Mythen des Alltags

Buch Mythen des Alltags

Paris, 1957
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Anleitung zur Mythenjagd

Einer der berühmtesten Mythen in Roland Barthesʼ Klassiker handelt vom Wrestling: „Dem Publikum ist völlig egal, ob beim Kampf getrickst wird oder nicht, und es hat Recht“, schrieb er 1957. „Wichtig ist ihm nicht, was es glaubt, sondern was es sieht.“ Ein französischer Semiologe als Prophet des post­fak­tis­chen Zeitalters? Sicher ist: Die Mythen haben sich seit den Anfängen der Massenkul­tur verändert. Doch sie bleiben ein Stützpfeiler unserer Gesellschaft: Was wäre die Fi­nanzin­dus­trie ohne den Glauben an die wundersame Geld­ver­mehrung? Was die Fifa ohne die Idee vom Völker verbinden­den Fußball? Und was Amerika ohne den amerikanis­chen Traum? Nicht der Mythos an sich, sondern sein Hang zur Erstarrung, Be­sitz­s­tandswahrung und Al­ter­na­tivlosigkeit ist das Problem. Als „spez­i­fis­ches Symptom aller Faschismen“ bezeichnet Barthes die Tendenz, eine mythol­o­gis­che Wahrheit ganz für sich zu beanspruchen und Kultur als Krankheit darzustellen. Mit scharfem Witz wappnet er seine Leser gegen die Nebelkerzen der Post­fak­tiker und ermuntert sie, jeden Tag von Neuem auf Mythenjagd zu gehen.

Take-aways

  • Roland Barthesʼ Mythen des Alltags gilt als Pionierwerk der Kultur- und Me­di­enkri­tik.
  • Inhalt: In 53 Streifzügen durch die französische All­t­agskul­tur nimmt Barthes Phänomene aufs Korn, hinter denen sich mys­ti­fizierte Botschaften verstecken – ob Racine, Reiseführer oder Radsport. Anschließend erklärt er Funktion und Wirkung des modernen Mythos: Dieser verwandelt men­schengemachte Tatsachen in unveränderliche Natur, mit dem Ziel, den kleinbürgerlichen Status quo zu bewahren.
  • Barthes wandte 1957 als Erster die struk­tu­ral­is­tis­che Ze­ichen­lehre auf die noch junge Massenkul­tur an.
  • Frankreich erlebte in dieser Zeit ein Wirtschaftswun­der und einen Konsumboom – aber auch den Zerfall seines Kolo­nial­re­ichs und den Aufstieg der Recht­spop­ulis­ten.
  • Barthes entzifferte Mythen, um deren kleinbürgerliche Ideologie zu entlarven.
  • Der Mythos ebnet laut Barthes Widersprüche ein und inszeniert eine eindeutige Welt.
  • Mit seiner oft glossen­haften Herange­hensweise wollte Barthes den strengen Wis­senschafts­be­trieb un­ter­wan­dern, von dem er sich aus­geschlossen fühlte.
  • Später betätigte er sich unter anderem als Mod­ekri­tiker und semi­ol­o­gis­cher Berater für Wer­beagen­turen.
  • Heute gilt er als wichtiger moderner Denker, der uns gelehrt hat, die Welt neu zu lesen.
  • Zitat: „Der Mythos verbirgt nichts und stellt nichts zur Schau; er deformiert. Der Mythos lügt nicht und gesteht nichts; er verbiegt.“
 

Zusammenfassung

Mythische Dinge und Stoffe

Der Mythos als solcher ist eine Botschaft, und diese kann auch in Objekten enthalten sein. Zum Beispiel im Citroën DS, der liebevoll „Déesse“ (Göttin) genannt wird. Wenn Bewunderer mit der Hand über die glänzenden Kotflügel der Göttin streichen, scheint sie geradezu magische Kräfte zu besitzen. Automobile sind in dieser Hinsicht die Kathedralen der Neuzeit. Ein anderes Beispiel ist das Material Plastik: Dessen Magie und zugleich Banalität liegt in seiner Wandlungsfähigkeit. Der Wert bestimmt sich einzig aus dem Gebrauch. Doch anders als früher streben die modernen Alchimisten nicht danach, die Natur zu imitieren, sondern danach, sie durch einen Kunststoff komplett zu ersetzen. Plas­ti­fiziertes Spielzeug soll Kinder die Benutzung der Welt lehren, ohne sie auf den abwegigen Gedanken zu bringen, sie könnten kreativ Einfluss auf sie nehmen. Vielmehr geht es darum, die kleinbürgerliche Existenz der Eltern perfekt nachzuahmen, um so in die künftige Rolle als Eigentümer hineinzuwach­sen.

