauchen die Bankiers auf. Der erste bietet Schul­dak­tien an, die anderen höhnen, dass diese Aktien abzuschreiben seien, das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Sonja bezichtigt sich wieder selbst, und die Bankiers verblassen. Der Wärter nennt Sonja eine sen­ti­men­tale Törin, und die Masse der Gesicht­slosen antwortet ihr als dumpfes Echo. Sonja fragt: Schändete der Mensch Gott oder Gott den Menschen? Solange das Gesetz der Schuld in Kraft bleibe, müsse sich der Mensch darin verstricken. Daraufhin entlässt sie der Wärter aus dem Käfig, entscheidet jedoch nicht, ob sie wirklich frei sein soll oder nicht doch unfrei.

Siebentes Bild – Wer ist schuld an der Revolution?

Sonja sitzt in einer Gefängniszelle an einem Tisch. Sie träumt sich fort, in einen Som­mer­mor­gen in der Natur, eine Win­ter­wan­derung in den Bergen. Sie stellt sich ex­is­ten­zielle Fragen: Hat sie den Wunsch nach einem Kind verspürt? Der Zwiespalt zwischen der Liebe zu ihrem Mann und der politischen Sache macht ihr zu schaffen. Ihr Mann betritt die Zelle und berichtet ihr freudig, dass die Genossen nicht länger ihrer beider Namen beschmutzen dürften. Sie sei für die Erschießungen nicht ve­r­ant­wortlich. Sonja beweint ihre paradoxe Lage, schuldlos schuldig geworden zu sein, während er betont, dass sie einfach nur schuldlos sei. Die Begegnung der beiden wird zu einer Abrechnung darüber, ob das Proletariat oder das kap­i­tal­is­tis­che System schuld sei am Blutvergießen. Schließlich ve­r­ab­schiedet sie sich von ihm, sie hat ihn und sich selbst überwunden. Den letzten Weg muss sie allein gehen.

„Was gilt der Einzelne, / Was sein Gefühl, / Was sein Gewissen? / Die Masse gilt! / Bedenken Sie: ein einzger blutiger Kampf / Und ewig Frieden.“ (der Namenlose, S. 31)

Der Namenlose gratuliert ihr zur Bekehrung. Die Masse schicke ihn, sie zu befreien. Der Wärter, der nicht bestochen werden konnte, werde aus dem Weg geräumt, so der Plan. Damit steht Sonja vor einem Dilemma – ihr Leben oder das des Wärters. Aus der Sicht des Namenlosen steht hier Staats­men­sch gegen Massen­men­sch, und die Masse sei jedes Opfer wert. Sonja wider­spricht ihm entschieden: Gerade mit Blick darauf, wie die Masse entstanden sei, nämlich durch Unrecht, sei sie nicht heilig. Sie sieht keinen Unterschied mehr zwischen den kämpfenden Lagern: Die Masse mordet nicht anders als die Diener des Staates. Sie nennt den Namenlosen einen Bastard des Krieges, einen neuen Henker. Sonja kennt nur das Maß des Lebens, während die Revolutionäre mit zweierlei Maß messen. Für Sonja ist das revolutionäre Versprechen keine Verheißung, sondern die alte Sklaverei in neuem Gewand. Der Namenlose dagegen stellt die Ideologie über alles andere und spart seine Men­schlichkeit auf für die Künftigen, für die er die Gegenwärtigen zu opfern bereit ist.

„Die jenseits der Grenzen schützte Völkerrecht, / Uns meucheln sie wie aus­ge­brochne, wilde Tiere (…)“ (Arbeiter, S. 40)

Sonja weiß, dass sie die Massen verraten würde, wenn sie das Leben auch nur eines einzelnen Menschen opferte. Für sie gibt es keinen Ausweg. Alles: Gott, Staat und auch Masse sind zum Moloch geworden. Eins ist wie das andere. Einem Priester beteuert sie ihren Glauben. Schließlich tritt ein Offizier ein, um sie abzuführen. Wenig später ist von draußen eine Gewehrsalve zu hören.

