Das glückliche Tal

Buch Das glückliche Tal

Zürich, 1940
Diese Ausgabe: Huber Buchverlag,


Worum es geht

Trauer im Angesicht der Freiheit

Mit dem Ford Cabrio von der Schweiz bis nach Afghanistan – das wäre auch heute noch ein kühnes Unterfangen. Annemarie Schwarzen­bach hat diese und viele andere Reisen in den 1930er Jahren unternommen, im Zustand rastloser Getrieben­heit, morphiumsüchtig, auf der Flucht vor ihrer kon­ser­v­a­tiven Mutter und stets unglücklich verliebt in ihre Lebens­fre­undin Erika Mann. Während eines som­mer­lichen Zeltlagers, das sie mit ihrem ebenfalls ho­mo­sex­uellen Ehemann, dem Diplomaten Claude Achille Clarac, besuchte, entstand Das glückliche Tal, ihr wohl wichtigster Text. Wie in kaum einem anderen Buch der Autorin wird darin ihr Dilemma deutlich: die kom­pro­miss­lose Ablehnung alles Bürgerlichen und die Sucht nach der Freiheit des Reisens bei gle­ichzeitig verzehren­dem Heimweh nach der Schweiz. Schwarzen­bachs Ton ist poetisch und klagend, negativ ausgedrückt könnte man auch sagen: ein bisschen weinerlich. Ihr posthumer lit­er­arischer Ruhm ist untrennbar verbunden mit ihrem ex­trav­a­gan­ten Lebenswan­del und ihrem außergewöhnlichen Er­schei­n­ungs­bild. Ein „verödeter Engel“ schrieb Thomas Mann in sein Tagebuch – und war ebenso fasziniert von ihrer androgynen Schönheit, wie es viele Bewunderer heute noch sind.

Take-aways

  • Das glückliche Tal gilt als der wichtigste Roman der Schweizer Schrift­stel­lerin und Jour­nal­istin Annemarie Schwarzen­bach.
  • Das au­to­bi­ografis­che Buch behandelt die Selb­stfind­ung, die Drogensucht und das Liebesunglück der Autorin.
  • Inhalt: Um der Hitze im persischen Teheran zu entfliehen, reist die Erzählerin in ein Sommercamp am Lahr-Fluss. Die Größe und Stille der Natur in der Hochebene stürzen sie in eine schwere Depression. Sie liebt zwar das Reisen, leidet aber unter starkem Heimweh nach der Schweiz. Zudem sehnt sie sich nach der jungen Türkin Jalé, mit der sie vor ihrer Abreise eine intensive Affäre erlebt hat.
  • Ver­gan­gen­heit und Gegenwart vermischen sich zu einem oft fieber­haften Traumtext.
  • Schwarzen­bach war Zeit ihres Lebens auf der Flucht vor einer bürgerlichen Existenz. Das Reisen bedeutete für sie die größtmögliche persönliche Freiheit.
  • Sie schrieb Das glückliche Tal 1935, als sie sich selbst im persischen Hochland aufhielt.
  • Der Roman war bei seinem Erscheinen 1940 kein Erfolg. Die lesbische Autorin machte bei ihren Zeitgenossen vielmehr mit ihrer androgynen Schönheit Eindruck.
  • Zu ihren engsten Freunden gehörten die schreiben­den Geschwister Klaus und Erika Mann.
  • In der Nachkriegszeit geriet Schwarzen­bach in Vergessen­heit. Erst seit den 1980er Jahren wird ihr Werk wieder aufgelegt.
  • Zitat: „Alle Wege, welche ich auch ging, welchen ich auch entging, endeten hier, in diesem Tal, das keinen Ausgang mehr hat und deshalb schon dem Ort des Todes ähnlich und den Feldern der Engel benachbart sein muss …“
 