„Die ganze Welt kann plas­ti­fiziert werden, auch das Leben selbst, denn angeblich beginnt man bereits, Aorten aus Plastik herzustellen.“ (S. 225)

Ein wichtiges Medium zum Transport von Kon­sum­mythen ist die Reklame. Sie schreibt profanen Dingen wie Waschmittel und Hautcremes magische Qualitäten zu. Ein Klei­dungsstoff, dessen mysteriöse Abgründe uns gar nicht bewusst waren, wird einer „Tiefen­reini­gung“ unterzogen. Und die neuen Feuchtigkeitscremes entfalten mit ihren Vi­tal­stof­fen Tiefen­wirkung, indem eigentlich unversöhnliche Substanzen wie Fett und Wasser eine wundersame Verbindung eingehen: Damit das allzu flüchtige Wasser faltige Gesichter glätten kann, wird es vom Nähr- und Schmier­mit­tel Fett in tiefere Schichten geleitet.

Mythen der Frau

Laut der Zeitschrift Elle sollen Frauen Romane schreiben und Kinder kriegen. Frauen scheinen innerhalb ihrer Sphäre alle Freiheiten zu genießen – solange sie ihre Abhängigkeit vom Mann anerkennen. Ähnlich ist es mit der Kum­merkas­ten­rubrik in vielen Il­lus­tri­erten: Hier sind die Rat suchenden Frauen stets als weibliche, nicht als gesellschaftliche Wesen präsent. Statt über ihre soziale Lage definieren sich die Jungfrauen, Ehefrauen oder Witwen über ihr Verhältnis zum Mann. Sie werden zu Parasiten her­abgestuft. Der Rat, den man ihnen gibt, zielt darauf ab, es sich nicht mit dem Wirt­se­le­ment Mann zu verderben.

Mythen des Sports

Das Radrennen Tour de France enthält sämtliche Elemente des homerischen Epos: Die Helden, deren Namen auf archaische Weise ihre ethnische Zugehörigkeit verraten, sind keine Individuen, sondern Typen. Sie kämpfen mit großer Geste und mit der Kraft von Halbgöttern gegen mörderische Steigungen und monströse Naturge­wal­ten und bestehen grausame Prüfungen. Der Mythos der Tour ist realistisch und utopisch zugleich: In ihm leuchtet für einen kurzen Moment eine Welt auf, in der der Mensch jenseits aller ökonomischen Zwänge und Motive mit sich, seiner Gemein­schaft und dem Universum im Reinen ist.

„Glaubt man der Frauen­zeitschrift Elle, die jüngst auf einem Foto 70 Ro­ma­nau­torin­nen versammelte, so gehören Schrift­stel­lerin­nen zu einer merkwürdigen zo­ol­o­gis­chen Gattung: Sie bekommen abwechselnd Romane und Kinder.“ (S. 71)

Das Wrestling funk­tion­iert hingegen wie ein antikes Schauspiel. Vor den Augen des verzückten Publikums wird gestöhnt, gelitten und triumphiert. Es geht nicht um einen spannenden Kampfver­lauf, denn die Rollen stehen von vornherein fest. Die Physis des Catchers bestimmt wie im antiken Theater die Persona – ob er ein Schwein ist oder ein Held. Wichtig ist, dass der Schurke für seine Nieder­tra­cht bezahlt. Das Publikum lechzt nach Rache. Für einen kurzen Moment wähnt es sich in einer Welt ohne Widersprüche und Deu­tung­sprob­leme. Es ist eine gerechte Welt.

