Das Treibhaus

Buch Das Treibhaus

Stuttgart , 1953
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Ein politisches Buch?

Der Stoff des Romans Das Treibhaus ist durchaus politisch: eine Nahaufnahme des Bonner Politzirkus aus der Frühphase der BRD, kurz nach dem Krieg. Es war eine Zeit, in der selbst das Un­poli­tis­ch­sein politisch war; trat doch eine ganze Nation, geschichtsmüde und schuld­be­laden, die kollektive Flucht ins Private an. In dieser „Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen“, wie es die Philosophin Hanna Arendt nannte, lag ein him­melschreien­der Skandal. Ihm verlieh Koeppen in seinem Roman Ausdruck. Insofern ist Das Treibhaus ein politisches Buch – manche sagen, ein verfehltes, und werfen Koeppen vor, sich geirrt zu haben, wenn er in der Bonner Republik die nahtlose Fortsetzung des Dritten Reiches sah. Mit seiner De­sil­lu­sion­ierung und ex­is­ten­ziellen Krise langte Koeppen bei einem alles überschat­ten­den Pessimismus an. In der Darstellung dieser Krise ist Das Treibhaus ein un­poli­tis­ches Buch – und als solches ein gutes.

Take-aways

  • Der Roman Das Treibhaus von Wolfgang Koeppen ist ein Meilenstein der deutschen Nachkriegslit­er­atur.
  • Inhalt: Der Bun­destagsab­ge­ord­nete Keetenheuve, ein de­sil­lu­sion­ierter Idealist, wird in den Mühlen des Bonner Poli­tik­be­triebs zerrieben. Nachdem seine junge Frau Elke stirbt und er in der Politik mit seinen Idealen scheitert, hat er den Härten des Lebens in einem vom Krieg geze­ich­neten Deutschland nichts mehr ent­ge­gen­zuset­zen und begeht Selbstmord.//
  • Das Treibhaus //ist der zweite Teil von Koeppens sogenannter „Trilogie des Scheiterns“.
  • Der Roman ist vordergründig eine Abrechnung mit der jungen Bun­desre­pub­lik, die aus Koeppens Sicht eine Fortsetzung des Dritten Reichs mit anderen Mitteln war.
  • Einige der handelnden Personen tragen deutliche Züge his­torischer Figuren, darunter Kurt Schumacher und Konrad Adenauer.
  • Das eigentliche Thema des Romans ist die Zer­ris­senheit eines sensiblen Menschen zwischen Idealismus und Wirk­lichkeit.
  • Koeppens Grundton ist tief pes­simistisch, seine Schreib­weise voll düsterer Bilder und Allegorien.
  • Die Figur des melan­cholis­chen, lebensunfähigen Keetenheuve ist an Shake­speares Hamlet angelehnt.//
  • Das Treibhaus// provozierte teils heftige Kritik vonseiten ebenjener ver­gan­gen­heits­blinden Wieder­auf­bau-Op­ti­mis­ten, die Koeppen mit dem Roman angegriffen hatte.
  • Zitat: „(…) Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus, Keetenheuve sah seltsame Floren, gierige, fleis­chfressende Pflanzen, Riesen­phallen, Schorn­steinen gleich voll schwelenden Rauches, blaugrün, rotgelb, giftig, aber es war eine Üppigkeit ohne Mark und Jugend (…)“
 

Zusammenfassung

Der Abgeordnete

Der Politiker Felix Keetenheuve ist im Zug nach Bonn unterwegs. Er kommt von der Beerdigung seiner Frau Elke. Als Ab­ge­ord­neter sitzt er für eine Op­po­si­tion­spartei im Bundestag. Keetenheuve ist kein typischer Vertreter seiner Zunft. Er hat sich den Idealismus seiner Jugend bewahrt, hat den Glauben an Veränderung, an die Kraft der Erkenntnis und an die Möglichkeit und Notwendigkeit moralischen Handelns nie aufgegeben. Entsprechend fremd sind ihm die meisten seiner Kollegen, die er für zynische Op­por­tunis­ten hält. Im Bonner Poli­tik­be­trieb der Nachkriegszeit sieht Keetenheuve eine mehr schlecht als recht kaschierte Fortsetzung des Dritten Reiches. Das Gefühl der Fremdheit beruht auf Gegen­seit­igkeit: Selbst Keeten­heuves Parteigenossen begegnen ihm mit Misstrauen oder schlicht Verachtung, und auch das Wahlvolk will mit dem stillen, grüblerischen Schöngeist nicht richtig warm werden. Dass er dennoch in eine relativ ein­flussre­iche Position gelangt ist, verdankt Keetenheuve eher glücklichen Umständen als eigenem Zutun. Vor dem Krieg war er Journalist. Nach der Machter­grei­fung der Nazis entschied er sich für das Exil und wanderte nach England aus. Als er nach dem Krieg zurückkehrte, ging er in die Politik, mit dem Anspruch, Gutes zu tun und sich aktiv am Wieder­auf­bau der Nation zu beteiligen.

