Ver- oder Misstrauen, das ist die Frage
Finanzmärkte sind verwundbar. Banken leihen sich meist kurzfristig Geld, um es langfristig zu verleihen. Wenn dann aus irgendeinem Grund viele Kunden auf einmal ihre Einlagen zurückfordern, hat die Bank nicht genügend liquide Mittel, um sie auszuzahlen. Ähnlich ergeht es Regierungen: Das Wachstumspotenzial und die Steuerbasis eines Landes sind illiquide Vermögenswerte. Es genügt die Befürchtung, dass ein Staat seine Schulden nicht mehr wird zurückzahlen können, damit eine Kreditkrise ausgelöst wird. Bisher gibt es keine schlüssige Theorie darüber, wann Vertrauen in Misstrauen umschlägt. Die Geschichte der Finanzkrisen hat aber gezeigt, dass ein einmal befürchtetes Ereignis auch eintritt – sämtliche Versuche gegenzusteuern, können den Eintritt bestenfalls verzögern. Dennoch zieht sich das „Dieses Mal ist alles anders“-Syndrom wie ein roter Faden durch die vergangenen 800 Jahre. Immer wieder waren die Beteiligten überzeugt, aus der Vergangenheit gelernt zu haben. So erschien z. B. noch Mitte September 1929 eine Anzeige in einer New Yorker Zeitung, in der an die wilden Szenen nach dem Zusammenbruch der Pariser Banque Royale im Jahr 1719 erinnert wurde. Damals, so der Werbetext, hätten die Menschen keinerlei Zugang zu verlässlichen Informationen gehabt; im 20. Jahrhundert stünde hingegen jedem Investor Faktenwissen zur Verfügung, das „die Risiken der Spekulation eliminieren und an ihre Stelle solide Anlageprinzipien setzen“ könne. Der Rest ist bekanntlich Geschichte.
Der Staat als verlässlicher Schuldner?
„Staaten gehen nicht bankrott“, sagte der ehemalige Citibank-Chairman Walter Wriston kurz vor Beginn der großen Auslandsschuldenkrisen in den 1980er Jahren. Die Aussage mag im Nachhinein naiv klingen, ist aber nicht ganz falsch. Es fordert beispielsweise niemand Regierungen auf, die Museumsschätze ihrer Länder zu plündern, nur um Gläubiger zu bedienen. Oft sind Staaten zwar fähig, aber nicht willens, ihre Schulden zu tilgen. Warum also vertrauen Geldgeber Staaten immer wieder, obwohl es keinen wirksamen Gläubigerschutz gibt und sie schon so oft fast leer ausgegangen sind? Zum einen gehen sie davon aus, dass Regierungen sich ihren Zugang zum internationalen Kapitalmarkt nicht verbauen wollen. Handelsbeziehungen, Sicherheitsabkommen, Bündnisse und ausländische Direktinvestitionen machen jedes Land vom Wohlwollen der Staatengemeinschaft abhängig. Das weltweite Auftreten immer häufigerer und kürzerer Episoden der Zahlungsunfähigkeit souveräner Staaten fiel mit der Gründung des Internationalen Währungsfonds (IWF) nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Offenbar hat diese Institution Investoren und Staaten die Angst vor Staatsbankrotten genommen.
„Der Kern des ,Dieses Mal ist alles anders‘-Syndroms ist einfach. Er besteht in der festen Überzeugung, dass Finanzkrisen nur anderen Menschen in anderen Ländern und zu anderen Zeiten passieren.“
Den Grundstein für die erste internationale Schuldenkrise legten italienische Kaufleute, die Ende des 13. Jahrhunderts Kredite an England vergaben. In Florenz, Genua und Venedig florierte der Geldhandel, während das damalige Entwicklungsland England reich an Rohstoffen wie Schafwolle war: Als England seine Schulden nicht zurückzahlen konnte, geriet das florentinische Bankensystem in eine arge Schieflage, und England hatte jahrhundertelang den Ruf eines säumigen Schuldners. Die meisten Nationen erreichten erst ab 1800 einen Entwicklungsstand, der es ihnen ermöglichte, sich zu verschulden. Eine Zeitleiste aller Schuldenkrisen unabhängiger Länder von 1800 bis 2009 verdeutlicht: Die Welt hat mindestens ebenso oft Perioden gehäufter Zahlungsausfälle erlitten, wie sie frei von solchen war. Die Konsequenzen für säumige Schuldner waren früher sehr viel dramatischer als heute. Französische Monarchen ließen inländische Geldgeber kurzerhand hinrichten, wenn sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten – ein Vorgang, den der Volksmund „Aderlass“ taufte. Und zu Zeiten der Kanonenbootdiplomatie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts marschierten mächtige Geldgebernationen in kleinere Länder ein, die ihre Auslandsschulden nicht zurückzahlen konnten oder wollten.