Die Diktatur des gesunden Men­schen­ver­stands

Im Zentrum der kleinbürgerlichen Mythologie steht das Prinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Zwis­chen­men­schliche Beziehungen werden unter Berufung auf den gesunden Men­schen­ver­stand sorgfältig abgewogen, berechnet und beglichen. Dessen größter Feind ist die Dialektik abgehobener In­tellek­tueller, die angeblich jeden Kontakt zur Wirk­lichkeit – sprich zur Lebenswelt der kleinen Leute – verloren haben. Die Ver­her­rlichung von Identität, die Ablehnung von Ver­schiedenem, die Berufung auf eine unverrückbare Natur der Dinge und die Bewahrung einer erstarrten Welt stehen im Zentrum dieser Philosophie.

„Was das Publikum verlangt, ist das Bild der Lei­den­schaft, nicht die Lei­den­schaft selbst. Ein Wahrheit­sprob­lem gibt es beim Catchen so wenig wie beim Theater.“ (S. 19)

Die in­tellek­tu­alitäts­feindlichen Kleinbürger projizieren ihre eigene Schwäche auf die Gegenseite, bezeichnen als dummes Geschwafel, was sie nicht verstehen, und als obskur, wofür sie blind sind. Grundsätzlich nehmen sie andere nur als ein mehr oder weniger gelungenes Abbild ihrer selbst wahr. Denker sind für sie schwachbrüstige Faulpelze, unfähig und unwillig zu harter, körperlicher Arbeit. Zwei Rassen werden einander gegenübergestellt: die starken, pa­tri­o­tis­chen und gerissenen Gallier der Provinz auf der einen – und die matten, dekadenten, verkopften Vater­landsverräter in Paris auf der anderen Seite.

Mythen der Kunst

Die Manie, qualitative Werte quantitativ messen zu wollen, hat auch das moderne Theater erfasst – womit es sich kaum noch vom bürgerlichen un­ter­schei­det. Auf der Bühne wird geschwitzt, gespuckt und geheult, als ließe sich Lei­den­schaft in Litern abgeson­derter Körpersäfte ermitteln. Dabei handelt es sich um bloßen Formalismus, der letztlich die Höhe des Ein­trittspreises recht­fer­ti­gen soll. Die bürgerliche Gesellschaft kennt daneben viele Methoden, sich ihre Künstler gefügig zu machen. Eine davon ist die Ver­her­rlichung des Schrift­stellers in den Ferien. Einerseits gewährt man ihm die pro­le­tarische Er­run­gen­schaft des bezahlten Urlaubs. An­der­er­seits soll er gefälligst arbeiten. Seine Kunst wird mithilfe des Banalen mys­ti­fiziert, indem man ihn Weichkäse essend im Pyjama präsentiert. Denn was könnte er, der so nonchalant das Noble mit dem Nichtigen vereint, anderes sein als ein Gott?

„Wir wissen jetzt, was für das Kleinbürgertum Wirk­lichkeit ist: nicht einmal das Sichtbare, sondern nur das Zählbare.“ (S. 112)

Der Fall des ver­meintlichen Lit­er­atur­wun­derkinds Minou Drouet gilt vielen als krim­i­nal­is­tis­ches Geheimnis: Kann die Achtjährige die ihr zugeschriebe­nen Gedichte selbst verfasst haben? Oder steckt doch die böse Stiefmutter dahinter? Es ist unmöglich, diese Frage zu entscheiden, wenn nicht klar ist, was Dichtung und Kindheit überhaupt bedeuten. Da ist einerseits der Glaube an das kindliche Genie, die Gle­ich­set­zung von Talent mit einer göttlichen Gabe. An­der­er­seits spielt die kap­i­tal­is­tis­che Idee der Zeit­erspar­nis eine Rolle: Genies schaffen nach dieser Lesart mit acht, was die meisten erst als Erwachsene erreichen. Wieder andere begrüßen die vielen Metaphern in ihrer Dichtung und halten Minous nervöses Geplapper deshalb für Kunst. Auf der Strecke bleibt das Mädchen selbst: Die Mythen über Poesie und Kindheit machen sie zur Gefangenen der bürgerlichen Ordnung.

Mythen des Kolo­nial­is­mus

Ein junges Ehepaar will das Leben angeblicher Kannibalen in Afrika erforschen und nimmt sein kleines Baby Bichon mit. Diese im Paris Match erzählte Geschichte ist ein Pa­rade­beispiel für den Negermythos: Der kleine Bichon „zähmt“ mit blonden Locken und un­schuldigem Lächeln die Men­schen­fresser. Durch die Augen des Kindes betrachtet der Leser Afrikaner wie Handpuppen in einem Kasper­lethe­ater, bar jeglicher In­di­vid­u­alität und Autonomie.