Zusammenfassung

Das schrecklich schöne Tal

Um der som­mer­lichen Hitze in Teheran zu entfliehen, hat die Erzählerin mit einigen Freunden die Stadt verlassen und ihr Zelt in der Hochebene am Lahr-Fluss aufgeschla­gen. Sie lauscht in die Stille, das feine Rieseln des Gerölls zerrt an ihren Nerven. Beruhigend dagegen wirkt der Anblick des hoch aufragenden Demawend. Der Berg ist ein erloschener Vulkan, dessen Spitze jetzt halb von Lava, halb von Schnee bedeckt ist. Außer ein paar Nomaden kommt niemand in diese abgelegene Gegend. Es führt keine Karawa­nen­straße vorbei. Die Nomaden raten der Erzählerin vom Opiumgenuss ab und verweisen zur Ab­schreck­ung auf einen süchtigen Soldaten. Allerdings gibt es keine Möglichkeit außer dem Dro­gen­rausch, um aus dem Flusstal hin­auszuse­hen.

„Persien? – Fremde? – Ich trete aus der niedrigen Tür des Tschaikhanes – ich könnte auf einer Schafalp sein, hoch oben am Julier-Pass.“ (S. 16)

Die Erzählerin erinnert sich, wie sie als Kind in der Schule die Namen fremder Regionen gehört und zu träumen begonnen hat. Das Reisen bedeutet für sie ein Ankommen in der Wirk­lichkeit, bei dem sie diese Orte tatsächlich kennen lernt. Sie hat stets den Weg der größten Freiheit gewählt, hat keine Arbeit gesucht, kein bürgerliches Leben begonnen. Stattdessen ist sie nach Arabien aufge­brochen und in diesem Tal angekommen, das ihr wie das Ende aller Wege, wie der Tod erscheint.

Von einer Krankheit in die nächste

Die Einsamkeit des Tals ist kaum zu ertragen, die kargen Steine, der im­mer­gle­iche Fluss. Vor Monaten hat die Erzählerin an Aus­grabun­gen in Teheran teilgenom­men und sich dort mit Malaria angesteckt. Sie scheint das Fieber auskuriert zu haben, hat aber das Gefühl, während der Genesung gleich von einer zweiten Krankheit befallen worden zu sein. Sie geht mit dem alten Perser Kerim an den Fluss zum Angeln und sieht angewidert zu, wie er die Forellen tötet. Anschließend sitzt sie in ihrem Zelt und fühlt sich kraftlos, zwar nicht mehr fiebrig von der Krankheit, aber niedergeschla­gen von der überwältigenden Landschaft. Sie rafft sich auf und geht ins Wohnzelt, wo die anderen gemütlich zusam­men­sitzen. Es wird Gin getrunken; die Erzählerin ist in Begleitung von Engländern, die sich überall stilvoll einzurichten wissen. Eigentlich ist alles gut, sie hat nichts an ihrer Lage auszusetzen, aber trotzdem hat sie Angst vor den Nacht­stun­den. Sie kann nicht schlafen und tigert ruhelos hin und her. Sie weiß, dass sie dem Wind um ihr Zelt, dass sie dem ganzen Tal und der Nacht aus­geliefert ist. Sie wird bis zum nächsten Tag kein Auge zumachen können.

Unerklärliche Faszination des Reisens

Am Morgen tritt die Erzählerin ins taunasse Gras und ist entzückt vom Ausblick auf das Tal: Ein neuer Tag beginnt. Die Sonne bricht aus den Wolken, die Vögel steigen in den Himmel. Kamele laufen am Flussufer entlang, die Soldaten des Schahs treiben ihre Pferde auf die Weide. Die Erzählerin stellt sich vor, wie die Mor­gen­stunde von Land zu Land um die Welt zieht, und bekommt Reiselust. Sie fragt sich, ob die Zeit ihres Lebens ausreichen wird, um alle Orte ein zweites Mal zu besuchen, und sie erinnert sich: an die Städte Kerbela, Nejaf und Ankara, an den Tag, an dem sie mit den Schülern einer christlichen Mis­sion­arss­chule zum Fischen ging, an das Leben auf den Straßen und Hinterhöfen, an die arbeitenden Frauen, den Geruch von Pfeffer und Lammfleisch, an die Tierherden, den Staub.