Tragisches Ende einer Ehe

Der Tod seiner jungen Frau Elke hat Keetenheuve den letzten Halt im Leben genommen. Elke floh als 16-jähriges Mädchen nach dem Krieg in den Westen, wo Keetenheuve sie buchstäblich zwischen Trümmern auflas. Ihre Eltern – der Vater war Gauleiter gewesen – hatten sich zuvor durch Selbstmord den Fängen der Justiz entzogen. Doch Elke und Keetenheuve, so sehr sie sich auch liebten, passten nur schlecht zueinander: er der ve­r­ant­wor­tungsvolle Geis­tes­men­sch, sie amoralisch und eher dem Sinnlichen zugeneigt. Tatsächlich ging die Ehe schief. Keetenheuve lebte ganz für seine politische Berufung und vernachlässigte Elke. Die vermochte es nicht, ihr Leben aus eigener Kraft mit Sinn zu füllen. Schließlich geriet sie unter den Einfluss der lesbischen Kupplerin Wanowski, fing an zu trinken und Drogen zu nehmen. Damit begann ihr Verfall.

In der Presse­baracke

In Bonn angekommen, trifft Keetenheuve Korodin. Der gehört einer geg­ner­ischen Partei an, ist aber an Keetenheuve in­ter­essiert und will ihn auf seine Seite ziehen. Er nimmt ihn im Taxi bis zum Bundeshaus mit, wo Keetenheuve aussteigt. Doch Keetenheuve will noch nicht ins Büro. Also schließt er sich einer Touris­ten­gruppe an und besichtigt die ungeliebte Wirkungsstätte aus der Perspektive eines Zaungasts. Dabei stellt er allerlei schwermütige Be­tra­ch­tun­gen an. Später begibt sich Keetenheuve in die Presse­baracke, wo er dem Jour­nal­is­ten Mergentheim, einem ehemaligen Kollegen, einen Besuch abstattet. Mergentheim, der nach der Machter­grei­fung mit dem Strom geschwommen und zum Chefredak­teur aufgestiegen ist, hält nicht viel vom weltfremden Keetenheuve. Dennoch warnt er ihn vor einer Intrige: Jemand hat das Gerücht in die Welt gesetzt, Keetenheuve habe während des Krieges in England die Uniform eines britischen Majors getragen. Auch von einem Foto redet er, mit dessen Hilfe der parteilose Strip­pen­zieher Frost-Forestier dem Gerücht weitere Nahrung geben könnte; darauf sei Keetenheuve hinter einem Mikrofon der BBC zu sehen. Tatsächlich hat dieser aus dem Exil Anti-Hitler-Pro­pa­ganda betrieben. Doch an der Sache mit der Uniform ist nichts dran. Mergentheim ruft Keetenheuve allerdings die Macht der Gerüchte ins Gedächtnis: Auch die Nazis stellten so ihre Gegner kalt.

Politisches Dynamit

Vor der Presse­baracke trifft Keetenheuve den alten Philip Dana. Auch ihn kennt er aus seiner Zeit als Journalist. Dana steckt Keetenheuve ein brandheißes Dokument zu: die bisher unveröffentlichte Meldung über ein Interview, in dem britische und französische Generale die deutsche Teilung als „einzigen Gewinn des letzten großen Krieges“ bezeichnen – ein Affront gegen die deutsche Regierung und ihre Linie der Westbindung. Doch obwohl Keetenheuve weiß, dass er mit dem Interview ein Mittel an der Hand hat, der Koalition zu schaden und gle­ichzeitig seinem eigenen Parteichef Knurrewahn dabei zu helfen, sich als Advokat der Wiedervere­ini­gung zu profilieren, empfindet er keine Triumphgefühle, nur Ekel vor der Niederträchtigkeit des politischen Geschäfts.