„Tatsächlich ist jeder Vorbehalt gegenüber Bildung eine ter­ror­is­tis­che Position.“ (S. 45)

Die französische Nordafrikapoli­tik bedient sich einer ma­nip­u­la­tiven Sprache, um ähnliche Ziele zu erreichen: Mit dem Begriff „Bevölkerung“ etwa werden ver­schiedene Gruppen und Min­der­heiten zu einem geschicht­slosen Haufen; Worte wie „Ehre“, „Mission“ oder „Schicksal“ sind Leer­stel­len­worte, die einen scheinbar unveränderlichen Naturzu­s­tand suggerieren. Unterstützt wird diese Ver­schleierungstak­tik, indem die Sprache sys­tem­a­tisch sub­stan­tiviert wird und Verben bestenfalls eine vage Zukunft beschreiben.

Der Mythos von der Men­schheits­fam­i­lie

Eine Fo­toausstel­lung in Paris zeigt den Menschen in all seiner exotischen Vielfalt – mit un­ter­schiedlichen Hautfarben, Riten und Glaubens­for­men –, nur um diese sogleich auf die Idee einer „men­schlichen Natur“ zu reduzieren und aller Geschichtlichkeit zu berauben. Geburt, Arbeit und Tod, so die Botschaft, sind überall gleich. Dies ist ein bequemer Mythos: Warum sollten wir über un­ter­schiedliche Kinder­sterblichkeit oder unwürdige Ar­beits­be­din­gun­gen in fernen Ländern nachdenken, wenn wir doch alle Teil einer Men­schheits­fam­i­lie sind?

„Literatur beginnt (…) erst im Angesicht des Unnennbaren, der Wahrnehmung eines Anderswo, das der Sprache, die nach ihm sucht, fremd ist.“ (S. 207)

Der Exotismus in einem ital­ienis­chen Doku­men­tarfilm über den Fernen Osten folgt dem gleichen uni­ver­sal­is­tis­chen Mythos: Buddhisten prak­tizieren demnach lediglich eine etwas andere Form des Katholizis­mus. Der aufs Meer hin­aus­fahrende Fischer wird vor kitschigem Abendrot nicht als Arbeiter, sondern als Teil der ewigen Men­schheit­snatur idealisiert. In diesen Mythos reihen sich auch die Flüchtlingstrecks ein, die zu Beginn des Films gezeigt werden – als Ausdruck eines ver­meintlich unveränderlichen fernöstlichen Wesens.

Die Entstehung des Mythos

In Wahrheit ist der Mythos immer historisch und niemals natürlich. Nichts wird zwangsläufig zum Mythos, und niemals währt dieser ewig. Die Botschaft des Mythos kann verbal oder visuell, mittels Film, Schauspiel, Werbung, Literatur oder Fotografie trans­portiert werden. Sein ze­ichen­the­o­retis­ches System lässt sich anhand eines Rosenstraußes verdeut­lichen. Ein solcher Strauß kann als Zeichen von Lei­den­schaft gesehen werden. In diesem Zeichen ver­schmelzen die zunächst unabhängigen Elemente „Rose“ (Beze­ich­nen­des) und „Lei­den­schaft“ (Beze­ich­netes) zu einem neuen Ganzen. Der Mythos geht einen Schritt weiter: Er verwandelt das Zeichen in einen simplen Zeichenträger mit übergestülpter Bedeutung. Ein Beispiel hierfür ist das Bild eines jungen Negers in französischer Uniform, der einer imaginären Trikolore den militärischen Gruß erweist. Aus dem bloßen Zeichen – salu­tieren­der dunkelhäutiger Junge – wird eine Bedeutung: die Recht­fer­ti­gung des französischen Kolo­nial­re­ichs. Ein Schwarzer, der seinen ver­meintlichen Unterdrückern die Ehre erweist – das erklärt sich scheinbar von selbst.