„Alle Wege, welche ich auch ging, welchen ich auch entging, endeten hier, in diesem Tal, das keinen Ausgang mehr hat und deshalb schon dem Ort des Todes ähnlich und den Feldern der Engel benachbart sein muss ...“ (S. 19)

Obwohl sie geradezu süchtig nach dem Reisen ist, fühlt sie sich der ständigen Fremdheit nicht gewachsen. Sie sehnt sich nach dem Schatten der Laubbäume, nach dem Geruch von Heu und Wald. Sie wünscht sich die Sor­glosigkeit ihrer Kindheit zurück. Zweimal ist sie bereits nach Persien gekommen und hat dort zu leben versucht, zweimal ist sie wieder abgereist. Sie kann sich ihre Faszination für das Land kaum erklären. Sie erinnert sich, wie sie den Demawend erstmals zu Gesicht bekam: Mit ihrem Kollegen Berger zusammen war sie nachts von Isfahan losgefahren. Das Tauwasser im Frühling hatte die Straße unterspült, weshalb der Wagen einbrach. Sie und Berger mussten die Nacht über bis zur Erschöpfung in den eiskalten Fluten arbeiten, um die Räder wieder freizubekom­men. Am Morgen dann, mit einem Schluck Whisky in der Dämmerung, sahen sie erstmals den riesigen Berg – der Anblick raubte ihnen den Atem.

Das eigentliche Leben

Ein Grasbüschel in der Wüsten­land­schaft reicht aus, um die Erin­nerun­gen an die Schweiz wachzurufen. Die Alpwiesen, die Heuballen, der Geschmack der Himbeeren. Die Erzählerin erinnert sich an ihren Freund Fred, der von Beirut mit dem Schiff nach Europa zurückfahren wollte, nach Zürich und Berlin. Die beiden tranken einen letzten Raki zusammen, dann gab es Ärger: Die Zollbeamten fanden den Revolver in Freds Gepäck. Bei einer Tasse Kaffee musste die Erzählerin den Kontrolleur um­schme­icheln. Endlich wurde ihr Freund auf das Schiff gelassen – zusammen mit den Andenken, die sie ihm eingepackt hatte: Dinge, die auch für sie selbst von Bedeutung waren, die sie aber fortgegeben hatte, um sich zu erleichtern.

„Furchtbare Qual! Dieser Himmel ist nicht einmal feindlich, nur zu groß!“ (S. 26)

Die Erzählerin erinnert sich an das syrische Dorf Rihanie, wo sie an Aus­grabun­gen teilgenom­men hat. Sie gehörte zu einem amerikanis­chen Team und hätte eine richtige Archäologin werden können, zog dann jedoch weiter. Die Geldarbeit ist für sie nichts weiter als eine bürgerliche Ablenkung vom eigentlichen Leben, von der Beschäftigung mit sich selbst. Sie hat Heimweh und denkt daran, nach Beirut zu fahren und eine Schiff­s­pas­sage nach Europa zu buchen – wenn sie sich bloß dafür entscheiden könnte! Sie hat Angst, dass es eines Tages zu spät für die Heimkehr sein wird, dass sie irgendwann endgültig entwurzelt ist.

Sprachlos und verliebt

Die Erzählerin glaubt nicht, dass die Menschen zu Hause glücklicher sind als sie es auf ihrer ewigen Flucht ist. Wer immer sie anklagt, will doch bloß sein eigenes bekla­genswertes Leben recht­fer­ti­gen. Vor einiger Zeit hat sie einen Brief bekommen, in dem ihr ein Freund schrieb, wenn sie so weitermache, lande sie noch mal tot in einem Straßengraben in der Fremde. Die Erzählerin ist empört über diese Todes­dro­hung. Sie erinnert sich, wie sie lange am Strand von Byblos gelegen und ihr bisheriges Leben zu vergessen versucht hat: die Kirchen und Gerichtssäle, die Steuerzettel und Zeitung­s­pressen, die Krankenhäuser und Hotelzimmer. Nachdem sie all das vergessen hatte, konnte sie sich erheben und die Schönheit der Welt bewundern. Von einem bequemen Leben will sie nichts wissen. Wenn sie in der Heimat nicht mehr verstanden wird, wenn sie ihre Sprache verliert, dann ist ihr das recht: Sie will nicht verstanden werden, will sprachlos sein wie die Tiere.