„Er saß im Ni­belun­genex­press. Es dunstete nach neuem Anstrich, nach Renovation und Restau­ra­tion; es reiste sich gut mit der Deutschen Bundesbahn; und außen waren die Wagen blutrot lackiert.“ (über Keetenheuve, S. 9)

In Keeten­heuves Büro türmen sich un­beant­wortete Briefe. Keetenheuve betrachtet ein Foto von Elke. Er spürt das ganze Ausmaß seiner Vere­in­samung. Für die Au­seinan­der­set­zung mit der Papierflut auf dem Tisch fehlt ihm die Kraft. Stattdessen versucht er sich daran, ein Baude­laire-Gedicht, Le beau navire, ins Deutsche zu übersetzen. Dann wird er zu Knurrewahn gerufen, seinem Chef. Knurrewahn ist, so sieht es jedenfalls Keetenheuve, ein „Meister vom alten Schrot und Korn“; ein robuster Poli­tikhandw­erker, der allerdings in der neuen Zeit die Ori­en­tierung verloren hat. Mit Keetenheuve verbindet ihn eine Zweck­ge­mein­schaft. Knurrewahn hält Keetenheuve für arrogant, stützt sich aber auf dessen überlegenes Urteil. So auch jetzt, wo er sich von ihm überreden lässt, die brisante Meldung einstweilen geheim zu halten. Keetenheuve soll die Bombe in der bevorste­hen­den Par­la­ments­de­batte über die Sicher­heitsverträge platzen lassen.

Ein ver­lock­ender Köder

Frost-Forestier ruft an und lädt Keetenheuve zum Essen ein. Der nimmt trotz eines unguten Gefühls an. Frost-Forestier residiert in einer alten Kaserne. Beim gemeinsamen Essen trägt er Keetenheuve das Amt des Botschafters in Guatemala an. Keetenheuve weiß: Der Posten ist ein Ab­stell­gleis, man will ihn loswerden. Dennoch spürt er Verlockung. Guatemala könnte ein neues Leben bedeuten. Zurück in Bonn, kommt Keetenheuve zu spät zu einer Auss­chuss­sitzung. Seine Parteikol­le­gen machen aus ihrer Miss­bil­li­gung keinen Hehl. Keetenheuve spürt, dass er immer mehr in Isolation gerät, fühlt sich zunehmend haltlos. Den Beratungen des Ausschusses vermag er kaum zu folgen. Es wird über den Bau von Ar­beit­er­woh­nun­gen verhandelt. Doch Keetenheuve ist in Gedanken bei Elke. Er fühlt sich schuldig an ihrem frühen Tod. Die Ver­hand­lun­gen erscheinen ihm abstrakt und zynisch, der Kontrast zwischen den Nöten und Bedürfnissen der Menschen auf der einen und der Maschinerie des politischen Geschäfts auf der anderen Seite ekelt ihn an.

Den Rhein entlang

Die Sitzung endet ergebnislos. Keetenheuve geht zurück ins Büro. Das Angebot Frost-Forestiers beschäftigt ihn. Ihm ist klar, dass eine Gegen­leis­tung von ihm erwartet wird: Er soll die In­ter­viewaus­sagen der alliierten Generäle unter den Tisch fallen lassen. Doch das wird er nicht tun, Keetenheuve wird sich nicht bestechen lassen. Der Entschluss gibt ihm Mut. Von Kampfeslust erfüllt macht er sich auf den Weg nach Hause. Es wird ein langer Gang, eine Wanderung durch die abendliche Stadt, den Rhein entlang, in drückender, treib­hausar­tiger Atmosphäre. Keetenheuve kommt an einem Spielplatz vorbei. Zwei Mädchen auf einer Wippe kokettieren mit ihm. Er kauft gebrannte Mandeln und fühlt sich in die Zeit seiner Pubertät zurückversetzt. Spontan reiht er sich in die Schlange vor einer Kinokasse ein. Doch was er auf der Leinwand zu sehen bekommt, die Wochenschau im Vorprogramm, dann ein Lustspiel, kon­fron­tiert ihn nur noch stärker mit seiner Einsamkeit. Er flieht. Es wird Abend. Eine Weinstube zieht ihn an. Er bestellt einen Wein und beobachtet die Menschen in der Gaststube. Ein alter Mann mit Dackel und ein katholis­cher Priester mit einem kleinen Mädchen regen seine Fantasie an, setzen Gedanken­ket­ten in Gang, die aber sämtlich wieder zu ihm zurückkehren.