Nat­u­ral­isierte Geschichte

Der Mythos ist parasitär: Er bemächtigt sich des Sinns, zehrt von ihm, lässt ihn verdorren und verformt ihn. Er nimmt dem Negersol­daten seine in­di­vidu­elle Geschichte und entfremdet ihn – ohne ihn jedoch zu vernichten, denn damit würde auch der Mythos sterben. Vor allem aber ist der Mythos, anders als das sprachliche Zeichen, motiviert: Im Fall des salu­tieren­den Negersol­daten besteht das Motiv darin, die men­schengemachte Tatsache des Kolo­nial­is­mus zu entfernen. Der Mythos verklärt den französischen Im­pe­ri­al­is­mus zu einem ewigen Naturgesetz. Seine Aufgabe ist es, Geschichte in Natur zu verwandeln und Zufall in Ewigkeit. Das Reale wird seiner Bedeutung beraubt und die Rede ent­poli­tisiert.

„Im Grunde hat der Neger kein voll­w­er­tiges autonomes Leben. Er ist ein bizarres Objekt, dem nicht mehr als eine parasitäre Funktion zukommt, nämlich durch seine vage bedrohliche Seltsamkeit, den Weißen zur Un­ter­hal­tung zu dienen: Afrika ist ein Kasper­lethe­ater, das ein bisschen gefährlich ist.“ (S. 84)

Natürlich gibt es un­ter­schiedliche Rezeptionsmöglichkeiten: Der zynische Mythen­pro­duzent, zum Beispiel ein Zeitschriftenredak­teur, macht den Negersol­daten zu einem Symbol für die französische Kolo­nial­macht und schafft so den Mythos. Der kritische Mythologe demaskiert das Bild als Alibi und zerstört den Mythos. Der Mythenkon­sument erkennt in dem salu­tieren­den Soldaten das eigentliche Wesen des französischen Im­pe­ri­al­is­mus, da dieser in den Naturzu­s­tand übergegangen zu sein scheint. Werte werden für ihn zu Tatsachen.

Der Mythos als Bewahrer des Status quo

Der Mythos ist für die bürgerliche Gesellschaft überlebenswichtig – zumal für die heutige Bourgeoisie, die sich darüber definiert, nicht so genannt werden zu wollen. Groß- und Kleinbürgertum haben sich miteinander verbündet. Der Begriff „Bourgeoisie“ hat sich in dem der Nation aufgelöst. Die bürgerliche Kon­sumkul­tur wird als natürlich wahrgenom­men und kaum hinterfragt. Zwar rebelliert die Avantgarde mitunter dagegen, doch wird dieser Protest nie politisch, schließlich sind ihre Vertreter selbst Teil der Bourgeoisie oder von ihr abhängig.

„Überall in der Nation praktiziert, werden die bürgerlichen Normen als die selbstverständlichen Gesetze einer natürlichen Ordnung erlebt.“ (S. 292)

Wo Sprache die Veränderung von Wirk­lichkeit zum Ziel hat, anstatt diese als Bild zu verewigen, wird sie politisch. Eine revolutionäre Sprache kann deshalb nicht mythisch sein. Die Revolution wird jedoch ihrerseits zum linken Mythos, sobald man sie ent­poli­tisiert und von der Handlung in einen Naturzu­s­tand übergehen lässt. Ein Beispiel hierfür war lange Zeit der Mythos Stalin. Auf den Alltag in der bürgerlichen Gesellschaft hat der linke Mythos jedoch keinen Einfluss. Statistisch betrachtet entfaltet sich der Mythos vor allem rechts in seiner vollen Pracht. Er vereinnahmt Moralvorstel­lun­gen, Ver­hal­tensnor­men, Haushalts­gebräuche und die Kunst. Sein Ziel ist es, die bürgerliche Ideologie zu bewahren. Der Mythos will die Menschen daran hindern, die Welt zu verändern und neu zu erfinden.