„Gegenstände haben in dieser Einsamkeit eine neue Bedeutung. Ihr Dasein bestätigt mir das meine, ich vergewis­sere mich ihrer, um sicher zu sein, dass ich noch da bin (...)“ (S. 30)

Und sie ist verliebt, berauscht von den Erin­nerun­gen an eine Frau. Allerdings war ihr schon während dieser Liebschaft bewusst, dass sie sich von ihr würde trennen müssen. Die Geliebte war Qual und Trost zugleich. Einsam in ihrem Zelt fühlt sich die Erzählerin der Sehnsucht kaum gewachsen, so sehr wünscht sie sich ein Wiedersehen.

Im Delirium der Freiheit

Schon am Morgen fühlt sich die Erzählerin erschöpft. Die Eindrücke prasseln auf sie ein; sie muss alles anfassen, das Gras, das Fell der Schafe, den trockenen Lehm. Sie beobachtet den Wind in den Zweigen, schaut in die Brunnenlöcher. Keine Erinnerung steht mehr zwischen ihr und den Dingen, alles wirkt unmittelbar auf sie ein. Bei einem Ausflug den Fluss hinab beobachtet sie die Hirten mit ihren Herden, die Frauen beim Wasser­tra­gen. Sie wird von fiebrigen Fantasien befallen, jagt Schakale in Mesopotamien, schießt Wildenten in den Sümpfen von Birs Nimrod. Sie denkt an die Gewalttätigkeiten des Alten Testaments, die sich alle in dieser Gegend abspielen. Sie träumt davon, dass ihre Reisen ein Ende haben: am Golf von Persien, in Kuwait, wo sie Eselsmilch trinken und Haschisch essen will, um ihren Zustand durch Vergessen zu lindern. Von vor­beiziehen­den Samaritern wird sie schließlich fiebrig und durstig aufgelesen. Man fragt sie, ob sie ihre Reisen nicht un­ter­brechen könne, ob sie ihren Blick nicht erlösen wolle von der eintönigen Wüste und ob sie nicht ein bisschen Zerstreuung brauche. Die Erzählerin weist jede Abwechslung zurück. Eine Angst befällt sie, die sie nicht weiter benennen kann. Sie weint. Sie ist frei – und findet genau das entsetzlich.

Der Sturz in die Angst

Allein das Wort „Freiheit“ ruft bei ihr eine große Traurigkeit hervor. Worte sind für die Erzählerin magisch, dem Haschisch oder Opium nicht unähnlich. Sie bedient sich dieser Magie, versucht sich lei­den­schaftlich der Wirk­lichkeit zu nähern und erträgt diese Nähe dann nicht. Felsen stürzen auf sie ein. Sie wird geblendet von der Moschee des Schahs. Sie spürt die Hitze in den Gassen von Teheran. Sie hat das Gefühl, auf ihren Reisen überhaupt erst sehen gelernt zu haben, da sie die Dinge nun in ihrer Gle­ichzeit­igkeit erfassen kann: die Form und Farbe, aber auch die Gefühle und Erin­nerun­gen, die alle Dinge bei der Betrachtung auslösen. Sie hat sämtliche Wahrnehmungen mit sich persönlich in Verbindung gebracht und kann sich deshalb vor den Eindrücken nicht mehr schützen. Sie wird schreckhaft und empfindlich: Ein einfacher Straßenhändler oder eine Droschke scheuchen sie auf, die Gespräche mit anderen Menschen überfordern sie. Sie fragt sich, ob die Angst vor den Dingen ähnlich funk­tion­iert wie die Angst vor der Liebe: Die zunehmende Sensibilität macht einen offen für alles – und vor dieser Offenheit fürchtet sie sich.

Flucht in den Rausch

Die goldene Moschee entpuppt sich als Traum. Die Erzählerin sieht ein, dass sie die Malaria unterschätzt hat. Sie ist mit den Windhunden ausgeritten, ist aus dem Sattel gefallen und musste von Dienern gestützt werden. Im Fieberwahn schwört sie En­thalt­samkeit und will leben wie die armen Leute. Trotzdem greift sie in ihrer Verzwei­flung zum Opium und fühlt sich tatsächlich erleichtert. Sie will nicht mehr essen, nicht mehr trinken, das Rieseln der Steine stört sie nicht mehr. Sie weiß allerdings, dass sich die Welt im Dro­gen­rausch an sich nicht verändert hat, dass nachher alles so sein wird wie zuvor.

