Exit

Buch Exit

Wohlstand ohne Wachstum

Propyläen,


Rezension

Das Wach­s­tumspoten­zial ist ausgereizt. Dennoch müssen wir nicht auf Wohlstand verzichten, behauptet Meinhard Miegel. Allerdings müssen wir dazu Wohlstand und Leben­squalität umdefinieren und von den Finanzen entkoppeln. Uns bleibt gar keine andere Wahl, so der Autor. Zunächst hinterfragt Miegel die Ideologie des gren­zen­losen Wirtschaftswach­s­tums und untersucht die materiellen und psychischen Schäden, die sie anrichtet. In der zweiten Hälfte des Buches zeigt Miegel, wie wir unsere wichtigsten sozialen und persönlichen Lebens­bere­iche, wie etwa Arbeit, Alter, Migration, Sozialstaat und Bildung, neu ausrichten müssen, um den drohenden Niedergang unserer Gesellschaft abzuwenden. Dabei verfährt Miegel keineswegs sen­sa­tion­sheis­chend, sondern besticht in seinen dif­feren­zierten Überlegungen durch Ruhe und Sach­lichkeit. Allerdings bleiben seine Lösungsvorschläge oft ein wenig abstrakt; wie die konkrete Umsetzung, beispiel­sweise in Unternehmen, aussehen könnte, wird zu wenig klar. BooksInShort schließt sich der Widmung des Autors an und empfiehlt dieses aufrüttelnde Buch allen, „die über Tag und Tellerrand hin­auss­chauen“.

Take-aways

  • In der Natur folgt auf jede Expansion eine Kontraktion.
  • Die Nutzung der natürlichen Ressourcen stößt an ihre Grenzen.
  • Die derzeitige Krise beruht nicht auf einzelnen Fehlen­twick­lun­gen, sondern ist eine Folge des ungehemmten Wirtschaftswach­s­tums.
  • Wachstum erzeugt nicht nur Wohlstand, sondern auch immer größere Schäden.
  • Die exzessive Au­toma­tisierung muss wieder durch menschliche Ar­beit­skraft ersetzt werden.
  • Die modernen Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gien sollten die Grenzen zwischen Beruf und Freizeit auflösen.
  • Die Bürger sollten die Ve­r­ant­wor­tung für ihren Leben­sun­ter­halt nicht dem Staat oder Arbeitgeber überlassen.
  • Da die Lebenser­wartung der Menschen immer mehr steigt, dürfen und müssen sie länger arbeiten. Dafür sollten sie pro Jahr zwei Monate frei bekommen.
  • Der Bil­dungs­be­griff muss um die sozial-emo­tionalen Kompetenzen erweitert werden.
  • Der Wohl­stands­be­griff muss auf im­ma­terielle Werte ausgedehnt werden.
 

Zusammenfassung

Permanentes Wirtschaftswach­s­tum als Sackgasse

Die Krise kommt nicht unerwartet. Aber die Mahner wurden nicht ernst genommen. Dabei ist die Natur das Pa­rade­beispiel dafür, dass es die endlose Expansion, welche die gegenwärtige Wirtschaft­side­olo­gie fordert, gar nicht gibt. In der Natur folgt auf jedes Wachstum eine Kontraktion.

„Die große Sause ist vorüber, die Bar geschlossen.“

Doch die Verfechter der Idee immerwährenden Wachstums bauen darauf, dass der Mensch im Gegensatz zum Rest der Natur über Verstand, Kreativität und Einfälle verfügt. Blind für die Endlichkeit der Ressourcen hat der Mensch riesige Städte, In­dus­triean­la­gen und Verkehrssys­teme errichtet, die gigantische Mengen an Rohstoffen und Energie verschleißen. Nicht nur die Ressourcen gehen zur Neige, sondern auch die beiden wichtigsten Lebens­mit­tel des Menschen: gesunde Luft und Wasser. Ver­schmutzte Luft ruiniert die Böden und die Ozonschicht und macht uns krank. Wasser wird zur Mangelware, weil sein Verbrauch noch stärker ansteigt als die Bevölkerung. Nur etwa 0,25 % des gesamten Wasser­vorkom­mens der Erde sind für den Menschen brauchbar, weil der Rest der Vorräte aus Salzwasser besteht. Vom Süßwasser wiederum ist ein Teil verschmutzt oder gebunden – beispiel­sweise in Form von Eis. Die Bodenqualität hat sich derart ver­schlechtert, dass viele Flächen gar nicht mehr be­wirtschaftet werden können.