Zum Text

Aufbau und Stil

Mythen des Alltags besteht aus zwei Teilen: Zunächst deckt Barthes in 53 meist kurzen, feuil­leton­is­tis­chen Artikeln die Mythen hinter bekannten Alltagsphänomenen seiner Zeit auf – vom pa­tri­o­tis­chen Subtext der Nahrungsmit­tel Beefsteak, Pommes Frites, Wein und Milch über den bizarren Auftritt eines amerikanis­chen Predigers in Paris bis hin zur „afrikanis­chen Grammatik“, jenen Sprachkon­ven­tio­nen, die den Al­ge­rienkrieg recht­fer­ti­gen sollten. Der Autor vermittelt dabei den Eindruck eines Flaneurs, der eine Kul­tur­land­schaft im Wandel durch­streift. Er pflückt mit leichter Hand die tollsten Stilblüten aus Il­lus­tri­erten, demontiert Reklametafeln und verwüstet die akkuraten Vorgärten des französischen Kleinbürgertums. Im zweiten Teil des Buches liefert er das the­o­retis­che Grundgerüst für seine Arbeit, indem er die struk­tu­ral­is­tis­che Ze­ichen­lehre von Ferdinand de Saussure adaptiert und auf die Phänomene der entste­hen­den Massenkul­tur anwendet. Dabei geht er auch darauf ein, dass der iro­nisch-dis­tanzierte Blick des Mythologen teuer erkauft ist: „Die Tour de France oder den guten französischen Wein entziffern heißt sich von denen entfernen, die sich damit ablenken, die sich dafür begeistern.“ Für die Leser ist das ein Glück, denn selten war Enttäuschung ein derartiges Vergnügen wie bei Roland Barthes.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die von Barthes beschriebe­nen Mythen des Alltags – ob in der Werbung, in der Mode oder im Film – sind für die moderne Gesellschaft, was die homerischen Epen für die Antike waren: Sie vermitteln Werte, schaffen Identitäten und zementieren Weltbilder. Mittel und Zweck ist die Nat­u­ral­isierung alles Men­schengemachten. Die Komplexität men­schlicher Beziehungen wird reduziert, Widersprüche werden eingeebnet. Der Mythos stülpt dem Menschen so eine falsche Natur über.
  • Aufgabe des Mythologen ist es laut Barthes, die Zeichen der Alltagswelt in ihre Einzelteile zu zerlegen und neu zusam­men­zuset­zen. Erst die Entz­if­fer­ung der allgegenwärtigen Mythen versetzt uns in die Lage, Kultur- und Ide­olo­giekri­tik zu üben, die Dummheit der Macht zu entlarven und ihr nicht selbst auf den Leim zu gehen. Ziel sei „eine Versöhnung zwischen dem Wirklichen und dem Menschen“.
  • Barthes sieht allen Es­sen­zial­is­mus als Täuschung – zum Beispiel den Glauben, dass es ein typisch französisches, weibliches oder kindliches Wesen gebe. Alle Kategorien sind seiner Ansicht nach sozial konstruiert. Der Mythos bedient sich unter anderem der Tautologie („Theater ist Theater“), der Projektion des eigenen Selbst auf Dritte und der Verklärung des gesunden Men­schen­ver­stands, um künstliche Identitäten zu schaffen.
  • Der Mythos ist immer noch politisch wirksam: Er verwandelt ide­ol­o­gis­che Strategien in ökonomische Notwendigkeiten, Einzelin­ter­essen in nationale Schick­sals­fra­gen und Mei­n­ungss­chwäche in den goldenen Mittelweg. Der Lieblings­feind von Barthes, das kritiklos Mythen kon­sum­ierende Kleinbürgertum, scheint sich überlebt zu haben. Doch der Mythos hat nichts von seiner Wirkmacht verloren.
  • Der Autor macht Semiologie (Ze­ichen­the­o­rie) all­t­agstauglich, indem er sie aus dem Elfen­bein­turm herausholt und auf massenkul­turelle Phänomene anwendet. Anders als viele seiner Kollegen hat Roland Barthes die Wis­senschaft sowohl praktiziert als auch kommentiert. Ihm ging es um die „Lust am Text“. Er gilt deshalb vielen als Urvater der jour­nal­is­tis­chen Glosse und der Kul­tur­wis­senschaften.

