Das Ende der Dienstleistungsgesellschaft
Finden Sie es nicht seltsam, dass immer noch Autos aus den Werkshallen von Mercedes, Audi, VW oder Opel fahren, obwohl dort ständig Mitarbeiter entlassen werden? Unsere Arbeitswelt wird von Erdbeben erschüttert, unserer Dienstleistungsgesellschaft stehen radikale Veränderungen bevor. Zukünftig werden Dienstleistungen das gleiche Schicksal erleiden wie die industrielle Produktion Jahrzehnte zuvor: Sie werden automatisiert. Diese Automatisierung wird den Dienstleistungssektor spalten: in gering vergütete Routineaufgaben und in Spezialistenjobs mit hoher Gewinnspanne. Internet und Computertechnologie werden die Dienstleistungsbranche total umkrempeln – noch stärker, als sie das bereits getan haben. In puncto Innovationskraft sind sie vergleichbar mit der Eisenbahn: Mit dem Verlegen der Schienen wurde der Westen der USA erschlossen. Oder mit der Autobahn: Sie sorgte, zusammen mit dem PKW, für grenzenlose Mobilität. Solche Erfindungen ermöglichen neue Infrastrukturen und gestalten damit eine neue Welt. Sie sorgen aber auch dafür, dass viel weniger Menschen die Aufgaben übernehmen, die zuvor von doppelt oder dreimal so vielen Personen erledigt wurden. Entsprechend hoch muss diese neue Elite qualifiziert sein.
Willkommen in der Dienstleistungsfabrik
Dienstleistungen wie Fabrikarbeit anbieten, geht das überhaupt? Ja, das geht. Bereits heute gibt es beispielsweise Autoreparaturwerkstätten, die nur Steinschlagschäden an der Windschutzscheibe reparieren, nichts anderes. Man glaubt gar nicht, dass es so viele Glasschäden an Autos gibt, aber diese Unternehmen sind weitgehend ausgelastet. Genau das bedeutet Spezialisierung vor allem: Auslastung. Wer alles anbietet, wie beispielsweise eine Full-Service-Werkstatt, riskiert, nicht immer Arbeit zu haben. Der Meister muss aber seine Mitarbeiter auch dann bezahlen, wenn gerade kein Kunde am Werkstatttor klopft. Deshalb entlässt er die Mitarbeiter, die er nicht dringend braucht, und riskiert, dass er Kunden warten lassen muss. So ist das überall: Der Kunde wartet beim Arzt, am Fahrkartenschalter, am Postschalter, bei der Bank, beim Friseur. Oder aber er geht ins Internet, wo er viele Routineaufgaben selbst erledigen kann. Statt also – wie beispielsweise am Fahrkartenschalter – auf die Monitorrückseite eines mehr oder weniger kompetenten Bahn-Mitarbeiters zu starren, starren viele Menschen lieber zu Hause oder am Fahrkartenautomat auf die Monitorvorderseite und machen es selbst.
Standard und Premium trennen
Dienstleistungsfabriken sind immer spezialisiert und können deshalb Spezialarbeiten als Routinearbeiten verkaufen. Heute fährt man zu Carglass, wenn die Scheibe kaputt geht, und in die Werkstatt, wenn der „Motor komische Geräusche macht“, die Diagnose also nicht klar ist und ein Alleskönner ran muss. Ähnlich wird es zukünftig auch in anderen Dienstleistungsbereichen zugehen: Der billige „McDoc“ im Supermarkt wird einen Gesundheitscheck machen, darf aber nicht behandeln. Die Behandlung gibt es dann im spezialisierten Krankenhaus für Onkologie, Diabetes oder Herzklappenchirurgie. Idealerweise kommen die Patienten nach der Operation wiederum in spezialisierte Aufwach- und postoperative Pflegeklinken. Die Infrastruktur für ein Spezialproblem ist effizienter, als mehrere Infrastrukturen gleichzeitig vorzuhalten. Diese Spezialisierung ist nur dank modernster Technologien möglich. Und deren Bedienung sowie die gesamte Planung von fabrikartigen Dienstleistungssystemen verlangen nach Know-how, Wissen, Bildung.
Jeder kann und muss studieren!