„Gibt es irgendeine Aufgabe zu lösen, sei es im privaten oder öffentlichen Bereich, ist der erste Reflex: Geld.“

Allein dadurch, dass die Weltbevölkerung drastisch zunimmt, werden auch die Nahrungsmit­tel knapp, sodass die Zahl der Hungernden und der Mangelernährten ansteigt. Aufgrund der erhöhten Nachfrage könnten Lebens­mit­tel längerfristig wieder teurer werden.

Dass die Bevölkerung in Europa schrumpft, während sie weltweit noch zunimmt, beruht auf folgendem Muster: In der ersten Phase der In­dus­tri­al­isierung steigt der Lebens­stan­dard und die Bevölkerung wächst stärker. In der zweiten Phase, die Europa im letzten Jahrhundert durchlebt hat, verlangsamt sich das Bevölkerungswach­s­tum, was aber erst recht den Wohlstand erhöht, weil es genug zu verteilen gibt. In der dritten Phase, die wir jetzt durchlaufen, ver­langsamen sich sowohl Wirtschafts- als auch Bevölkerungswach­s­tum.

Die zerrüttete Gesellschaft

Wie verun­sichert und unmündig immer mehr Bürger sind, zeigt die Hochkon­junk­tur, die Berater derzeit erleben. Helfer für alle Lebens­bere­iche schießen wie Pilze aus dem Boden: Es gibt Berater für Vermögen, Renten, Sozialhilfe, Ernährung, Lifestyle, Ehen, Eltern, Erziehung, Karriere usw. Tatsächlich zerfallen immer mehr Familien, und viele Menschen halten sich nur noch mittels Medika­menten, Drogen und Alkohol über Wasser. Weil Eltern immer weniger mit ihren Kindern sprechen, hat der Nachwuchs Schwierigkeiten mit Lesen, Schreiben und Textverständnis. Wie sollen unsere Kinder ar­gu­men­tieren, einen Standpunkt vertreten, logische Entschei­dun­gen treffen oder Konflikte lösen?

„Durch seine Art des Wirtschaftens ver­schlechtert der Mensch auch seine eigenen Lebens­be­din­gun­gen.“

All diese Fähigkeiten beruhen letztlich auf dem gelungenen Umgang mit der Sprache. Kindern wird zudem immer häufiger eine musische Ausbildung versagt; selbst körperliche Bewegung kommt zu kurz. Die Po­lar­i­sa­tion innerhalb der Bevölkerung wächst: Die Mit­telschicht schwindet, indem sich ihre Angehörigen entweder zu den Reichen oder den Armen schlagen. Beide Flügel sind unzufrieden und fühlen sich ungerecht behandelt: die Reichen, weil auch sie nicht mehr so viel verdienen wie früher und zusätzlich für die sozial Schwachen aufkommen müssen, und die Armen, weil ihr Stück vom sozialen Kuchen immer kleiner wird.

„Auch wenn Materielles weiterhin eine große Rolle im Leben der Menschen spielen wird – Lebenssinn wird von ihm immer weniger ausgehen können.“

Manche halten die derzeitigen Verhältnisse lediglich für Fehlen­twick­lun­gen, die korrigiert werden können. Sie suchen die Ursachen etwa bei den Fi­nanzjon­gleuren und der zu laschen Bankauf­sicht oder in missratener Bildungs-, Migrations- oder Umwelt­poli­tik. Um die Korrektur dieser ver­meintlichen Fehlen­twick­lun­gen zu finanzieren, müsste die Wirtschaft allerdings weiter wachsen. Darum sind in Wahrheit nur eine radikale Umkehr und eine Umori­en­tierung heilsam und rettend. Was können wir tun?

Wachstum und Wohlstand

Wir müssen die ide­olo­giebe­d­ingte Kopplung von Wachstum und Wohlstand lösen. Denn Wachstum dient nicht nur als Mittel, den Wohlstand zu mehren, es kann ihn – unter bestimmten Bedingungen – auch mindern. Ein Beispiel: Wohnungen zu bauen, fördert den Wohlstand, sofern zu wenig Wohnungen vorhanden sind. Wohnungsbau mindert jedoch den Wohlstand, wenn es bereits genügend Wohnungen gibt. Denn dann verlieren sie an Wert, und obendrein fallen der unnützen Investition Ackerland und natürliche Flächen zum Opfer. Wir haben viel zu lange unsere Wohl­stand­srech­nun­gen wie ein schlechter Kaufmann gemacht, ohne die durch das Wachstum ent­stande­nen Schäden abzuziehen. Dazu zählen vor allem der Verbrauch von erneuer­baren und nicht erneuer­baren En­ergiequellen und die Schäden an Natur und Umwelt. Die Messung des Brut­toin­land­spro­dukts als alleiniger Indikator für den Wohlstand einer Gesellschaft ist un­zure­ichend und irreführend. Allerdings ist es schwierig, mittelbare Folgen des Wirtschaftswach­s­tums, wie etwa Ver­wahrlosung der Kinder, Zerrüttung von Familien oder Gesund­heits­beeinträchtigungen aufgrund von Stress, Bau- oder Verkehrslärm, zu messen.