„Begierde, den Straßen zu folgen, den weißen Spuren, den Flüssen – Begierde, die Städte zu entdecken, die Oasen, die goldenen Dome über Palmen – oh, un­still­barer Durst!“ (S. 42)

In einem Aus­grabung­steam lernte die Erzählerin den Emigranten Bibenski kennen. Als Fotograf verbrachte der Russe die meiste Zeit in seiner Dunkelka­m­mer. Vom vielen Haschis­chrauchen geschwächt, erklärte er, dass er die wunderbaren Glocken von Kiew seit 20 Jahren nicht mehr gehört habe, dass sie eines Tages aber wieder für ihn läuten würden. Alle Arbeit sei bis dahin für ihn nur Zeitvertreib. Die Erzählerin rauchte mit ihm Haschisch, ließ ihn dann aber in seiner selbstzerstörerischen Trauer allein zurück.

Eine tragische Liebe

Eines Morgens erwachte die Erzählerin im Haus ihrer Geliebten, einer jungen Türkin namens Jalé. Sie ging in den Garten, sah Jalé auf der Terrasse, bleich und mit leidendem Gesicht­saus­druck. Die Erzählerin strich ihr die Falten von der Stirn. Jalé lächelte, die beiden küssten sich, ließen sich ins Gras fallen. Trotz ihres Glücks wussten sie, dass die Liebe nicht für die Ewigkeit sein würde: Die Erzählerin würde eines Tages abreisen. Um die Angst und Verzwei­flung zu ersticken, flüchtete sie sich Nacht für Nacht in die Magie des Opiums. Jalé prophezeite ihr, wenn sie im glücklichen Tal in ihrem Zelt liegen werde und vor Sehnsucht sterben wolle, dann werde ein Engel erscheinen, der stärker sei als alle Magie.

„Und ich breche auf. – Befreiung! Befreiung! Einzige Freiheit, die uns geblieben ist!“ (S. 84)

Als der Moment des Abschieds kam, versprach die Erzählerin, sie werde stark sein in der Einsamkeit des Tals. Sie wusste gleich, dass dieses Versprechen eine Lüge war. Wie von Sinnen sprang sie auf ihr Pferd und ritt durch Schaf­sh­er­den und unter Granat­apfelbäumen hindurch. Dann ließ sie sich Opium bringen und kehrte zu Jalé zurück. Sie schlief ein letztes Mal an ihrer Seite, ließ dann von ihr und gelangte schließlich in dieses Tal.

Aufbruch zu einer neuen Reise

Der Engel kommt tatsächlich eines Nachts ins Zelt der Erzählerin. Er wirft ihr Schwäche vor: Sie habe blind Zuflucht in den Drogen gesucht. Er will wissen, warum sie überhaupt in die Einsamkeit des Tals gekommen sei. Sie bricht in Tränen aus und fragt den Engel, was sie nun tun solle. Er erklärt, dass der Russe Bibenski an Haschisch und Heimweh gestorben sei – auch weil die Erzählerin ihm nicht geholfen habe. Und er hat noch mehr schlechte Nachrichten: Jalé habe sich aus dem Fenster gestürzt, nachdem sie von der Erzählerin verlassen worden sei. Als der Engel geht, ist die Erzählerin zum Sterben müde.