Gerda und Lena

Es ist spät, die Weinstube macht zu. Keetenheuve will noch nicht nach Hause. Also streift er weiter durch die Straßen. In den Geschäften stehen Schaufen­ster­pup­pen, eine heile Welt der erfüllten Kon­sum­sehn­sucht. Keetenheuve fühlt sich abgestoßen. Seine Sehnsucht ist auf Bedürfnis­losigkeit und inneren Frieden gerichtet. Dann jedoch verspürt er wieder Durst. Eine andere Weinstube hat noch offen. Dort trifft Keetenheuve auf zwei Mädchen, die Spenden für die Heilsarmee sammeln. Die Jüngere weckt Keeten­heuves Begehren. Er traut sich aber nicht, sie anzus­prechen, und so ver­schwinden die Mädchen, wie sie gekommen sind. Nun macht auch diese Weinstube zu. Keetenheuve stromert wieder durch die Nacht. Vor den Schaufen­stern eines Kaufhauses trifft er die Mädchen erneut. Diesmal spricht er sie an. Die ältere, Gerda, scheint ihn als Konkurrenz zu betrachten und zeigt ihm die kalte Schulter; die jüngere, Lena, ist aufgeschlossener und erzählt Keetenheuve ihre Geschichte:

„Das Volk schwieg. Schwieg es in weit­er­wirk­ender Furcht? Schwieg es in anhänglicher Liebe? Die Geschwore­nen sprachen die Männer der Diktatur von jeder Anklage frei. Und Keetenheuve? Er diente der Restau­ra­tion und reiste im Ni­belun­genex­press.“ (S. 37)

Sie floh mit ihren Eltern über Berlin in die BRD. In Thüringen, ihrer Heimat, hatte sie eine Ausbildung zur Mechanikerin begonnen, sie wollte höher hinaus, Ingenieurin werden. Im Westen fand sie allerdings eine Gesellschaft vor, in der eine solche Laufbahn für Frauen nicht vorgesehen war. Lena schlug sich als Spülerin in einem Restaurant durch, floh von dort, trampte in Richtung Ruhrgebiet, musste sich von Last­wa­gen­fahrern begrapschen lassen, wurde überall abgewiesen, ausgelacht, gedemütigt. In Bonn lernte sie dann Gerda kennen. Keetenheuve macht ihr Hoffnungen: Er werde sich für sie einsetzen, ihr eine Lehrstelle verschaffen. Lena ist mis­strauisch. Nicht ohne Grund, wie Keetenheuve nur zu gut weiß. Natürlich will er dem hübschen Mädchen selber an die Wäsche. Er verabredet sich mit Lena und Gerda für den nächsten Abend in der Weinstube.

Showdown im Bundestag

Keetenheuve verschlägt es in eine Bar im Bahn­hofsvier­tel, wo sich nur junge Leute aufhalten. Er spürt sein Alter, seine Einsamkeit. Mit dem Taxi lässt er sich nach Hause fahren, in seine Wohnung im „Ab­ge­ord­netenghetto“. Es gewittert. Keetenheuve spürt, dass er jeden Halt verloren hat. Am nächsten Morgen erwacht er in der Gewissheit seines bevorste­hen­den Endes. Es steht eine Ple­nar­sitzung an, Keetenheuve wird seine Rede halten, Guatemala hin oder her. Er wird nichts ausrichten. Trotzdem wird er die Rede halten. Keetenheuve ist ruhig und gelassen.