„Kann es in einer endlichen Welt unendliches Wachstum geben?“

Ohne einen Rich­tungswech­sel wird unsere Gesellschaft zwangsläufig scheitern – wie auch in der Ver­gan­gen­heit Gesellschaften gescheitert sind, die an ihre Grenzen gestoßen waren und es vermieden hatten, sich neu zu auszurichten. Wir müssen Wohlstand neu definieren. Geld darf nicht seine einzige Grundlage bilden.

Aufwertung der Arbeit

Die Arbeit des Menschen wurde – am deut­lich­sten sichtbar in der Land­wirtschaft – immer mehr durch exzessive In­dus­tri­al­isierung und Maschinen ersetzt, die Energie verbrauchen, Luft und Gewässer verun­reini­gen und das ökologische Gle­ichgewicht zerstören. Der Lohn für die menschliche Arbeit wurde dabei zu hoch angesetzt, die Kosten für die Ver­schwen­dung der Ressourcen zu niedrig. Dieser Entwicklung gilt es ent­ge­gen­zuwirken, sodass die menschliche Ar­beit­skraft wieder gefragt und willkommen ist. Dabei sollten Leis­tungsan­reize weniger materieller Natur als bedürfnisori­en­tiert sein.

„So vordergründig zufrieden die Bevölkerung auch ist – mehrheitlich spürt sie, dass der Zenit dieser his­torischen Epoche überschrit­ten ist.“

Die neuen kom­mu­nika­tion­stech­nis­chen Er­run­gen­schaften ermöglichen es, viele Arbeiten auch anderswo als in der Firma auszuführen, z. B. zu Hause. Dadurch wird das Verkehrssys­tem entlastet und der Übergang zwischen Privat- und Berufsleben gestaltet sich fließender. Mehr Zufrieden­heit, Lebens­freude und -qualität, Motivation und Kreativität dürften die Folge sein. Jeder sollte sich selbst für seinen Ar­beit­splatz ve­r­ant­wortlich fühlen und nicht alle Hoffnung auf den Arbeitgeber oder den Staat setzen. Selbstständige Tätigkeiten sowie die Möglichkeit, mehrere Berufe nebeneinan­der auszuüben, werden zunehmen. Auch die Kombination von Fes­tanstel­lung und Selbstständigkeit muss selbstverständlich werden. Dazu müssen die überholten sozialen Sicher­heitssys­teme und kom­plizierten Steuerge­setze neu aus­gerichtet werden.

Umbau des Sozial­staats

Der Sozialstaat ist ein Kind des Wirtschaftswach­s­tums. Wenn die Wirtschaft stagniert und die Bevölkerung immer älter wird, wird dieses Modell zwar nicht abgeschafft, jedoch müssen die Sozialleis­tun­gen reduziert werden. Der Staat insgesamt wird Einfluss einbüßen, zumal er seinen bisherigen Aufgaben nicht mehr wie gewohnt nachkommen und nicht mehr alles regeln kann. Das bedeutet vermehrte Selb­stver­ant­wor­tung für Bürger, Familien, Gemeinden und Gesellschaft. Der Tendenz, dass der Einzelne sich, gefördert durch den Wirtschafts­glob­al­is­mus, immer weniger mit der Gesellschaft iden­ti­fiziert, muss Einhalt geboten werden. Jeder Bürger muss sich einer Kultur verpflichtet fühlen, die sich durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte und Tradition auszeichnet. Eine Vielfalt an Kulturen sta­bil­isiert die Zivil­i­sa­tion und macht sie reich.

„Das Wachstum der Wirtschaft ist dabei, zu einer Blüte im Sumpf von Schulden, zu einer Sumpfblüte zu werden.“

Auch das Mi­granten­prob­lem muss gelöst werden. Es war nicht konstruktiv, zu hoffen, dass der Bevölkerungsrückgang durch Migranten aufgehalten würde und sie den materiellen Wohlstand mehren würden. Sie müssen in die Gesellschaft integriert werden und dazu die Lan­dessprache erlernen. Mit Migranten, die diese Bedingungen nicht erfüllen wollen, sollte umgegangen werden wie mit Menschen, die sich zeitlich begrenzt im Land bewegen. Sie sollten daher auch nicht an den Sozialleis­tun­gen teilhaben. Die Her­ab­set­zung in­te­gra­tionswilliger Migranten hingegen ist tabu.

