Das Wesen der Komplexität
Komplexe Systeme sind mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Ihre Entwicklung ist nicht vorhersehbar, denn spontan können sich neue Zusammenhänge bilden, die nicht zu erahnen waren. Wenn Systeme aus Menschen bestehen (Gesellschaft, Unternehmen), ist es umso schwieriger, die Entwicklungen vorauszusagen. Menschen sind per se unberechenbar. Unternehmen verhalten sich wie eine Miniaturgesellschaft, deren Entwicklung zahlreiche Risiken beinhaltet. Unternehmen müssen kontrolliert und gesteuert werden. Dafür sind keine komplexen Methoden erforderlich: Je einfacher Sie die Steuerungselemente wählen, desto besser. Wenn Sie jedoch die Steuerung unterlassen, fällt der Betrieb in seine „Urgenetik“ zurück und macht, was er will. Für Unternehmenslenker geht es darum, das Chaos zu bekämpfen. Ordnen und Leiten gehören zu ihrem Job. Je größer die Komplexität und je geringer die Robustheit eines Betriebe , desto größer die Risiken. Kennzahlen zur Steuerung eines Betriebs sind übrigens nicht wichtig, denn Unternehmenskrisen treten trotz unzähliger Kennzahlen auf. Konzentrieren Sie sich lieber auf die berühmten „weichen Faktoren“.
Die Risiken komplexer Unternehmen
Um der Komplexität in Firmen Herr zu werden, schaffen Manager immer neue Steuerungselemente und glauben, die Probleme so in den Griff zu bekommen. Diese vermeintlichen Stabilisierungsmaßnahmen erhöhen jedoch die Komplexität weiter. Es entstehen neue Schwachstellen, jede Maßnahme schwächt das System weiter. Gerade in schwierigen Zeiten, wie der aktuellen Wirtschaftskrise, zeigen sich die Schwachstellen. Oft ist es dann zu spät, gegenzusteuern.
Der Unfug der Bonitätsratings
Der Glaube, dass mit der Bewertung einer Rating-Agentur die Gefahr der Insolvenz oder gar der Krise gebannt ist, ist Unfug. Die Bonitätsnoten erheben zwar den Anspruch, den Gesundheitszustand eines Unternehmens wiederzugeben. Doch dank des guten Ratings macht sich dann die Führungsspitze oft nicht die Mühe, sich mit den Daten und den Hintergründen im Detail auseinanderzusetzen. Jedes Rating gibt nur eine Momentaufnahme statistischer Informationen wieder. In einem turbulenten Wirtschaftsumfeld ändern sich jedoch die Rahmendaten täglich. Jede Form der Vereinfachung, und damit auch das Rating, ist höchst fragwürdig. Zudem handelt es sich um einen äußerst subjektiven, fehleranfälligen Prozess, der sich mit einem Autocrashtest vergleichen lässt. Ob ein „sicheres“ Auto im Straßenverkehr wirklich so sicher ist, kann nicht in einem Testlabor unter klinischen Bedingungen festgestellt werden. Es hängt vielmehr von den individuellen Umständen zum Zeitpunkt des Unfalls ab: vom Winkel des Aufpralls, von der Geschwindigkeit des entgegenkommenden Fahrzeugs usw. Fazit: Ratings können als Orientierungshilfe dienen. Entscheider müssen sich jedoch darüber hinaus eine eigene qualifizierte Meinung bilden.
Die Pflicht zum Risikomanagement
Wichtig ist es, dass Sie sich ein Bild vom großen Ganzen machen und die Wirkungszusammenhänge aufschlüsseln, um Risiken richtig einschätzen zu können. Dabei müssen Sie sowohl weiche als auch harte Faktoren einbeziehen. Im Übrigen sind die Organe einer Gesellschaft sogar gesetzlich verpflichtet, die Komplexität zu überwachen. Beispielsweise das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) und das Aktiengesetz (AktG) schreiben das vor. So verpflichtet das KonTraG die Vorstände von Unternehmen, ein Risikomanagement zu installieren. Und gemäß AktG muss der Aufsichtsrat der Frage nachgehen, ob ein Risikosystem eingerichtet ist und inwieweit es die rechtzeitige Erkennung relevanter Risiken sicherstellt. Das leistet ein System dann, wenn alle internen und externen Schnittstellen, Beziehungen und Szenarien abgebildet werden.