Das klingt zunächst nach einem bildungspolitischen Traum. Aber können wirklich alle studieren? Sie müssen es sogar, wenn sie nicht vom Mitarbeiter zum Arbeiter absteigen wollen. Bildung für alle ist der Schlüssel zur Exzellenzgesellschaft. Diese Bildung kann jedoch nicht der Staat allein heraufbeschwören, schon gar nicht mit Schmalspur-Studiengängen und indem er in Forschung und Wissenschaft an der Effizienzschraube dreht. Bildung ist mehr als technisches Wissen und bedeutet vor allem: Jeder will gerne und viel lernen. Wer bei der Arbeit lächelt, weil sie ihm Spaß macht und weil es Freude bereitet, seine Fähigkeiten auszubauen – der bekommt normalerweise vom Chef noch mehr Arbeit aufgehalst, bis ihm das Lächeln vergeht. Das schadet den Mitarbeitern, den Chefs, den Unternehmen und der Gesellschaft. Douglas McGregor vom Massachusetts Institute of Technology stellte bereits in den 60er Jahren zwei Theorien über den Menschen auf. Gemäß Theorie X ist der Mensch faul und arbeitsscheu und muss mit harter Hand geführt werden. Theorie Y dagegen sieht im Menschen eine wissbegierige und intrinsisch motivierte Spezies, die nach Exzellenz strebt.
Multikompetente Persönlichkeiten
In Deutschland bestimmt leider die Theorie X das tägliche Handeln. Gerade hier braucht es aber einen Kulturwandel hin zur Theorie Y und hin zu mehr Verantwortungsbewusstsein für die eigene Bildung. Bildung muss attraktiv und begehrenswert sein und darf nicht als lästige und unbequeme Pflicht wahrgenommen werden. Das fängt in der Schule an, wo viele Schüler eher demotiviert werden, statt dass ihre Lernbegeisterung geweckt würde. Für die künftige Exzellenzgesellschaft braucht man multikompetente Menschen. Das bedeutet: Jeder muss sein Spezialgebiet beherrschen, darf aber auch in allen angrenzenden Kompetenzbereichen nicht ganz schlecht sein, er muss beispielsweise auch gut reden und präsentieren können, etwas von Psychologie verstehen, Computer bedienen, Prozesse verstehen, sein eigenes Lernen managen, Konflikte bewältigen, verhandeln und so weiter. Bilden unsere Schulen und Universitäten solche Menschen aus? Nein, derzeit geht es eher in Richtung Standardisierung der Bildung. Aber genau das ist für eine Exzellenzgesellschaft schädlich: Bildung ist und bleibt ein Premiumservice und sollte auch so behandelt werden. Wer nur für Prüfungen und schnelle Studienzeiten büffelt, wird keine multikompetente Persönlichkeit.
Bildung via Internet
Mithilfe des Internets könnte man schon in der Schule den Funken der Begeisterung für Bildung entfachen. Ein paar Beispiele:
- Biologie: Virtuelles Mikroskopieren mit Zoom-Technologie wie bei Google Earth.
- Physik: Schüler richten die Elektrik in einem virtuellen Gebäude ein oder bauen per Computer ein funktionstüchtiges Auto.
- Erdkunde: Mittels geografischem Informationssystem erkunden Schüler live, wie Meeresströmungen fließen, wo welche Bodenschätze liegen, und sehen sich Videos zu archäologischen Fundstätten an.
- Sprachen: Schüler können alle großen Werke der Weltliteratur im Internet abrufen: als Texte, Hörbücher und Filme. Sprachen lernen sie über einen virtuellen Schüleraustausch und Chats oder über Skype-Telefonate mit Kindern aus anderen Ländern.
- Geschichte: Sie wird lebendig durch Animationen, Videos und virtuelle Zeitreisen.
- Mathematik: Denkbar sind Grundlagenvideos und virtuelle Trainer, bei denen die Schüler das Lerntempo selbst bestimmen, sowie Videos und Animationen zur praktischen Anwendung von Mathematik und Statistik.
„Die Dienstleistungsberufe werden in den nächsten Jahren gnadenlos optimiert und automatisiert werden.“
Computertechnologie macht es möglich, dass heutige Schüler beim Abitur dreimal so viel im Kopf haben wie ihre Eltern. Nur so wird das Ziel „Abitur und Studium für alle“ wirklich erreichbar. Wenn sämtliche Möglichkeiten, die die Technologie bietet, zu Bildungszwecken eingesetzt werden, spricht man von „Culture Technologies“ (ja, in marktgängigem Englisch, weil das ein neuer Exportschlager werden könnte). Deutschland als traditionell bildungsoffenes Land könnte hier eine Vorreiterrolle übernehmen, indem solche erschafft und eine eigene Industrie zur Erforschung und Umsetzung moderner Lerninhalte aus dem Boden stampft – Arbeitsplätze inklusive.