Zum Text

Aufbau und Stil

Masse - Mensch ist ein Drama in sieben „Bildern“. Der Untertitel „Ein Stück aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhun­derts“ betont, durch die Dop­peldeutigkeit des Wortes „Stück“, das Frag­men­tarische daran. Masse - Mensch folgt nicht der klassischen fünfaktigen Form, sondern stellt eher eine freie Collage dar, in der einzelne Situationen nebeneinan­der montiert sind, aber nicht dra­matur­gisch aufeinander aufbauen. Das Irrationale und Gewaltsame wird präsentiert, nicht kommentiert. Die Bilder ergeben einen kalei­doskopis­chen Eindruck der Geschehnisse, aber kein schlüssiges Gesamtbild. Re­al­is­tis­che Szenen wechseln sich mit sogenannten Traum­bildern ab, die abstrakt und allegorisch bleiben und den Zuschauer durch den stilis­tis­chen Bruch immer wieder aus der Illusion des Stückes herausreißen. Die Personen sind anonym und gesichtslos, iden­ti­fiziert nur über ihre Funktion: „der Mann“, „die Arbeiter“ oder gar „der Namenlose“. Obwohl Toller mit der Figur der Sonja Irene L. der linken Aktivistin Sonja Lerch ein Denkmal setzt, wird sie im Stück immer nur „die Frau“ genannt. Die ver­schiede­nen Typen kennze­ich­net Toller über ihre Sprache: Die Kriegs­gewinnler äußern beispiel­sweise gierig Kurzsätze, während die Befehlsempfänger stupide Substantive aneinanderfügen. Toller hebelt die Logik der Sprache durch extreme Verkürzungen, syn­tak­tis­che Brüche und Um­stel­lun­gen aus.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Im Mittelpunkt steht das Dilemma einer jeden Revolution: Ein Erlösungsanspruch im Namen der Menschheit ist eigentlich mit Gewalt unvereinbar. Schon Karl Marx war bereit, buchstäblich über Leichen zu gehen – für den Pazifisten Toller eine in­akzept­able Haltung. Er stellt der kom­mu­nis­tis­chen Devise, dass der Zweck die Mittel heilige, sein unbedingtes Festhalten an der Men­schlichkeit entgegen. Seinem den Pro­le­tari­ern gewidmeten Drama stellt er ein ernüchterndes Motto voran: „Wel­trev­o­lu­tion. (…) Rot leuchtet das Jahrhundert. Blutige Schuld­fanale. Die Erde kreuzigt sich.“
  • Masse - Mensch ist ein Selb­stzeug­nis. Toller verarbeitet darin seine Erlebnisse während der Geschehnisse um die Münchner Räterepublik 1919 sowie das reale Schicksal der Politikerin Sonja Lerch. Das Dilemma ist sein eigenes: Als revolutionärer Politiker und paz­i­fistis­cher In­tellek­tueller befand er sich in einem unversöhnlichen Zwiespalt, der letztlich auch mit ein Grund für seinen Suizid gewesen sein mag.
  • Toller zeigt den Konflikt zwischen Individuum und Masse. Sowohl Kap­i­tal­is­mus wie auch Kommunismus zwingen den Einzelnen gewaltsam in kollektive Strukturen, in der in­di­vidu­elle Wertvorstel­lun­gen einfach übergangen und umgedeutet werden. Ein Men­schen­leben ist nichts mehr wert, weil nur noch das Recht der Masse gilt.
  • Toller zeigt sich in Masse - Mensch als Vertreter des Ex­pres­sion­is­mus. Nach dem Ersten Weltkrieg waren Krieg, großstädtisches Leben, der Verfall sozialer Strukturen und persönlicher Identität wichtige lit­er­arische Themen. Sie wurden mit einer radikal neuen Formsprache behandelt, die Ergebnis einer antiautoritären, an­ti­mil­i­taris­tis­chen und an­ti­na­tion­al­is­tis­chen Grund­hal­tung vieler In­tellek­tueller war.
  • Masse - Mensch ist ein Beispiel für sogenannte engagierte Literatur. Der politisch aktive Toller appelliert darin an die Massen, will die Menschen erreichen und bewegen. Damit erteilt er dem Ideal der reinen Kunst eine Absage. Künstlerische Ästhetik ist für ihn ein Mittel zum Zweck.