Die Steuerbarkeit komplexer Systeme
Als Grundlage für die Steuerung eines Unternehmens dient folgende Gleichung: systembedingter Risikograd = Komplexität / Robustheit des Systems. Die Robustheit des Systems entspricht der Lebensfähigkeit des Betriebs. Die Führung eines Unternehmens findet grundsätzlich auf den drei Ebenen Management, Leadership und Entrepreneurship statt, die keineswegs deckungsgleich sind. Diese Ebenen müssen gut aufeinander abgestimmt sein:
- Management: Hierzu gehört die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und ganzheitliche Lösungen zu entwickeln. Dies beinhaltet nicht zwangsläufig das Führen von Mitarbeitern. Vielmehr geht es darum, ziel-, sach-, und aufgabengerecht zu arbeiten.
- Leadership: Die eigentliche Arbeit lässt die Führungskraft durch ihre Mitarbeiter erledigen. Sie ist der Dirigent des Orchesters. Ihre Hauptkompetenz liegt in der Führung. Die Gesamtausrichtung, die Mission und das Vorleben derselben sind die Kernpunkte des Handelns einer Führungskraft. Soziale und emotionale Intelligenz sind wichtig, um die Mitarbeiter zu motivieren und gezielt einsetzen zu können.
- Entrepreneurship: Dabei handelt es sich um die unternehmerische Gabe, eine Existenz aufbauen zu können. Der Entrepreneur ist der Komponist, der für das Orchester das Werk erstellt. Er ordnet, organisiert, lenkt. Der Entrepreneur sollte sich guter Führungskräfte bedienen, um seine Geschäftsidee zu kommunizieren, und er braucht gute Manager, um operativ voranzukommen.
„Gier ohne gesetzliche und moralische Beschränkungen kann alles zerstören, was Leben lebenswert macht.“
Ziel ist es, unvorhergesehenen Situationen zu begegnen, indem Sie einzigartige Lösungen auf einer Metaebene entwickeln, oder anders gesagt: indem Sie hochflexible Optionen haben.
Die Lebensfähigkeit des Unternehmens bleibt am besten erhalten, wenn Sie flexibel auf die jeweiligen Situationen reagieren. Wichtig ist auch, dass Sie Ihr Unternehmen rechtzeitig in die jeweils nächsten Lebenszyklen steuern. Wenn beispielsweise eine Ihrer wichtigsten Produktgruppen aus der Mode kommt, suchen Sie nach neuen Wegen. Die kritischen Wendepunkte Ihrer Firma müssen Sie frühzeitig erkennen und mit innovativen Anpassungen darauf reagieren. Sie müssen bestrebt sein, das Potenzial Ihrer Firma voll auszuschöpfen. Die markt- und kundengerechte Positionierung ist der Schlüssel zum Erfolg. Stellen Sie sich immer die Frage: Wie sichere ich die Überlebensfähigkeit meines Betriebs? Sie müssen vor allem darauf achten, Produkte und Dienstleistungen anzubieten, die für den Kunden einen Nutzwert haben.
Komplexitätsmanagement mit innovativen Mitteln
Grundlage für das Management ist natürlich die Kenntnis des Systems Unternehmen mit seinen einzelnen Elementen, Abhängigkeiten, Wechselwirkungen, Funktionen usw. Nur wenn Sie dieses Gebilde klar vor Augen haben, können Sie die Risiken erkennen. Wenn es Ihnen schwerfällt, das komplexe System auf Anhieb zu analysieren, richten Sie Workshops ein. Fragen Sie Firmeninsider, und erfassen Sie dabei die Schlüsselpersonen der Organisation mitsamt deren Befindlichkeiten. Eine schonungslose Analyse ist unerlässlich. Beantworten Sie dafür diese sieben Schlüsselfragen:
- Wer sind die Beteiligten (interne, externe, Anteilseigner)?
- Wer sind die Handelnden (Aufgaben, Verantwortungen)?
- Was wird wo erledigt (Abläufe, Prozesse, Orte, Beziehungen)?
- Welche Befindlichkeiten bestehen (Zufriedenheit der Mitarbeiter)?
- Funktioniert das Haushalten mit den Ressourcen?
- Wie wird im Betrieb kommuniziert?
- In welcher Verfassung ist die innere Ordnung/Kultur?