„Ich habe keinen Namen hin­ter­lassen und weiß nicht, wo ich die nächste Nacht zubringen werde. Eure Mahnungen, Bußen, Steuerzettel werden mich nicht erreichen. Behaltet eure Ratschläge, ich werde sie nicht befolgen können. Und ich lerne eine neue Sprache. Habe ich den Verstand verloren?“ (S. 84)

Es schneit. Die Hirten treiben ihre Kamele, Pferde und Schafe zusammen. Die Zelte werden abgebaut. Die Erzählerin verlässt das Tal und wendet den Blick ab vom Demawend. Sie ist begeistert, als sie in der Ferne eine Karawane entdeckt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Auf den ersten Blick wirkt Das glückliche Tal wie ein typischer Tage­buch­text, ins­beson­dere in den ersten Kapiteln. Sehr bald brechen jedoch Ver­gan­gen­heitsmo­mente ein, deren Zeit und Ort oftmals nicht näher bestimmt sind. Wie in einem Traum wechselt die Erzählung sprunghaft von einer Stadt zur anderen, von einem Erin­nerung­sein­druck zum nächsten. Der Text wirkt wie ein unbändiger, mit Gefühlen an­schwellen­der As­sozi­a­tions­fluss, in dem sich Gegenwart und Ver­gan­gen­heit vermischen. Etwas mehr Zusam­men­hang haben die Aufze­ich­nun­gen in den letzten beiden der insgesamt 13 kurzen Kapitel. Beim Abschied von der Geliebten halten die Erin­nerun­gen inne, und das Kapitel bekommt fast den Charakter einer Kurzgeschichte. Typisch für Annemarie Schwarzen­bach ist der lyrisch überhöhte Ton. Ihre Beschrei­bun­gen klingen gele­gentlich wie das Protokoll einer Hal­luz­i­na­tion. Selbst die Beschrei­bung eines Kamels oder einer Pferdeherde wird zur Darstellung des persönlichen Innenlebens. Das glückliche Tal ist denn auch treffend als Klagegesang bezeichnet worden.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Erzählerin betreibt eine radikale Frei­heitssuche. Sie lässt ihr Heimatland hinter sich und lehnt jeden bürgerlichen Lebensen­twurf ab. Eine geregelte Arbeit kommt genauso wenig infrage wie eine sesshafte Bleibe. Der Wunsch nach Unabhängigkeit geht sogar noch weiter: Sie versucht sämtliche Erin­nerun­gen loszuwerden, die sie an ihr früheres Leben binden könnten.
  • Der Preis für die gewonnene Freiheit ist ein unerträgliches Gefühl von Ich-Verlust und En­twurzelung. Die Erzählerin ist zerrissen, denn obwohl sie ihre Erin­nerun­gen loswerden will, sehnt sie sich nach ihrer Kindheit in der Schweiz zurück. Sie muss sich ständig ihrer selbst vergewis­sern: über die eigene Ver­gan­gen­heit, über ihre tägliche Wahrnehmung, über die Abgrenzung von anderen. Deshalb bekommt der Text zuweilen den aufzählenden Ton einer Inventur. Solange die Dinge noch da sind, kann sich die Erzählerin sicher sein, dass auch sie selbst noch vorhanden ist.
  • Um ihre Zer­ris­senheit zu ertragen, gibt die Erzählerin ihrem Suchtbedürfnis nach. Als Droge dient ihr dabei alles, was in ihren Augen „magisch“ ist. Sie greift zu Opium und Haschisch, ist aber auch süchtig nach Sprache, nach dem Schreiben, mit dem sie ihrer Umwelt und ihrer eigenen Persönlichkeit habhaft zu werden versucht. Ihre vielleicht größte Sucht ist das Reisen. Obwohl sie die Fremde nur schwer erträgt, kann sie sich nicht zur Heimkehr entscheiden.
  • Die Erzählerin verstrickt sich in Dekadenz und Schuld. Sie kommt aus gutem Hause, hat Geld und Essen im Überfluss, kann überall hinreisen und ihre Freiheit genießen. Trotzdem leidet sie an Weltschmerz und flüchtet in die Drogen. Den bettelarmen Menschen Persiens gegenüber ist ihr das eigene Verhalten unangenehm, es gelingt ihr aber nicht, sich zu ändern. Wie ihr der Engel zum Schluss mitteilt, ist diese selb­st­mitlei­dige Passivität nicht folgenlos: Ihre Freunde Bibenski und Jalé lässt sie in den Tod entgleiten.