His­torischer Hintergrund

München – von der Räterepublik zur Hauptstadt der Bewegung

Der Erste Weltkrieg prägte Europa so nachhaltig, dass er in manchen Ländern auch heute noch „der große Krieg“ genannt wird. Anfängliche Kriegs­begeis­terung wich, angesichts der Brutalität und der riesigen Verluste auf den Schlacht­feldern, bald tiefer Ernüchterung. Als im Herbst 1918 Ver­hand­lun­gen über einen Waf­fen­still­stand konkret wurden, entluden sich die sozialen und politischen Spannungen in Deutschland in der sogenannten No­vem­ber­rev­o­lu­tion. Das Land stand unter Schock, viele Menschen waren in extreme Armut gestürzt. In Kiel meuterten Matrosen, die noch einmal in die Schlacht sollten, obwohl die Niederlage längst feststand. Der Aufruhr griff um sich. Am 9. November 1918 wurde in Berlin die Republik ausgerufen und damit die Monarchie in Deutschland abgeschafft.

Besonders be­merkenswert war diese Epochen­wende in Bayern, wo mit der Entmachtung von König Ludwig III. die Jahrhun­derte währende Herrschaft des Hauses Wittelsbach zu Ende ging. Die revolutionäre Bewegung in Bayern war heterogen und instabil. Durch das tödliche Attentat auf den sozial­is­tis­chen Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 21. Februar 1919 wurde sie in eine tiefe Krise gestürzt, die am 7. April 1919 mit der Ausrufung der Münchner Räterepublik nur scheinbar endete. Nach einem Putschver­such am 13. April übernahmen Kommunisten das Kommando. Ab Mitte April griffen rechte Freikorps die Münchner Republik an, verstärkt durch Re­ich­swehrverbände aus Berlin. Am 30. April verübten sie ein Massaker an re­pub­likanis­chen Rotarmisten und Zivilisten, Anfang Mai marschierten sie in München ein und setzten der Räterepublik ein gewaltsames Ende. Die führenden Mitglieder der Republik wurden hin­gerichtet oder zu langen Gefäng­nis­strafen verurteilt.

Während der Jahre der Weimarer Republik wandelte sich Bayern zum kon­ser­v­a­tiven Hort von Recht und Ordnung. Adolf Hitler machte 1923 mit einem ersten, zunächst noch erfolglosen Putsch von sich reden. Innerhalb weniger Jahre gelangte München, gerade noch linke Mod­ell­re­pub­lik, zu traurigem Ruhm als Hauptstadt der na­tion­al­sozial­is­tis­chen Bewegung.

Entstehung

Ernst Toller war mit der Münchner Räterepublik aufs Engste verbunden: als Vordenker, Politiker und Kämpfer. Er war einer jener paz­i­fistis­chen In­tellek­tuellen, die die erste, nur einwöchige Phase der Räterepublik prägten. Während der Angriffe rechts­gerichteter Freikorps auf München besiegte der vom Krieg trau­ma­tisierte Toller mit seinen Rot­gardis­ten am 16. April feindliche Verbände. Nach Nieder­schla­gung der Räterepublik entging er, dank der Fürsprache des bekannten Soziologen und Universitätspro­fes­sors Max Weber, der Todesstrafe und wurde zur ver­gle­ich­sweise geringen Strafe von fünf Jahren Fes­tung­shaft verurteilt. Masse - Mensch schrieb er im Oktober 1919 im Gefängnis. Zwei Jahre später gab er zu Protokoll, dass das Drama in nur zweieinhalb Tagen geradezu aus ihm her­aus­ge­brochen sei, die Übe­rar­beitung dann aber ein Jahr in Anspruch genommen habe.

Toller war tief berührt vom Schicksal der Politikerin Sarah Sonja Lerch. Diese war Mitgründerin der Münchner USPD gewesen und hatte gemeinsam mit Kurt Eisner im Januar 1918 einen Streik von Mu­ni­tions­fab­rikar­beit­ern organisiert. Deshalb wollte sich ihr Mann von ihr scheiden lassen, was er in einer Annonce kundtat, woraufhin sie sich am 30. März 1918 im Gefängnis das Leben nahm. Gemäß anderen Schilderun­gen war jedoch sie es, die die Scheidung wollte und die Suizid beging, um ihren Mann zu schützen. Im Beinamen der fiktiven Sonja, Irene (lateinisch für „die Friedliche“), spiegelt sich der Pazifismus Tolles.