„(...) Deutschland war ein großes öffentliches Treibhaus, Keetenheuve sah seltsame Floren, gierige, fleis­chfressende Pflanzen, Riesen­phallen, Schorn­steinen gleich voll schwelenden Rauches, blaugrün, rotgelb, giftig, aber es war eine Üppigkeit ohne Mark und Jugend (...)“ (S. 39)

Im Bundeshaus nimmt ihn Knurrewahn zur Seite, mahnt noch einmal zum Maßhalten. Dann wird Keetenheuve zum Telefon gerufen. Es ist Frost-Forestier. Guatemala ist bewilligt, be­din­gungs­los. Keetenheuve wittert den Braten. Da reicht ihm jemand eine Zeitung, in der Mergentheim über das brisante Interview berichtet. Daraus ist nur ein einziger Schluss zu ziehen: Jemand muss in Keeten­heuves Büro einge­drun­gen sein und das Dokument ab­fo­tografiert haben. Jetzt ist jedenfalls alles zu­nichtegemacht, die Rede, ohne Überraschungsef­fekt, ist nun noch sinnloser. Die Koalition hat Zeit genug gehabt, Schadens­be­gren­zung zu betreiben. Entsprechend verläuft die Ple­nar­sitzung. Der Kanzler, routiniert und arrogant, kritisiert den Artikel scharf. Und tatsächlich: Die Dementis aus London und Paris liegen schon vor. Dem Eintritt in das Westbündnis, der Wieder­be­waffnung Deutsch­lands, so der Kanzler, stehe nun nichts mehr im Weg. Jetzt hält Keetenheuve seine Rede. Dabei hält er sich zunächst an die von Knurrewahn vorgeze­ich­nete Linie und warnt vor den Verpflich­tun­gen, die auf Deutschland zukämen; das erste Ziel müsse die Wiedervere­ini­gung sein. Doch er redet ins Leere, niemand in­ter­essiert sich für das, was er sagt. Keetenheuve legt noch eine Schippe drauf, beschwört die Gefahren der Wieder­be­waffnung, die Rückkehr des Mil­i­taris­mus, die Un­kon­trol­lier­barkeit eines Heeres durch demokratis­che In­sti­tu­tio­nen. Die Rede verpufft. Unter Gefälligkeit­sap­plaus seiner Fraktion tritt Keetenheuve ab. Nach der Abstimmung verlässt er das Bundeshaus.

