Aufbrechen!

Buch Aufbrechen!

Warum wir eine Exzellenzgesellschaft werden müssen

Eichborn,


Rezension

An Wagemut und Originalität fehlt es Gunter Dueck nicht: „Die Di­en­stleis­tungs­ge­sellschaft zerfällt“, sagt er, „darum müssen alle studieren“. Statt seine Thesen an eine Kirchentür zu nageln, publiziert er sie in schöner Regelmäßigkeit in einem neuen Buch. Allerdings weiß man bei ihm nie so recht, ob er gerade bitterböse Satire oder hell­sichtige Zukun­ftss­chau betreibt. Aufbrechen! ist beides und obendrein noch ein politisches Plädoyer für ein neues Men­schen­bild. Duecks Credo: Weg von der Zucker­brot-und-Peitsche-Men­talität, weg vom Auf-Teufel-komm-raus-Gesund­schrumpfen, hin zur Förderung von Toleranz, Lern­bere­itschaft und Zuversicht, die der IBM-Cheftech­nologe am liebsten gleich im Grundgesetz verankern würde. In einem Vortrag erklärte Dueck einmal, dass jeder Wis­senschaftler irgendwann in seiner Karriere mit seinen Thesen Recht hätte, weil sich die äußeren Umstände in regelmäßigen Zyklen ändern würden. Da kann man nur hoffen, dass es Dueck genauso geht, vor allem was sein positives Men­schen­bild betrifft. In anderen Dingen kann man mit ihm getrost uneins sein, anregend ist die Lektüre allemal, meint BooksInShort, besonders für Manager, Politiker und Sozial­wis­senschaftler.

Take-aways

  • Der Di­en­stleis­tungssek­tor wird immer mehr nach den Regeln der Ef­fizien­zsteigerung stan­dar­d­isiert.
  • Di­en­stleis­tun­gen zerfallen in Rou­tineauf­gaben und Spezial­is­ten­jobs.
  • Die Stan­dar­d­isierung führt dazu, dass viele Arbeiten vom Kunden selbst erledigt werden.
  • Deutschland muss sich zu einer Exzel­len­zge­sellschaft entwickeln, in der alle mit neuen Tech­nolo­gien vertraut sind.
  • Ohne Bre­it­en­bil­dung wird es zukünftig nur noch die Alternative „Elite oder Slum“ geben.
  • Das Bil­dungssys­tem muss flexibler werden, um vielfach kompetente Persönlichkeiten her­vorzubrin­gen.
  • Jeder muss künftig studieren – sonst verpasst er den Anschluss.
  • Deutschland sollte „Culture Tech­nolo­gies“ (Bildung und deren Vermittlung) entwickeln und exportieren.
  • Der Staat muss die In­fra­struk­tur für eine Exzel­len­zge­sellschaft schaffen – der Markt allein schafft das nicht.
  • Gefragt sind mehr In­vesti­tio­nen in die Bildung und weniger Sub­ven­tio­nen für sterbende Branchen und Tech­nolo­gien.
 

Zusammenfassung

Das Ende der Di­en­stleis­tungs­ge­sellschaft

Finden Sie es nicht seltsam, dass immer noch Autos aus den Werkshallen von Mercedes, Audi, VW oder Opel fahren, obwohl dort ständig Mitarbeiter entlassen werden? Unsere Arbeitswelt wird von Erdbeben erschüttert, unserer Di­en­stleis­tungs­ge­sellschaft stehen radikale Veränderungen bevor. Zukünftig werden Di­en­stleis­tun­gen das gleiche Schicksal erleiden wie die in­dus­trielle Produktion Jahrzehnte zuvor: Sie werden au­toma­tisiert. Diese Au­toma­tisierung wird den Di­en­stleis­tungssek­tor spalten: in gering vergütete Rou­tineauf­gaben und in Spezial­is­ten­jobs mit hoher Gewinnspanne. Internet und Com­put­ertech­nolo­gie werden die Di­en­stleis­tungs­branche total umkrempeln – noch stärker, als sie das bereits getan haben. In puncto In­no­va­tion­skraft sind sie ver­gle­ich­bar mit der Eisenbahn: Mit dem Verlegen der Schienen wurde der Westen der USA erschlossen. Oder mit der Autobahn: Sie sorgte, zusammen mit dem PKW, für grenzenlose Mobilität. Solche Erfindungen ermöglichen neue In­fra­struk­turen und gestalten damit eine neue Welt. Sie sorgen aber auch dafür, dass viel weniger Menschen die Aufgaben übernehmen, die zuvor von doppelt oder dreimal so vielen Personen erledigt wurden. Entsprechend hoch muss diese neue Elite qual­i­fiziert sein.