His­torischer Hintergrund

Das Ende der Freiheit

Während der Goldenen Zwanziger verbrachte die europäische Boheme einige unbeschw­erte Jahre. In Deutschland machte sich nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs und nach den chaotischen An­fangs­jahren der Weimarer Republik eine wirtschaftliche und politische Entspannung bemerkbar. Die Republik wurde zwar konfus regiert, war aber aus­ge­sprochen demokratisch: Man führte das Frauen­wahlrecht ein und verankerte die sozialen Grundrechte der Bürger erstmals in der Verfassung.

Auch junge Leute aus der Schweiz – wie Annemarie Schwarzen­bach – zogen nach Berlin, um sich von dem dortigen Lebensgefühl berauschen zu lassen. Ballhäuser und Kabaretts, Bars und Nightclubs, Les­benkneipen und Trans­ves­ti­ten­tr­e­ffs verliehen der damals kulturell wichtigsten Stadt Europas ein freizügiges und aufregendes Flair. Die Lichtspielhäuser erlebten ihren großen Durchbruch, mehr als zwei Millionen Menschen besuchten allein in Deutschland täglich eine Ki­novorstel­lung – etwa um Fritz Langs Metropolis zu bestaunen. Künstler wie Otto Dix stellten ihre Modelle in schamlosen Posen dar, was wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Die „neue Frau“, wie sie damals genannt wurde, wagte es, in der Öffentlichkeit zu rauchen, und trug den Bubikopf, der zum Entsetzen der älteren Generation die biederen Haarsch­necken ablöste.

Das Ende dieser Zeit fiel zusammen mit dem Ende der Weimarer Republik. Nach der Weltwirtschaftkrise stieg 1929 die Ar­beit­slosigkeit und damit die Un­zufrieden­heit der Bürger, was in Deutschland vor allem die Na­tion­al­sozial­is­ten für sich nutzen konnten. Spätestens mit der Machter­grei­fung Hitlers 1933 verflüchtigte sich der überschwängliche Geist der 20er. Es kam zu ersten Bücherver­bren­nun­gen und zur Gle­ich­schal­tung der Kultur – eine düstere Epoche erwartete Europa. Wer sich nach Freiheit und Abenteuern sehnte, musste sie anderswo suchen.

Entstehung

In der zweiten Junihälfte des Jahres 1935 reiste Annemarie Schwarzen­bach mit ihrem Mann Claude Achille Clarac von Teheran aus in das 2500 Meter hoch gelegene Lahr-Tal. Im Gegensatz zur Teheraner Sommerhitze war das Klima am Fuß des Berges Demawend erträglich. Obwohl das von englischen Diplomaten ein­gerichtete Lager mitsamt Di­ener­schaft und geräumigen Zelten aus­ge­sprochen komfortabel war, wurde Schwarzen­bach von Heimweh und Fieber geplagt und litt unter De­pres­sio­nen. Ein Brief erweckt gar den Eindruck, als hätte sie den letzten Text ihres Lebens in Angriff genommen: „Ich beginne jetzt, ein dünnes Heftchen kann es bestenfalls werden, eine Art unpersönliches Tagebuch über dieses glückliche Tal zu schreiben – das ist alles, was ich vorhabe.“

Es entstand ein au­to­bi­ografis­cher Text mit dem Ar­beit­sti­tel Tod in Persien, der die Situation im Sommercamp ver­gle­ich­sweise ausführlich beschreibt: Der Ehemann Claude wird erwähnt, die lesbische Liebe zu Jalé wird deutlich als solche benannt. Erst während einer Entziehungskur ab Oktober 1938 fand die Autorin Zeit und Ruhe, den Text zu überarbeiten: Das glückliche Tal entstand. Das endgültige Werk ist gegenüber der ursprünglichen Fassung deutlich verdichtet. Die Erzählerin wird an keiner Stelle ausdrücklich als weiblich – allerdings auch nicht als männlich – benannt, sodass man die Beziehung zu Jalé, wenn man denn möchte, auch für eine het­ero­sex­uelle Liebe halten könnte.