Sprung von der Brücke

Keetenheuve weiß sich besiegt. Er schließt mit seiner beruflichen Existenz ab. Er nimmt das Foto von Elke und die angefangene Gedichtübersetzung und geht den Rhein entlang in Richtung Stadt. In einem Zelt wird ein toter Wal ausgestellt. Keetenheuve bezahlt den Eintritt und sieht ihn sich an. Er kann sich mit Jona iden­ti­fizieren: Auch Keetenheuve fühlt sich von einem Walfisch ver­schlun­gen. In der Stadt angekommen, setzt er sich in die Weinstube und bestellt eine Flasche Wein. Lena und Gerda kommen durch die Tür. Sie sind tatsächlich seiner Einladung gefolgt. Auch Keetenheuve hält sein Versprechen und schreibt zwei Empfehlungs­briefe, einen an Knurrewahn, einen an Korodin. Sie sollen Lena eine Stelle verschaffen. Dann verlässt er mit Lena das Lokal, Gerda im Schlepptau. Sie wandern durch die Ru­inen­land­schaft eines zerstörten Stadtteils. Irgendwo machen sie halt. Keetenheuve fordert Gerda auf, ein Lied anzustimmen. Zum Klang ihrer Stimme verführt er Lena und weidet sich gle­ichzeitig an den eifersüchtigen Qualen Gerdas. Doch der Akt selbst berührt ihn nicht, durchdringt nicht seine Einsamkeit. Inzwischen haben sich einige Schaulustige um sie versammelt. Keetenheuve erblickt ein Schild, das in Richtung Rhein weist. Unter dem Gelächter der Umstehenden rennt er davon, zum Fluss, auf die Brücke. Und springt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Hatte Wolfgang Koeppen in Tauben im Gras noch seiner stilis­tis­chen Ex­per­i­men­tier­freude nachgegeben, kehrte er in Das Treibhaus, dem zweiten Roman seiner „Trilogie des Scheiterns“, zu einer kon­ven­tionellen Erzählweise zurück. Das Treibhaus ist aus der Perspektive eines eindeutigen Pro­tag­o­nis­ten erzählt und besitzt einen un­un­ter­broch­enen roten Faden. Der besteht in den Erlebnissen des Helden während der letzten zwei Tage seines Lebens, eingebettet in Reflexionen, die in der Form eines inneren Monologs präsentiert werden. Die Handlung ist auf fünf Kapitel verteilt. Im Text finden sich immer wieder die für Koeppen typischen, kursiv gesetzten Einschübe, die eine andere Be­tra­ch­tungsebene markieren, hier meist schlagzeile­nar­tiger O-Ton aus dem Sprachzen­trum des Pro­tag­o­nis­ten. Koeppens düstere Prosa ist von ungewöhnlicher Bilderdichte, wobei der Autor mit großer Virtuosität aus den Be­griffs­beständen von Mythos, Märchen, Natur und Technik schöpft. Einmal eingeführte Metaphern werden zudem später wieder aufge­grif­fen, abgewandelt, weitergeführt, gewinnen im Verlauf des Romans ein Eigenleben und werden am Ende in einem visionären Schlus­sakkord zusammengeführt. Auch ist der Roman reich an lit­er­arischen Querver­weisen, teils explizit, wie die Baude­laire-Zi­tate, teils oberflächlich mit dem Text verwoben, teils gründlich versteckt. Stilistisch wechseln sich kunstvoll aufgebaute, verspielte Satzkon­struk­tio­nen mit lakonischen Einschüben von höchster Schlichtheit ab.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Das Treibhaus kann als Schlüsselroman gelesen werden. Ort und Zeit der Handlung sind historisch relativ eindeutig iden­ti­fizier­bar: Mit der beschriebe­nen Ple­nar­sitzung ist die dritte Lesung des Deutsch­land­ver­trags und des EVG-Ver­trags (Europäische Vertei­di­gungs­ge­mein­schaft) am Donnerstag, dem 19. März 1953, im Bonner Parlament gemeint. Auch reale historische Personen lassen sich in Koeppens Ro­man­fig­uren wieder­erken­nen: Knurrewahn trägt Züge des SPD-Vor­sitzen­den Kurt Schumacher, während der namenlose Bun­deskan­zler stark an Konrad Adenauer erinnert.
  • Das Treibhaus ist laut Wolfgang Koeppen als Roman des Scheiterns zu lesen. Der eigentliche Gehalt liegt demnach nicht in der politischen Dimension des Buches, sondern in der Verge­blichkeit, mit der sein Held in einer ma­te­ri­al­is­tis­chen Welt sein Leben nach ide­al­is­tis­chen Maßstäben auszurichten versucht.
  • Die Figur des Felix Keetenheuve weist deutliche Parallelen zu Shake­speares Hamlet auf. Koeppen charak­ter­isiert seinen Helden sogar beinahe wörtlich mit einem Zitat aus Hamlets berühmtem Monolog als „Träumer von des Gedanken Blässe angekränkelt“. Hamlet und Keetenheuve (wie auch Koeppen selbst) eint zudem das melan­cholisch-ro­man­tis­che Naturell und daraus re­sul­tierend eine ex­is­ten­zielle Ver­loren­heit.
  • In Koeppens politischem Pessimismus schwingen die Ängste einer vom Krieg trau­ma­tisierten Generation mit. Er steht damit repräsentativ für jene Nachkriegs­deutschen, die, unfähig oder unwillig zu vergessen, fassungslos beobachteten, wie die Mehrheit ihrer Zeitgenossen die Flucht nach vorn antrat und in blindem Wieder­auf­baueifer ihren seelischen Schaden zu verdrängen suchte.
  • Der Titel des Romans spielt auf die damalige Bun­de­shaupt­stadt Bonn als Ort der Handlung an: Deren Kessellage im Rheintal bedingt eine Art „Treib­hausklima“. Zugleich verweist der Begriff „Treibhaus“ aber auch auf die Isolierung der Beruf­spoli­tiker in Bonn sowie ihren Verlust der Beziehung zum Volk.

His­torischer Hintergrund

Westbindung oder Wiedervere­ini­gung?