Willkommen in der Di­en­stleis­tungs­fab­rik

Di­en­stleis­tun­gen wie Fab­rikar­beit anbieten, geht das überhaupt? Ja, das geht. Bereits heute gibt es beispiel­sweise Au­toreparatur­w­erkstätten, die nur Stein­schlagschäden an der Wind­schutzscheibe reparieren, nichts anderes. Man glaubt gar nicht, dass es so viele Glasschäden an Autos gibt, aber diese Unternehmen sind weitgehend ausgelastet. Genau das bedeutet Spezial­isierung vor allem: Auslastung. Wer alles anbietet, wie beispiel­sweise eine Full-Ser­vice-Werk­statt, riskiert, nicht immer Arbeit zu haben. Der Meister muss aber seine Mitarbeiter auch dann bezahlen, wenn gerade kein Kunde am Werk­statt­tor klopft. Deshalb entlässt er die Mitarbeiter, die er nicht dringend braucht, und riskiert, dass er Kunden warten lassen muss. So ist das überall: Der Kunde wartet beim Arzt, am Fahrkarten­schal­ter, am Postschal­ter, bei der Bank, beim Friseur. Oder aber er geht ins Internet, wo er viele Rou­tineauf­gaben selbst erledigen kann. Statt also – wie beispiel­sweise am Fahrkarten­schal­ter – auf die Monitorrückseite eines mehr oder weniger kompetenten Bahn-Mi­tar­beit­ers zu starren, starren viele Menschen lieber zu Hause oder am Fahrkarte­nau­tomat auf die Mon­i­tor­vorder­seite und machen es selbst.

Standard und Premium trennen

Di­en­stleis­tungs­fab­riken sind immer spezial­isiert und können deshalb Spezialar­beiten als Rou­tin­ear­beiten verkaufen. Heute fährt man zu Carglass, wenn die Scheibe kaputt geht, und in die Werkstatt, wenn der „Motor komische Geräusche macht“, die Diagnose also nicht klar ist und ein Alleskönner ran muss. Ähnlich wird es zukünftig auch in anderen Di­en­stleis­tungs­bere­ichen zugehen: Der billige „McDoc“ im Supermarkt wird einen Gesund­heitscheck machen, darf aber nicht behandeln. Die Behandlung gibt es dann im spezial­isierten Krankenhaus für Onkologie, Diabetes oder Herzk­lap­penchirurgie. Ide­al­er­weise kommen die Patienten nach der Operation wiederum in spezial­isierte Aufwach- und post­op­er­a­tive Pflegek­linken. Die In­fra­struk­tur für ein Spezial­prob­lem ist effizienter, als mehrere In­fra­struk­turen gle­ichzeitig vorzuhalten. Diese Spezial­isierung ist nur dank modernster Tech­nolo­gien möglich. Und deren Bedienung sowie die gesamte Planung von fab­rikar­ti­gen Di­en­stleis­tungssys­te­men verlangen nach Know-how, Wissen, Bildung.

Jeder kann und muss studieren!

Das klingt zunächst nach einem bil­dungspoli­tis­chen Traum. Aber können wirklich alle studieren? Sie müssen es sogar, wenn sie nicht vom Mitarbeiter zum Arbeiter absteigen wollen. Bildung für alle ist der Schlüssel zur Exzel­len­zge­sellschaft. Diese Bildung kann jedoch nicht der Staat allein her­auf­beschwören, schon gar nicht mit Schmal­spur-Stu­di­engängen und indem er in Forschung und Wis­senschaft an der Ef­fizien­zschraube dreht. Bildung ist mehr als technisches Wissen und bedeutet vor allem: Jeder will gerne und viel lernen. Wer bei der Arbeit lächelt, weil sie ihm Spaß macht und weil es Freude bereitet, seine Fähigkeiten auszubauen – der bekommt nor­maler­weise vom Chef noch mehr Arbeit aufgehalst, bis ihm das Lächeln vergeht. Das schadet den Mi­tar­beit­ern, den Chefs, den Unternehmen und der Gesellschaft. Douglas McGregor vom Mass­a­chu­setts Institute of Technology stellte bereits in den 60er Jahren zwei Theorien über den Menschen auf. Gemäß Theorie X ist der Mensch faul und ar­beitss­cheu und muss mit harter Hand geführt werden. Theorie Y dagegen sieht im Menschen eine wiss­be­gierige und intrinsisch motivierte Spezies, die nach Exzellenz strebt.