Wirkungs­geschichte

Der Uraufführung des Stückes am 15. November 1920 vor Gew­erkschaftlern in Nürnberg konnte Toller nicht beiwohnen, da er im Gefängnis saß. Gedruckt lag das Werk 1921 vor, und im September des Jahres kam es in Berlin erstmals öffentlich auf die Bühne. Die Kritik reagierte eher verhalten. Im selben Jahr äußerte Toller selbst, dass er sich kritisch von dem Stück distanziere. Er sehe die „Bedingtheit der Form“. Die Unge­heuer­lichkeit der Revolution hatte er aus solcher Nähe zu den his­torischen Ereignissen nicht gänzlich verarbeiten können, er hatte sich noch im Gefühlschaos befunden und persönlich Erlebtes nicht mit den An­forderun­gen einer objektiven Darstellung in Einklang bringen können. Bis 1924 folgten 17 In­sze­nierun­gen des Stückes in acht Ländern. In der Weimarer Republik repräsentierte Toller die sogenannte engagierte Literatur, die über ihre Werke politische Wirkung entfalten wollte. Als in­haftierter Revolutionär wurde er zum Prototyp des linken In­tellek­tuellen. Im Na­tion­al­sozial­is­mus wurde er verfemt, seine Werke wurden verbrannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb er, zumindest in West­deutsch­land, vergessen. Erst das Theaterstück Toller, das der Autor und Regisseur Tankred Dorst 1968 in Stuttgart auf die Bühne brachte, entriss den Dramatiker Toller dem Vergessen.

Über den Autor

Ernst Toller wird am 1. Dezember 1893 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Samotschin (heute: Szamocin, Polen) in der Provinz Posen geboren. Nach dem Gymnasium studiert er 1914 im französischen Grenoble und meldet sich im August als Kriegs­frei­williger in München. Bereits als Kind nervös und sensibel erleidet Toller im März 1916 aufgrund seiner Kriegser­leb­nisse einen physischen und psychischen Zusam­men­bruch. Er studiert fortan Jura und Philosophie in München und Heidelberg, macht Bekan­ntschaft mit Autoren wie Rainer Maria Rilke, Thomas Mann und Max Weber. Als Redner beteiligt er sich an der Vor­bere­itung von Ar­beit­er­streiks und begegnet Kurt Eisner. 1918 wird er Mitglied der USPD und engagiert sich im Zentralrat der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Nach Ausrufung der Räterepublik wird er einer ihrer führenden Köpfe in Bayern. Im April 1919 legt er jedoch sein Kommando nieder, wird verhaftet und des Hochverrats angeklagt. Während seiner fünfjährigen Fes­tung­shaft erscheinen seine ersten Dramen Masse - Mensch (1921), Die Maschinenstürmer (1922) und Der deutsche Hinkemann (1923). Nach seiner Entlassung aus der Haft spricht Toller auf An­tikriegskundge­bun­gen und schließt sich 1926 der Gruppe revolutionärer Pazifisten an. Er zählt zur lit­er­arischen Prominenz und unternimmt zahlreiche Vor­tragsreisen im In- und Ausland. Nach der Machter­grei­fung der Nazis hält sich Toller zunächst im Exil in der Schweiz auf, später reist er nach Paris, London und schließlich in die USA. 1933 erscheint seine Au­to­bi­ografie Eine Jugend in Deutschland. 1935 heiratet Toller in London die Schaus­pielerin Christiane Grautoff. Er gilt als der bekannteste und er­fol­gre­ich­ste Dramatiker der Weimarer Republik und als einer der schärfsten Gegner der Na­tion­al­sozial­is­ten. Der Autor unternimmt Vor­tragsreisen und sammelt Hilfsgelder für die hungernde spanische Bevölkerung. Am 22. September 1939 nimmt sich der an De­pres­sio­nen leidende Toller, verzweifelt über die Erfolge des Faschismus, in New York das Leben.