Mit dem Inkraft­treten des Grundge­set­zes am 23. Mai 1949 begann die Geschichte der Bun­desre­pub­lik Deutschland. Aus den ersten Bun­destagswahlen gingen die CDU als stärkste Kraft und der ehemalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer als Kanzler hervor. Allerdings besaß der neu gegründete Staat letztlich keine Souveränität; alle Entschei­dun­gen bedurften der Billigung durch die Hohe Kommission, die aus Vertretern der drei Westmächte bestand. Das Trauma des Zweiten Weltkriegs war noch frisch, die Siegermächte misstrauten den Deutschen.

Zugleich bestimmte ein neuer Konflikt die große Politik: der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion sowie ihren jeweiligen Bündnissen. Wollte Präsident Harry S. Truman hier nicht ins Hin­tertr­e­f­fen geraten, war er auf die BRD als starken Partner angewiesen. Entsprechend groß war sein Interesse am Aufbau bun­des­deutscher Streitkräfte. Adenauer erkannte die Chance und machte eine militärische Einbindung der BRD in die westliche Allianz von einem Abbau des Be­satzungssta­tus und dem Zugeständnis nationaler Souveränität abhängig. Doch die Wieder­be­waffnungs­frage war in der Bevölkerung überaus umstritten. Die Angst vor einem dritten Weltkrieg ging um. Auch einer par­la­men­tarischen Mehrheit konnte sich Adenauer keineswegs sicher sein. Aus Sicht der Opposition bedeutete die deutsche Beteiligung an einer von Frankreich vorgeschla­ge­nen Europäischen Vertei­di­gungs­ge­mein­schaft (EVG) das Ende aller Hoffnungen auf eine Wiedervere­ini­gung Deutsch­lands, die ja letztlich vom Wohlwollen Moskaus abhing. Adenauer hingegen setzte auf eine Politik der Stärke und Geschlossen­heit, die langfristig zum Fall des Kommunismus führen sollte. Die Kontroverse eskalierte zur Ver­fas­sungskrise. Nur gegen größten Widerstand, sogar aus dem eigenen Kabinett, brachte Adenauer die sogenannten Westverträge am 26. und 27. Mai 1952 durch den Bundestag.

Entstehung

Wolfgang Koeppen benötigte für seine schrift­stel­lerische Produktion starke äußere Anreize. Nach dem Krieg übernahm Verleger Henry Goverts für ihn die Rolle des strengen Mentors. Auf seine Anregung hatte Koeppen überhaupt das Schreiben wieder aufgenommen und mit Tauben im Gras (1951) auf sich aufmerksam gemacht. Ein fi­nanzieller Erfolg wurde der Roman aber nicht, und so sah sich Koeppen allein aus Geldnot gezwungen, weit­erzuschreiben. Um ungestört arbeiten zu können, nahm er sich ein Zimmer in einer Pension und ging nur zum Schlafen nach Hause; ein Arrangement, zu dem ihn eheliche Nöte zwangen, ausgelöst durch die Alkohol- und Tablet­ten­abhängigkeit seiner Frau. Anfang 1953 wurde Koeppen von Goverts eine Deadline gesetzt: Bis zum April sollte er das Manuskript vorlegen. Auf der Suche nach Lokalkolorit stellte Koeppen in Bonn, dem Schauplatz des Romans, Recherchen an, sprach mit Eingewei­hten des Poli­tik­be­triebs, um die Lebens- und Ar­beits­be­din­gun­gen seines Helden so realistisch wie möglich darstellen zu können. Das Manuskript entstand in Stuttgart, dem Sitz des Verlags, in ver­schiede­nen Hotels, und war im Sommer 1953 fertig. Gemeinsam mit Goverts machte Koeppen den Text druckfertig, wobei er sich von seinem Verleger zu einer weit­ge­hen­den Entschärfung ver­meintlich obszöner oder pornografis­cher Stellen überreden ließ. Im November 1953 kam das Buch heraus.