Elite oder Slum
Bereits heute ist die Schere zwischen Arm und Reich nicht zu übersehen. Wenn es so weiter geht wie bisher, wird es noch schlimmer: Wenige Privilegierte werden Bildung horten und sich damit Vorteile verschaffen. Das Fußvolk bleibt unwissend und macht die ganze Arbeit zu einem Hungerlohn. Dann wäre unsere viel beschworene Wissensgesellschaft ein Sklavenstaat, wo es nur die Alternative „Elite oder Slum“ gäbe. Kurz nach dem Wirtschaftswunder wäre so etwas in Deutschland nicht möglich gewesen: Jeder arbeitete fleißig und ehrlich seine 40 Stunden in der Woche und ging danach in den Feierabend, der ihm von allen Seiten herzlich gegönnt wurde. In den 80er Jahren kam das Effizienzstreben auf und damit der Anfang vom Ende des Wir-Gefühls der arbeitenden Bevölkerung. Es entwickelte sich eine Ich-gegen-den-Rest-der-Welt-Mentalität. Jeder will und muss plötzlich der Beste, Schnellste und Innovativste sein. Und weil das nicht jeder kann, wird viel geschummelt, geblendet und manipuliert. Im Sport wird gedopt, Pharmariesen strecken ihre Medikamente, bei Reinigungsmitteln wird klammheimlich die Packungsgröße verändert, Unis tricksen mit Publikationen. Dann aber schlagen die Kunden zurück: Sie wissen nicht mehr, wem sie vertrauen können, und rufen zum Boykott auf. Plötzlich ist wieder die Rede von unternehmerischer Verantwortung, Meisterehre und Vertrauenskultur. Deutschland braucht Breitenbildung für alle, um den Grabenkampf zwischen Slum und Elite zu verhindern.
Die Infrastruktur der Zukunft
Wenn wir die Zukunft dem Markt überlassen, wird dieser alles in seinem Sinne regeln. Wie gehabt: Er wird schnellen Gewinnen nachjagen, Dienstleistungen automatisieren und sie dann in den Niedriglohnsektor auslagern. Für die Gestaltung der Zukunft braucht das Land verlässliche Infrastrukturen – und damit ist der Markt regelmäßig überfordert. Es gibt weder einheitliche Standards bei technischen Normen noch ein flächendeckendes Hochgeschwindigkeits-Internet in Deutschland. Einzelne Unternehmen schielen immer erst auf den kurzfristigen Gewinn und haben keinen großen Plan in der Hinterhand. Hier muss er dann doch wieder ran: der Staat. Er muss für diesen Plan sorgen und aus unserem Wirtschaftssystem eine „infrasoziale Marktwirtschaft“ machen, die gleichzeitig soziale Standards aufrechterhält und für eine geeignete Infrastruktur sorgt. Die einzelnen Innovationen (z. B. Autos) können die Unternehmen selbst erledigen, um die Infrastruktur (z. B. die Straßen) muss sich der Staat kümmern. Die Menschen in Deutschland müssen sich der Zukunft aktiv zuwenden und auch mal alte Zöpfe abschneiden, wenn es sein muss. Es nützt nichts, der „guten alten Zeit“ nachzutrauern. Heute erinnert sich kaum noch jemand daran, dass vor einigen Jahrzehnten 50 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft gearbeitet haben. Für die junge Generation wird es mit IT und Internet ähnlich sein: Solche Kulturtechniken gehören zukünftig einfach dazu, als wären sie immer schon da gewesen. Der Kulturwandel zum gebildeten, sozialen und ethisch handelnden Menschen gehört ins Grundgesetz. Und die Politik sollte sich folgenden Forderungen beherzt stellen:
- Eine Exzellenzkultur schaffen, die multikompetente Menschen hervorbringt.
- Deutschland zu einem Land der Innovationen im Bereich der Medizin-, Gen-, Bio-, Nano- und Umwelttechnologien machen.
- Den Mittelstand fördern und die Wirtschaft dazu verpflichten, auf breiter Ebene Wohlstand zu generieren.
- Subventionen für sterbende Branchen und Technologien streichen.
- Ein Gremium für Ethik und Zukunft einrichten.