Die versteckten Inlandsschulden
Gerade in entwickelten Volkswirtschaften besteht ein Großteil der Schuldenlast aus Inlandsschulden. Obwohl es seit 1800 immerhin 70 Inlandsschuldenkrisen gab – gegenüber 250 Auslandsschuldenkrisen –, ignoriert man Inlandsschulden, wenn die Tragfähigkeit der Auslandsschulden oder der Inflationsstabilität berechnet wird. Sie sind der oft übersehene Grund dafür, dass viele Länder ihre scheinbar niedrigen Auslandsschulden nicht bezahlen können. Hinter den meisten Auslandsschuldenkrisen verstecken sich hohe Inlandsschulden. Nach einem Zahlungsausfall gegenüber dem Ausland steigt die Schuldenlast im Inland oft noch weiter an, da Regierungen keinen Zugang zum internationalen Kapitalmarkt mehr haben. Gleichzeitig kommt es oft zur Hochinflation, ein Mittel, mit dem sich Regierungen ihrer Verpflichtungen zu entledigen versuchen, denn die Geldentwertung lässt den Schuldenberg schmelzen. Leider gleicht die Suche nach verlässlichen Daten zu Inlandsschulden der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die USA etwa haben im Zuge der Finanzkrise etatfremde Garantien in großer Höhe in ihre Bücher aufgenommen, deren tatsächlicher Umfang nur geschätzt werden kann. Regierungen weltweit fürchten offenbar, dass sie weit höhere Zinsen zahlen müssten, wenn alle Risiken offen auf dem Tisch lägen. Eine internationale Behörde sollte hier für mehr Transparenz sorgen.
Die Warnzeichen
Im Anschluss an eine Bankenkrise steigen die realen Staatsschulden binnen dreier Jahre um durchschnittlich 86 %. Im Vorfeld sind besonders häufig folgende Faktoren zu beobachten:
- Liberalisierung der Finanzmärkte: Damit geht eine Explosion des Finanzdienstleistungssektors einher.
- „Kapitalstrom-Bonanza“: Die Kapitalzuflüsse nehmen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), über Jahre um mehrere Prozentpunkte zu.
- Immobilienblase: Die Immobilienpreise steigen vier bis sechs Jahre vor einer Bankenkrise stark an.
„Viele Teilnehmer des globalen Finanzsystems graben sich eine Schuldenfalle, die viel zu tief ist, als dass sie vernünftigerweise erwarten könnten, sich daraus zu befreien.“
Anders als die Aktienkurse nach einem Börsenkrach erholen sich die Immobilienpreise nach einer Bankenkrise nur sehr langsam. Von Immobilienblasen ausgelöste Krisen erweisen sich als hartnäckiger. Ihre Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft und die Staatsfinanzen sind oft verheerend. Zwar schürten neue Instrumente wie die Subprime-Hypotheken und ihre Verbriefung bis 2007 wieder einmal die Illusion, dass die Immobilienpreise diesmal für immer steigen würden; Financial Engineering und Derivatkontrakte galten als Wundermittel zur Risikosenkung. Das Wunder aber blieb aus.
Die Subprime-Krise
Im Frühherbst 2008 brach Panik aus. Nicht wenige erwarteten gar das Ende der Zivilisation. Dabei hätte ein Blick auf die jüngere Geschichte der Finanzkrisen gezeigt, dass diese alle ähnlich verlaufen. In den USA, dem Epizentrum der letzten Krise, leuchteten die üblichen Warnsignale auf:
- exzessive Auslandsverschuldung, gepaart mit Leistungs- und Handelsbilanzdefiziten,
- eine Preisblase, vor allem im Immobiliensektor,
- eine zunehmende Verschuldung der Privathaushalte,
- eine sich abkühlende Konjunktur.
„Staatsschuldenkrisen waren unter den heute entwickelten Ökonomien, die aus regelmäßig wiederkehrenden Perioden der Zahlungsunfähigkeit herausgewachsen zu sein schienen, einst weit verbreitet.“
Seit 1891 hat es keinen Immobilienboom gegeben, der so lange anhielt und so extrem war wie der amerikanische vor dem Subprime-Fiasko 2007. Zwischen 1996 und 2006 stiegen die Preise um fast 92 % – mehr als dreimal so schnell wie zwischen 1980 und 1996. Die Lücke in der Leistungsbilanz betrug am Vorabend der Krise 6,5 % des BIPs, nämlich 800 Milliarden Dollar. Und die Verschuldung der Privathaushalte stieg 2006 auf fast 130 % des BIPs, nachdem sie in den 90er Jahren relativ konstant bei 80 % gelegen hatte. Führende Politiker und Wissenschaftler sahen in alldem aber keinen Grund zur Sorge. Der damalige US-Finanzminister Paul O’Neill fand es völlig natürlich, dass andere Länder den USA wegen ihres hohen Produktivitätszuwachses Geld liehen. US-Notenbankpräsident Ben Bernanke sprach von einem „globalen Ersparnisstau“, aufgrund dessen der USA das Geld in den Schoß falle. Man glaubte, das eigene System sei anderen überlegen. Selbst der IWF kam im April 2007 zu dem Schluss, dass sich die Risiken für die Weltwirtschaft gegen null bewegten.