His­torischer Hintergrund

Wirtschaftswun­der und nationaler Niedergang

Die 1950er-Jahre waren in Frankreich wie vielerorts in Westeuropa vom Wirtschaftswun­der geprägt. Nach den Ent­behrun­gen der Kriegszeit winkte ein bisschen Wohlstand für alle: Mixer, Staubsauger und Waschmaschi­nen sparten Zeit im Haushalt, ein Som­merurlaub am Meer und selbst ein kleines Auto wurden für viele er­schwinglich. Es schlug die große Stunde der Werbung und der Massen­me­dien: In Zeiten eines gren­zen­losen Fortschritts­glaubens war es ein Kinderspiel, die Wunder der schönen, neuen Konsumwelt an den Mann zu bringen.

Doch der wirtschaftliche Aufschwung wurde von politischen Krisen überschattet: 1954 begann mit dem Verlust von Französisch-In­dochina die Auflösung des französischen Kolo­nial­re­ichs – ein Prozess, der sich in Afrika fortsetzte und 1962 mit der Niederlage Frankreichs im Al­ge­rienkrieg endete. Die Mehrheit der Franzosen, darunter auch viele Vertreter der politischen Linken, empfanden den Verlust nationaler Größe als Tragödie. Zudem erwies sich die Vierte Französische Republik (1946–1958) als extrem instabil. In zwölf Jahren waren 21 ver­schiedene Pre­mier­min­is­ter im Amt – eine offene Flanke für pop­ulis­tis­che Bewegungen. 1955 gründete Pierre Poujade mit der UDCA (Union de défense des commerçants et artisans, zu Deutsch: Union zur Vertei­di­gung der Händler und Handwerker) eine ras­sis­tis­che und an­ti­in­tellek­tuelle Protest­partei gegen die Mod­ernisierungspoli­tik, von der sich immer mehr Franzosen abgehängt fühlten. Ein Jahr später erlangte die Partei 11,6 Prozent der Stimmen und entsandte 52 Abgeordnete in die Na­tion­alver­samm­lung. Der damals jüngste von ihnen ist heute ein alter Bekannter: Jean-Marie Le Pen, der Gründer des recht­sex­tremen Front National.

Entstehung

Roland Barthes war ein scharfer Beobachter der kulturellen und politischen Umbrüche seiner Zeit: Er hatte in Frankreich, Rumänien und Ägypten als Lehrer und Lektor gearbeitet, als er 1954 mit einer Ar­tikelserie für die französische Lit­er­aturzeitschrift Les Lettres nouvelles begann. Bis 1956 schrieb er unter der Rubrik „Mythos des Monats“ 53 Glossen über Phänomene der All­t­agskul­tur, die er in Tageszeitun­gen und Frauen­zeitschriften – Elle bezeichnete er als „wahres mythol­o­gis­ches Schatzkästlein“ –, im Kino, in der Werbung oder in Kaufhäusern aufspürte.

Barthes nannte sich selbst einmal einen „Mythenjäger“: Er ging regelmäßig auf die Pirsch und hielt seine Eindrücke, Erken­nt­nisse und As­sozi­a­tio­nen im Lauf seines Lebens auf 17 000 Karteikarten fest, ohne jemals ausdrücklich den Aufbau einer Denkschule anzustreben. Denn von der akademis­chen Elite fühlte er sich aus­geschlossen: Während er im Kampf gegen die Tuberkulose Jahre in Sanatorien verbrachte, dabei Marx, Gide und Brecht las und Gedanken­fet­zen notierte, machten seine Kollegen Karriere. Seine Ho­mo­sex­u­alität, zu der er sich erst spät bekannte, verstärkte das Gefühl von Entfremdung und Zer­ris­senheit. Mit den un­ortho­doxen Mythen des Alltags wollte der Außenseiter nicht nur kleinbürgerliche Lebenslügen entlarven, sondern auch die Mechanismen der tra­di­tionellen Wis­senspro­duk­tion un­ter­wan­dern. Dennoch versuchte Barthes, seinen Beobach­tun­gen in Anlehnung an Ferdinand de Saussures Ze­ichen­lehre einen method­is­chen Überbau zu verschaffen, bevor die gesammelten Glossen 1957 in Buchform erschienen.