Wirkungs­geschichte

Goverts’ Befürchtungen, mit Das Treibhaus die Politik gegen sich aufzubrin­gen, eventuell gar mit Zensur oder einem Verbot des Werks rechnen zu müssen, be­wahrheit­eten sich nicht. Zwar ließ es sich beispiel­sweise Bundespräsident Theodor Heuss nicht nehmen, die lit­er­arische Qualität des Buchs in Zweifel zu ziehen, an­der­er­seits war von dem au­fla­gen­schwachen Roman eines lit­er­arischen Außenseiters nicht sonderlich viel zu befürchten. Ein Massen­pub­likum erreichte Koeppen mit Das Treibhaus nie. Die zeitgenössische Kritik reagierte gleichwohl mit teils scharfen Angriffen. Die Vorwürfe liefen im Großen und Ganzen darauf hinaus, Koeppen zum Nest­beschmutzer zu erklären, der sich, statt am Aufbau der jungen Demokratie teilzunehmen, in „porno-poli­tis­chem Nihilismus“ (Salzburger Nachrichten) ergehe. In Das Treibhaus erblickte man eine pauschale Dämonisierung der Politik. Dabei bestritt Koeppen immer wieder, überhaupt einen politischen Roman geschrieben zu haben. Für ihn war Das Treibhaus ein genuin lit­er­arisches Werk, mit einer „eigenen poetischen Wahrheit“ – angesichts der zahllosen Bezüge des Buchs auf konkretes politisches Geschehen ein fragwürdiger Vorbehalt.

Immerhin gab es auch Kritiker, die sich durch die subversive Kraft der Koeppen’schen Prosa nicht zu Ab­wehrreflexen provozieren ließen, auch regelrechte Bewunderer, für die Das Treibhaus einer vom angestrengten Optimismus der Ade­nauerzeit unterdrückten, skeptischen Minderheit eine Stimme gab. Später legte sich die Aufregung ganz und öffnete einer wis­senschaftlichen Betrachtung des Werks den Weg. Heute hat Das Treibhaus seinen festen Platz im Kanon der Nachkriegslit­er­atur, wurde erfolgreich verfilmt, auf die Bühne gebracht und als Hörspiel produziert.

Über den Autor

Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 als uneheliches Kind in Greifswald geboren. Der Vater erkennt den Sohn nie an, deshalb verbringt dieser seine Kindheit nur in der Obhut der Mutter, zunächst in Ortelsburg in Ostpreußen. Mit 13 Jahren kehrt er nach Greifswald zurück. Um Geld zu sparen, muss der ehemalige Gymnasiast die Mit­telschule besuchen, die er ohne Abschluss verlässt. 1919 beginnt er eine Buchhändlerlehre und hört Vorlesungen an ver­schiede­nen Universitäten, vor allem in den Fächern The­ater­wis­senschaft und Lit­er­aturgeschichte. Stationen als Dramaturg in Würzburg (1926) und Feuil­letonredak­teur beim Berliner Börsen-Courier folgen. Neben Theater-, Film- und Lit­er­aturkri­tiken entstehen auch erste lit­er­arische Arbeiten. Ende 1933 muss Koeppen seinen Redak­teur­sposten aufgeben. Er reist nach Italien und siedelt ein Jahr später in die Niederlande über. Zuvor erscheint sein erster Roman Eine unglückliche Liebe (1934) und ein Jahr später Die Mauer schwankt. 1938 kehrt Koeppen nach Deutschland zurück, weil er sich im Ausland keine Ex­is­ten­z­grund­lage hat schaffen können. In Berlin schreibt er Drehbücher für die UFA, zieht dann in die Nähe des Starnberger Sees und nach München um, wo er unter anderem für Bavaria-Film arbeitet. Von 1951 bis 1954 erscheinen seine drei Romane Tauben im Gras, Das Treibhaus und Der Tod in Rom, die als „Trilogie des Scheiterns“ den Autor in der lit­er­arischen Welt bekannt machen. Koeppen schreibt in der Folge, gefördert durch den als Kul­turredak­teur beim Süddeutschen Rundfunk arbeitenden Alfred Andersch, vermehrt Reiselit­er­atur: Ende der 50er- und Anfang der 60er-Jahre veröffentlicht er nach längeren Reisen Berichte über Russland, die USA und Frankreich. 1962 wird Koeppen der Büchner-Preis verliehen. Der Autor schreibt nur noch wenig, erst 1971 wagt er sich an den Prosaband Romanisches Café und 1976 an den au­to­bi­ografis­chen Roman Jugend. Koeppen, von der Kritik oft als großer Schweiger der deutschen Literatur bezeichnet, veröffentlicht bis zu seinem Tod vor allem kleinere Schriften, Erzählungen und weitere Reise­berichte. Er stirbt am 15. März 1996 in München.