Neue Al­ters­gren­zen

Es ist anachro­nis­tisch und nicht länger hinzunehmen, dass Menschen ab 40 Jahren als schwer ver­mit­tel­bar für den Ar­beits­markt und ab 45 als ältere Ar­beit­nehmer gelten. Gestiegene Lebenser­wartung und Agilität im Alter erfordern ein längeres Teilhaben am Ar­beit­sleben als bislang. Da Statistiken nichts über Einzelschick­sale aussagen, kann es natürlich sein, dass trotz gestiegener Lebenser­wartung ein Mensch früh stirbt und dann nichts von seinem nach hinten ver­schobe­nen Ruhestand hat. Es ist aber ohnehin eine absurde Idee und Praxis, das Leben außerhalb der Arbeit auf das Alter zu verschieben.

„Materielle Wohl­standsmehrung ist Wirtschaftswach­s­tum abzüglich aller Kosten, die es in der belebten und unbelebten Natur verursacht.“

Ein besserer Vorschlag: Die Notwendigkeit und das Bedürfnis, bis ins hohe Alter zu arbeiten und aktiv zu sein, sollten die Bürger dadurch ausgleichen, dass sie jedes Jahr mindestens zwei Monate vollkommen erwerbsfrei leben können, um sich nach eigenem Gusto ihrem Leben, ihrer Familie und Freunden, ihren Hobbys, der Muße oder der Neubesin­nung widmen zu können. Bei dieser Idee ist die Wirtschaft gefordert, mitzumachen und sich der überholten, verkrusteten und zu wenig hin­ter­fragten Strukturen und Gewohn­heiten zu entledigen.

Soziale Bildung

Bil­dungside­ale sind epochen- und gesellschaftsabhängig. Bis zur Aufklärung wurden alle, die ein paar Brocken Latein vor sich hinmurmeln konnten, als hochge­bildet angesehen. Heute wird Bildung weitgehend fokussiert und eingeengt auf die er­fol­gre­iche Bewältigung der Ansprüche in Beruf und Karriere. Dieser Bil­dungs­be­griff muss erweitert werden, um den Her­aus­forderun­gen des 21. Jahrhun­derts zu begegnen. Als da wären: Wir müssen rasch die nicht ver­sieg­baren En­ergiequellen wie Sonne und Erdwärme nutzbar machen.

„In 20 Jahren werden staatliche Sozialleis­tun­gen allenfalls die Existenz der Menschen sichern können, nicht ihren gewohnten Lebens­stan­dard.“

Wir müssen das Trans­port­sys­tem minimieren und energie- und umweltscho­nen­der konzipieren. Wir müssen Produktion und Verbrauch enger zusam­men­le­gen. Wir müssen neue Wohn- und Stadt­sys­teme kreieren. Und wir müssen, um all das zu erreichen, die Bildung ganzheitlicher gestalten. Ins­beson­dere müssen die sozial-emo­tionalen Kompetenzen, die in der Ver­gan­gen­heit zu wenig gewürdigt wurden, wieder stärker gefördert werden. Denn diese werden angesichts der kommenden Umbrüche und sozialen Her­aus­forderun­gen verstärkt gebraucht werden.

Ausblick

Optimismus beflügelt und motiviert. Fast alle er­fol­gre­ichen Menschenführer zeichneten sich dadurch aus. Doch der Optimismus hat auch eine Schat­ten­seite: Op­ti­mistisch gestimmt nehmen wir Gefahren ungenügend zur Kenntnis und setzen auf das diffuse Prinzip Hoffnung, wo eine lösung­sori­en­tierte Au­seinan­der­set­zung angemessener wäre.

„Knapper werdende finanzielle Mittel und beschränkte wirtschaftliche Möglichkeiten werden viele wieder enger zusammenrücken und sich auf das beschränken lassen, was notwendig ist.“

Bei der Definition von Wohlstand muss ein Par­a­dig­men­wech­sel stattfinden: Wohlstand darf nicht länger nur in Geld und Quantität gezählt und ausgedrückt werden, wie es seit der in­dus­triellen Revolution üblich ist. Wohlstand bedeutet auch: Zeit für mich, für meine Familie und Freunde zu haben, für die Natur, die Sinne und für kulturelle und spirituelle Erfahrungen.

Über den Autor

Meinhard Miegel leitete über 30 Jahre lang das Institut für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn. Er ist Vor­standsvor­sitzen­der des Denkwerks Zukunft und Beiratsmit­glied zahlreicher wis­senschaftlicher Ein­rich­tun­gen. Er ist auch Autor des Buches Die deformierte Gesellschaft.