Der Schmerz am Tag danach
Die Auswirkungen einer Finanzkrise auf Assetpreise sind beträchtlich und langlebig. Im Zuge der diversen nationalen und regionalen Krisen nach dem Zweiten Weltkrieg fielen Immobilienpreise im Durchschnitt um 35 % und erholten sich erst nach sechs Jahren. Aktienkurse brachen um 56 % ein und verharrten rund dreieinhalb Jahre auf niedrigem Niveau. Die Arbeitslosenquote nahm im Durchschnitt um sieben Prozentpunkte zu. Die Staatsverschuldung verdoppelte sich beinahe, was weniger an den Konjunkturpaketen und Rettungsschirmen lag als vielmehr am Wegbrechen der Steuereinnahmen. Besonders dramatisch waren die Folgen des Börsenkrachs 1929. Während der Großen Depression dauerte es in den USA und anderen Staaten zehn Jahre, bis die Wirtschaft zum Vorkrisenniveau aufgeschlossen hatte. Die Arbeitslosenquote stieg im Durchschnitt um fast 17 Prozentpunkte.
„Die Fähigkeit der Regierungen und der Investoren, sich einer Täuschung hinzugeben und periodische ,irrationale Überschwänge‘ zu fördern, die üblicherweise in Tränen enden, scheint sich nicht verändert zu haben.“
Auch die Subprime-Krise erwies sich als hoch ansteckend. Ein Vergleich mit vergangenen Krisen zeigt, dass es für eine Entwarnung zu früh ist. Denn das Vermächtnis von Finanzkrisen liegt in der Häufung von Zahlungsausfällen, Umschuldungen und IWF-Rettungsaktionen. Globale Krisen sind besonders gefährlich: Wenn die Weltwirtschaft am Boden liegt, ist es keinem Land möglich sich über seine Exporte zu erholen. Staaten, Kommunen und Unternehmen sitzen auf dem Trockenen, sobald die weltweiten Kreditflüsse ins Stocken geraten. Die erste globale Finanzkrise des 21. Jahrhunderts hat ein Trauma ausgelöst. Dass es nicht noch schlimmer gekommen ist, verdanken wir einem glücklichen Schicksal.
Nächstes Mal wird es auch nicht anders
Wie lassen sich künftige Krisen dieser Größenordnung verhindern? Ein effektives Frühwarnsystem auf der Basis länderübergreifender Daten wäre ein erster Schritt. Wir brauchen eine unabhängige, internationale Institution, die diese Daten von ihren Mitgliedstaaten einfordert und hilft, Finanzregulierungen auf globaler Ebene durchzusetzen. Einzelne Staaten dürfen nicht mehr in der Lage sein, politischen Druck auszuüben und ihre Schuldenlage schönzurechnen. Es gibt genügend fundierte Ansätze, Frühwarnindikatoren zur Vorhersage schwerer Krisen zu entwickeln. Was fehlt, ist der Wille, sie ernst zu nehmen. In Boomzeiten werden Warnzeichen von euphorischen Investoren und wachstumssüchtigen Politikern als veraltet und bedeutungslos abgetan. Das „Dieses Mal ist alles anders“-Syndrom vernebelt die Urteilskraft selbst erfahrener Experten.
„Dieses Mal mag zwar alles anders erscheinen, meistens wird bei einer eingehenden Betrachtung jedoch deutlich, dass nichts anders ist als sonst.“
Die Geschichte zeigt: Während es einigen Ländern, wie Frankreich oder Spanien, nach Jahrhunderten gelungen ist, sich dauerhaft aus dem Kreislauf von Zahlungsausfällen zu befreien, sind Banken- und Finanzkrisen nach wie vor an der Tagesordnung. Vor der jüngsten Krise glaubten die Zentralbanken, gleichzeitig die Inflation niedrig halten und die Wirtschaftsleistung optimieren zu können. „Inflationssteuerung“ lautete das Zauberwort. Doch dieser Zauber verlor in der schwersten Rezession der Nachkriegszeit schnell an Wirkung. Selbst die besten Institutionen schützen nicht vor dem Zusammenbruch eines Finanzsystems unter dem Druck von Gier und Profitstreben. Langfristig hilft auch kein Marktvertrauen gegen den Kollaps unkontrolliert wachsender Staatsschuldentürme. Das war schon immer so und wird auch beim nächsten Mal nicht anders sein.