Mul­ti­kom­pe­tente Persönlichkeiten

In Deutschland bestimmt leider die Theorie X das tägliche Handeln. Gerade hier braucht es aber einen Kul­tur­wan­del hin zur Theorie Y und hin zu mehr Ve­r­ant­wor­tungs­be­wusst­sein für die eigene Bildung. Bildung muss attraktiv und begehrenswert sein und darf nicht als lästige und unbequeme Pflicht wahrgenom­men werden. Das fängt in der Schule an, wo viele Schüler eher demotiviert werden, statt dass ihre Lern­begeis­terung geweckt würde. Für die künftige Exzel­len­zge­sellschaft braucht man mul­ti­kom­pe­tente Menschen. Das bedeutet: Jeder muss sein Spezial­ge­biet beherrschen, darf aber auch in allen an­gren­zen­den Kom­pe­tenzbere­ichen nicht ganz schlecht sein, er muss beispiel­sweise auch gut reden und präsentieren können, etwas von Psychologie verstehen, Computer bedienen, Prozesse verstehen, sein eigenes Lernen managen, Konflikte bewältigen, verhandeln und so weiter. Bilden unsere Schulen und Universitäten solche Menschen aus? Nein, derzeit geht es eher in Richtung Stan­dar­d­isierung der Bildung. Aber genau das ist für eine Exzel­len­zge­sellschaft schädlich: Bildung ist und bleibt ein Pre­mi­um­ser­vice und sollte auch so behandelt werden. Wer nur für Prüfungen und schnelle Stu­dien­zeiten büffelt, wird keine mul­ti­kom­pe­tente Persönlichkeit.

Bildung via Internet

Mithilfe des Internets könnte man schon in der Schule den Funken der Begeis­terung für Bildung entfachen. Ein paar Beispiele:

  • Biologie: Virtuelles Mikroskopieren mit Zoom-Tech­nolo­gie wie bei Google Earth.
  • Physik: Schüler richten die Elektrik in einem virtuellen Gebäude ein oder bauen per Computer ein funktionstüchtiges Auto.
  • Erdkunde: Mittels ge­ografis­chem In­for­ma­tion­ssys­tem erkunden Schüler live, wie Meeresströmungen fließen, wo welche Bodenschätze liegen, und sehen sich Videos zu archäologischen Fundstätten an.
  • Sprachen: Schüler können alle großen Werke der Weltlit­er­atur im Internet abrufen: als Texte, Hörbücher und Filme. Sprachen lernen sie über einen virtuellen Schüler­aus­tausch und Chats oder über Skype-Tele­fonate mit Kindern aus anderen Ländern.
  • Geschichte: Sie wird lebendig durch Animationen, Videos und virtuelle Zeitreisen.
  • Mathematik: Denkbar sind Grund­la­gen­videos und virtuelle Trainer, bei denen die Schüler das Lerntempo selbst bestimmen, sowie Videos und Animationen zur praktischen Anwendung von Mathematik und Statistik.
„Die Di­en­stleis­tungs­berufe werden in den nächsten Jahren gnadenlos optimiert und au­toma­tisiert werden.“

Com­put­ertech­nolo­gie macht es möglich, dass heutige Schüler beim Abitur dreimal so viel im Kopf haben wie ihre Eltern. Nur so wird das Ziel „Abitur und Studium für alle“ wirklich erreichbar. Wenn sämtliche Möglichkeiten, die die Technologie bietet, zu Bil­dungszwecken eingesetzt werden, spricht man von „Culture Tech­nolo­gies“ (ja, in marktgängigem Englisch, weil das ein neuer Ex­portschlager werden könnte). Deutschland als tra­di­tionell bil­dung­sof­fenes Land könnte hier eine Vor­re­it­er­rolle übernehmen, indem solche erschafft und eine eigene Industrie zur Erforschung und Umsetzung moderner Lerninhalte aus dem Boden stampft – Arbeitsplätze inklusive.