„Ein System, das nachhaltig lebensfähig sein will, muss atmen können.“
Zu diesen sieben Fragen kommen weitere Fragen in Bezug auf physikalische Zustände: Darin geht es um Materie (Produktionsmittel, Hardware), Energie (Bargeld, Management) und Information (Kommunikationsströme). Die Dynamik des Unternehmens und die Einflussgrößen müssen Sie anschließend beschreiben. Bei der Schilderung der Dynamik beantworten Sie etwa die Frage, wie schnell die Produkte oder Informationen im Betrieb fließen. Bei den Einflussgrößen gehen Sie der Frage nach, wer oder was Einfluss von innen bzw. außen hat. So bestimmen Sie die wichtigsten Stellschrauben Ihrer Organisation. Am Ende haben Sie eine Art Landkarte vor sich. Nur wer die Wechselwirkungen versteht, erkennt frühzeitig gefährliche Dominoeffekte.
Unternehmensstrategie
Häufig haben Firmen unzählige Excel-Tabellen mit Zukunftsdaten, mit denen aber kaum jemand etwas anfangen kann. Es handelt sich lediglich um großspurige Top-down-Zielvorgaben und Prognosen. Vernetzungen und Abgleiche mit anderen Ebenen werden viel zu selten vorgenommen. Viele Unternehmen entwickeln nur alle fünf bis sieben Jahre ihre strategischen Pläne. Regelmäßige Aktualisierungen dieser Wegbeschreibungen sind eine Rarität. Eine besondere Gefahr birgt es, die Strategie langfristig festzulegen. Besser ist es, Ihre Strategie ständig anzupassen. Das Vorgehen, eine einmal beschlossene Strategie nicht mehr anzupassen, wird auch als „Wicked Problem“ oder Zündschnurproblem bezeichnet: Eine Strategie darf, anders als eine Zündschnur, die herunterbrennt, bis die Bombe platzt, keinen Endpunkt haben. Verstehen Sie eine Strategie vielmehr als eine immer wieder neu zu entwickelnde Steuerung. Strategien sind einzigartige Lösungen, die für Ihre Organisation maßgeschneidert sind. Hüten Sie sich davor, Strategien anderer Firmen zu kopieren. Ihre Strategie entsteht jeden Tag neu. Die perfekte Antwort auf die Herausforderungen von morgen gibt es nicht. Bilden Sie sich also niemals ein, die Ideallösung gefunden zu haben.
Führung mit Intuition
Um Führung besser verstehen zu können, bietet sich ein Vergleich mit dem Profifußball an. Jede Mannschaft bereitet sich intensiv auf ihre Spiele vor. Dazu gehört das Studium des Gegners, des Trainings, der Strategie usw. Doch allen Vorbereitungen zum Trotz läuft nach dem Anpfiff alles anders als geplant. Nun spielen auf einmal das Publikum, das Wetter und die Stimmung – neben anderen Faktoren – eine wesentliche Rolle. Mit anderen Worten, es lässt sich nicht alles vorhersehen. Der Leiter reagiert auf die Änderungen im Umfeld. Der Torwart etwa schneidet nur gut ab, wenn er sich auf seine Intuition verlässt. Intuition ist ein ganz wichtiges Element der Führung; es handelt sich dabei um ein Bündel kreativer, meist unbewusster Kompetenzen und Kenntnisse. Der Vorteil der Intuition besteht darin, dass man ohne nachzudenken weiß, welche Faustregel (oder auch: Heuristik) in welcher Situation funktioniert. Es gilt die Formel: Intuitive Intelligenz = Umweltstruktur x evolvierte Heuristik.
Corporate Governance und Compliance
Hinter beiden Begriffen verbirgt sich ein und dasselbe Phänomen: Unternehmen schaffen sich ein Korsett. Doch das ist nicht sehr hilfreich, wenn es um flexible Führung geht. Die beiden Begriffe sind lediglich ein Alibi dafür, etwas für eine ordnungsgemäße Unternehmensführung und ein regelkonformes Verhalten getan zu haben. Doch in einem exzellent geführten, atmenden Unternehmen ist das gar nicht nötig. Die Mitarbeiter folgen automatisch – dafür sorgen ihr kultureller Hintergrund, gesetzliche Ge- und Verbote sowie die gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Wer auf Corporate Governance und Compliance nicht verzichten möchte, kann sie als kleinen Teil eines kompletten Führungssystems durchaus aufrechterhalten, solange die Führungsspitze vor allem flexibel und vernetzt ist und bleibt.
Prof. Dr. Christoph Ph. Schließmann ist Wirtschaftsanwalt und Wirtschaftswissenschaftler sowie Gründer des Beratungsunternehmens CPS Schließmann. Er hat über 160 Strategieprojekte in nationalen und internationalen Unternehmen geleitet. Neben seiner Tätigkeit als Berater lehrt er Unternehmensführung und Entrepreneurship an zwei österreichischen Universitäten.