Wirkungs­geschichte

Manche Leser waren damals überzeugt, dass der knapp 60-seitige Theorieteil das Hauptstück des Buches sei. So erschien 1964 die deutsche Übersetzung mit dem Hinweis des Verlags, man habe „einige kürzere Texte des ersten Teils“ (will heißen: drei Viertel des gesamten Textvol­u­mens) weggelassen, weil sich dem deutschen Leser die Be­tra­ch­tun­gen zur französischen All­t­agskul­tur nicht erschlossen hätten. Erst 2010 wurden die Mythen des Alltags in ihrer Gesamtheit auf Deutsch veröffentlicht. Die Kritik rieb sich angesichts ihrer Aktualität die Augen: Barthesʼ beißende Analysen des Poujadismus, so die einhellige Meinung, ließen sich eins zu eins auf die dumpfe Rhetorik heutiger Populisten übertragen.

Sein Versuch einer politischen Theorie des Mythos scheint dagegen etwas aus der Zeit gefallen. „Die Mythen des Kleinbürgertums sind umgeschla­gen in den Mythos vom Kleinbürgertum“, urteilte der Romanist Ottmar Ette. In späteren Jahren begegnete Barthes den bürgerlichen Mythen zudem mit einer Geschmei­digkeit, die so gar nicht zum klassenkämpferischen Duktus seines Frühwerks passen wollte – als Modeexperte für Marie Claire etwa oder als semi­ol­o­gis­cher Berater für Wer­beagen­turen. Auf jeden Fall inspirierte er nicht nur Post­struk­tu­ral­is­ten wie Michel Foucault, Jacques Lacan und Jacques Derrida. Vielmehr kann sein Werk bis heute als Auf­forderung gelesen werden, verborgene Botschaften dort zu suchen, wo man sie am wenigsten vermutet. Oder wie es im Klappentext einer aktuellen Biografie heißt: „Roland Barthes hat die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­derts das Lesen gelehrt.“

Über den Autor

Roland Barthes wird am 12. November 1915 in Cherbourg in der Normandie geboren. Er ist noch kein Jahr alt, als sein Vater, ein Mari­ne­of­fizier, bei einer Schlacht in der Nordsee stirbt. Mutter Henriette, Tochter des berühmten Afrikaforsch­ers und Kolo­nial­beamten Louis-Gus­tave Binger, zieht mit ihm zunächst zur Familie ihres Mannes in den Südwesten Frankreichs und später nach Paris. Die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen. Henriettes Eltern sind wohlhabend, doch nach der unehelichen Geburt von Rolands Halbbruder Michel 1927 verweigern sie jegliche finanzielle Unterstützung. Henriette arbeitet als Buch­binderin, um ihre Söhne zu ernähren. Zwischen 1935 und 1943 studiert Roland Barthes an der Sorbonne Literatur, Grammatik und Philologie. Aufgrund einer Tu­berku­loseerkrankung verbringt er mehrere Jahre in Sanatorien und wird vom Militärdienst befreit. Die Krankheit steht einer tra­di­tionellen akademis­chen Karriere im Weg: Mehrmals versucht er zu promovieren – ohne Erfolg. 1947 geht er als Bib­lio­thekar nach Bukarest und 1949 als Dozent an die ägyptische Universität von Alexandria, wo er den Linguisten Algirdas Greimas kennenlernt und eine Beziehung mit ihm beginnt. Barthesʼ Debüt Am Nullpunkt der Literatur (Le Degré zéro de lʼécriture, 1953) gilt bald als Manifest einer radikal neuen Textkritik. Sie richtet sich auch gegen den etablierten Wis­senschafts­be­trieb, von dem Barthes sich aus­geschlossen fühlt. In den Mythen des Alltags (Mythologies) baut er 1957 die angewandte Ze­ichen­the­o­rie weiter aus. Ab 1960 un­ter­richtet er an der École pratique des hautes études. Erst 1976 wird er auf Betreiben Michel Foucaults an den eigens für ihn geschaf­fe­nen Lehrstuhl für Semiologie der Literatur am renom­mierten Collège de France berufen. 1977 erscheint mit Fragmente einer Sprache der Liebe (Fragments dʼun discours amoureux) sein er­fol­gre­ich­stes Buch. Im selben Jahr stürzt ihn der Tod der Mutter in tiefe De­pres­sio­nen. Sein Vorhaben, einen Roman zu schreiben, ver­wirk­licht er nicht mehr. Roland Barthes stirbt am 26. März 1980 im Alter von 64 Jahren an den Folgen eines Verkehrsun­falls.