Wirkungs­geschichte

Literarisch gehörte Annemarie Schwarzen­bach nicht zu den Großen ihrer Zeit. Der 1931 erschienene Debütroman Freunde um Bernhard war zwar ein Erfolg und bestätigte die damals 23-Jährige in ihrem Wunsch, Schrift­stel­lerin zu werden. Die Theaterstücke, die sie in den da­rauf­fol­gen­den Jahren schrieb, fanden jedoch keine Bühne. Ebenso wurde der während einer ersten Orientreise entstandene Nov­el­len­zyk­lus Der Falkenkäfig von keinem Verleger angenommen, obwohl der Schrift­steller Stefan Zweig sich für die Autorin einsetzte. Von ihren Freunden Erika und Klaus Mann wurde Annemarie Schwarzen­bach als Mäzenin beansprucht, als Künstlerin jedoch nur selten auf Augenhöhe behandelt. Und der große Thomas Mann war wie so viele Zeitgenossen vor allem von ihrer androgynen Schönheit fasziniert. In sein Tagebuch notierte er am 9. September 1938 über die bereits vom Dro­genkon­sum gezeichnete Autorin: „Zu Tische Annemarie Schwarzen­bach, verödeter Engel“.

Das glückliche Tal fand bei seiner Veröffentlichung 1940 wenig Beachtung. In den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit geriet das Werk schnell in Vergessen­heit. Erst Ende der 80er Jahre erwachte das Interesse an der Autorin wieder: Ihre Texte wurden neu her­aus­gegeben und ihr Porträt erschien groß auf den Titelseiten der Zeitschriften. Nach wie vor geht die Wirkung der Autorin nicht allein von ihrem schrift­stel­lerischen Werk aus, sondern auch von ihrer äußeren Schönheit und ihrem faszinieren­den Lebenslauf.

Über die Autorin

Annemarie Schwarzen­bach wird am 23. Mai 1908 in Zürich geboren. Ihr Vater Alfred Emil Schwarzen­bach ist einer der wohlhabend­sten In­dus­triellen der Schweiz. Ihre Mutter Renée Maria Schwarzen­bach ist die Tochter des Generals Ulrich Wille. Bereits als Kind trägt Annemarie Schwarzen­bach bevorzugt Hosen und wenig mädchenhafte Kleider, worin sie von ihrer Mutter unterstützt wird. Im Frühjahr 1931 beendet sie im Alter von nur 23 Jahren ihr Geschichts- und Lit­er­aturstudium an der Universität Zürich mit dem Dok­tordiplom. Noch im selben Jahr veröffentlicht sie den Roman Freunde um Bernhard, der ihr einen ersten Erfolg als Schrift­stel­lerin beschert. Sie zieht nach Berlin und verbringt viel Zeit mit Klaus und Erika Mann, die für den Rest ihres Lebens die für sie wichtigsten Menschen bleiben. Mit Erika Mann verbindet sie eine intensive, wenn auch unerwiderte Liebe. Schwarzen­bach macht erste Erfahrungen mit Morphium und gleitet allmählich in die Sucht. Der große lit­er­arische Durchbruch bleibt aus. Es kommt zum Streit mit der hitler­begeis­terten Mutter, die sich von der an­tifaschis­tis­chen Gesinnung ihrer Tochter provoziert fühlt. Immer wieder hat Schwarzen­bach mit schweren De­pres­sio­nen zu kämpfen, ein Selb­st­mord­ver­such scheitert 1935. Sie reist mehrmals nach Persien, das letzte Mal 1939 in einem Ford Cabrio, gemeinsam mit der Reis­eschrift­stel­lerin Ella Maillart. Verheiratet ist sie mit dem ebenfalls ho­mo­sex­uellen französischen Diplomaten Claude Achille Clarac. In New York lernt Schwarzen­bach die Schrift­stel­lerin Carson McCullers kennen, die sich unglücklich in sie verliebt. Nach einem Zwis­chen­fall in einem New Yorker Hotel wird Schwarzen­bach in die Psychiatrie zwang­seingewiesen, wovon sie sich nur schwer wieder erholt. 1941 unternimmt sie eine letzte Reise, in den Kongo. Zu Lebzeiten ist sie vor allem mit ihren zahlreichen Reise­berichten erfolgreich, ihr lit­er­arisches Werk wird wenig beachtet. Am 15. November 1942 stirbt Annemarie Schwarzen­bach im schweiz­erischen Sils an den Folgen eines Fahrradun­falls.