Elite oder Slum

Bereits heute ist die Schere zwischen Arm und Reich nicht zu übersehen. Wenn es so weiter geht wie bisher, wird es noch schlimmer: Wenige Priv­i­legierte werden Bildung horten und sich damit Vorteile verschaffen. Das Fußvolk bleibt unwissend und macht die ganze Arbeit zu einem Hungerlohn. Dann wäre unsere viel beschworene Wis­sens­ge­sellschaft ein Sklaven­staat, wo es nur die Alternative „Elite oder Slum“ gäbe. Kurz nach dem Wirtschaftswun­der wäre so etwas in Deutschland nicht möglich gewesen: Jeder arbeitete fleißig und ehrlich seine 40 Stunden in der Woche und ging danach in den Feierabend, der ihm von allen Seiten herzlich gegönnt wurde. In den 80er Jahren kam das Ef­fizien­zstreben auf und damit der Anfang vom Ende des Wir-Gefühls der arbeitenden Bevölkerung. Es entwickelte sich eine Ich-gegen-den-Rest-der-Welt-Men­talität. Jeder will und muss plötzlich der Beste, Schnellste und In­no­v­a­tivste sein. Und weil das nicht jeder kann, wird viel geschummelt, geblendet und manipuliert. Im Sport wird gedopt, Phar­mariesen strecken ihre Medikamente, bei Reini­gungsmit­teln wird klammheim­lich die Packungsgröße verändert, Unis tricksen mit Pub­lika­tio­nen. Dann aber schlagen die Kunden zurück: Sie wissen nicht mehr, wem sie vertrauen können, und rufen zum Boykott auf. Plötzlich ist wieder die Rede von un­ternehmerischer Ve­r­ant­wor­tung, Meisterehre und Ver­trauen­skul­tur. Deutschland braucht Bre­it­en­bil­dung für alle, um den Grabenkampf zwischen Slum und Elite zu verhindern.

Die In­fra­struk­tur der Zukunft

Wenn wir die Zukunft dem Markt überlassen, wird dieser alles in seinem Sinne regeln. Wie gehabt: Er wird schnellen Gewinnen nachjagen, Di­en­stleis­tun­gen au­toma­tisieren und sie dann in den Niedriglohnsek­tor auslagern. Für die Gestaltung der Zukunft braucht das Land verlässliche In­fra­struk­turen – und damit ist der Markt regelmäßig überfordert. Es gibt weder ein­heitliche Standards bei technischen Normen noch ein flächen­deck­endes Hochgeschwindigkeits-In­ter­net in Deutschland. Einzelne Unternehmen schielen immer erst auf den kurzfristi­gen Gewinn und haben keinen großen Plan in der Hinterhand. Hier muss er dann doch wieder ran: der Staat. Er muss für diesen Plan sorgen und aus unserem Wirtschaftssys­tem eine „in­fra­soziale Mark­twirtschaft“ machen, die gle­ichzeitig soziale Standards aufrechterhält und für eine geeignete In­fra­struk­tur sorgt. Die einzelnen In­no­va­tio­nen (z. B. Autos) können die Unternehmen selbst erledigen, um die In­fra­struk­tur (z. B. die Straßen) muss sich der Staat kümmern. Die Menschen in Deutschland müssen sich der Zukunft aktiv zuwenden und auch mal alte Zöpfe abschneiden, wenn es sein muss. Es nützt nichts, der „guten alten Zeit“ nachzu­trauern. Heute erinnert sich kaum noch jemand daran, dass vor einigen Jahrzehnten 50 % der Bevölkerung in der Land­wirtschaft gearbeitet haben. Für die junge Generation wird es mit IT und Internet ähnlich sein: Solche Kul­turtech­niken gehören zukünftig einfach dazu, als wären sie immer schon da gewesen. Der Kul­tur­wan­del zum gebildeten, sozialen und ethisch handelnden Menschen gehört ins Grundgesetz. Und die Politik sollte sich folgenden Forderungen beherzt stellen:

  • Eine Exzel­len­zkul­tur schaffen, die mul­ti­kom­pe­tente Menschen her­vor­bringt.
  • Deutschland zu einem Land der In­no­va­tio­nen im Bereich der Medizin-, Gen-, Bio-, Nano- und Umwelt­tech­nolo­gien machen.
  • Den Mittelstand fördern und die Wirtschaft dazu verpflichten, auf breiter Ebene Wohlstand zu generieren.
  • Sub­ven­tio­nen für sterbende Branchen und Tech­nolo­gien streichen.
  • Ein Gremium für Ethik und Zukunft einrichten.

Über den Autor

Gunter Dueck ist Cheftech­nologe bei IBM Deutschland. Zuvor war er Professor für Mathematik an der Universität Bielefeld. Dueck ist Autor einer Vielzahl von Büchern, darunter Abschied vom Homo oeconomicus, Lean Brain Management und Wild Duck.