Die rote Lilie

Buch Die rote Lilie

Paris, 1946
Diese Ausgabe: Lenos,


Worum es geht

Die Absurdität des Kriegs

Gleich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 meldete sich Blaise Cendrars als Frei­williger bei der französischen Frem­den­le­gion. Als Schweizer mit Wohnsitz in Paris fühlte sich der junge Avant­garde-Dichter verpflichtet, seine Wahlheimat gegen die Deutschen zu verteidigen und mit der Waffe für Werte wie Freiheit und Demokratie einzutreten. 30 Jahre später verfasste er – unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs – seine Memoiren über jene Zeit. Scho­nungs­los und ohne jede Sen­ti­men­talität erzählt Cendrars vom Alltag in den Schützengräben, von endlosen Märschen, von Hunger und Kälte, von Gewalt und dem einsamen Tod auf dem Schlacht­feld, aber auch von Aben­teuer­lust und Fre­und­schaft. In kurzen, ein­dringlichen Porträts skizziert er seine Mitsoldaten – nicht als tapfere Helden, sondern als ganz normale Menschen mit Schwächen und Lei­den­schaften. Das überraschend Moderne an diesem Roman ist sein il­lu­sion­sloser Blick auf den Krieg und seine kraftvolle, mal poetische, mal deftige Sprache. Cendrars zeigt den Krieg in all seiner brutalen Sinnlosigkeit, mit einem Sarkasmus, hinter dem stets eine tiefe Verstörung spürbar ist.

Take-aways

  • Die rote Lilie ist einer der eindrücklichsten Front­berichte aus dem Ersten Weltkrieg.
  • Inhalt: Nach 30 Jahren blickt der Westschweizer Autor Cendrars auf seine Zeit als Soldat bei der französischen Frem­den­le­gion zurück. Der Krieg erscheint als pures Chaos, als grenzenlose Absurdität. Cendrars’ Kompanie verliert innerhalb eines Jahres 200 Männer. Bei einem Gefecht in der Champagne wird der Autor von einer Granate schwer verletzt und verliert seinen rechten Arm.
  • Cendrars’ Sprache ist präzise und temporeich, poetisch und derb zugleich.
  • In kurzen Skizzen werden die Kameraden porträtiert – nicht als tapfere Helden, sondern als ganz normale Menschen.
  • Als Angehöriger der Frem­den­le­gion kämpft der Schweizer Cendrars nicht nur gegen den deutschen Feind, sondern auch gegen die starre französische Militärbürokratie.
  • Von seiner trau­ma­tis­chen Kriegsver­let­zung berichtet er nur am Rande und in sur­re­al­is­tisch ver­fremde­ter Manier.
  • Das Buch ist der zweite Teil eines vierbändigen au­to­bi­ografis­chen Romanzyklus.
  • Der Autor dis­tanzierte sich ausdrücklich von den so genannten Frontschrift­stellern, die ihre Kriegseindrücke mit großem Erfolg literarisch ve­r­ar­beit­eten.
  • Der Roman, der in Frankreich zu den Stan­dard­w­erken über den Ersten Weltkrieg zählt, wurde 2002 erstmals ins Deutsche übersetzt.
  • Zitat: „Gott ist abwesend auf dem Schlacht­feld.“
 

Zusammenfassung

Rückblick auf den Krieg

Aus der Distanz von drei Jahrzehnten blickt Blaise Cendrars auf seine Zeit als Soldat bei der Frem­den­le­gion im Ersten Weltkrieg zurück. Nach einer gescheit­erten Offensive gegen die Deutschen, bei der Hunderte französische Soldaten ihr Leben lassen mussten, legt seine Einheit im Frühjahr 1915 nahe der nordfranzösischen Stadt Tilloloy eine Kampfpause ein. Mit dem Frühling kommt die Hoffnung auf, man könnte das Gemetzel, das schon so viele Opfer gefordert hat, irgendwie doch noch heil überstehen. Gequält von Läusen, Langeweile und der Lust auf Frauen, wartet jeder nur sehnlich darauf, Urlaub von der Front zu bekommen oder in den ruhigeren Innendienst versetzt zu werden.

Der Tod erwischt jeden

Die Truppe, die Cendrars befehligt, ist ein bunter Haufen von Männern aus aller Herren Länder – Freiwillige wie er selbst. Da ist der Italiener Rossi, ein riesen­hafter Hüne, ängstlich und immer hungrig, dafür stark wie ein Elefant. Gerade hat er Urlaub erhalten und verschlingt im Schutz eines Baumstumpfs seine letzten Essensvorräte, als ihm eine Granate den Bauch aufreißt. Da ist Lang, der schöne Frauenheld aus Luxemburg, der sich freiwillig als Soldat gemeldet hat, weil ihm die französische Uniform so gut steht. Als Cendrars ihn auf den begehrten Posten eines Küchenge­fre­iten versetzt, ist er überglücklich, doch noch in derselben Nacht wird er auf dem Marktplatz von einer Granate der Deutschen zerfetzt, und von ihm bleibt nur der schöne Schnurrbart übrig. Da ist Robert, der seinen Kameraden Ségouâna mit den ständigen Schilderun­gen der Brüste seiner Schwester entflammt hat. Zwischen den beiden entbrennt ein stiller Kampf um die Heißbegehrte, doch der Tod kommt ihnen zuvor.

„Wir, die Veteranen, waren seit kaum einem Jahr Soldaten und hatten bereits gelernt, alle Hoffnung aufzugeben. (...) Ich glaubte an nichts mehr. Doch leben ... leben! Wie wunderbar mir das vorkam!“ (S. 16)

Selbst wer dem Tod entgeht, kommt nicht heil davon. So wie der Russe Bikoff, der nach einem Kopf­durch­schuss erblindet. Nach dem Krieg heiratet er sogar noch, aber eines Tages erschießt er seine schlafende Frau, bevor er sich vor die Straßenbahn wirft. Oder der kleine ital­ienis­che Ganove Garnéro, der von einer Granate getroffen und von seinen Kameraden für tot erklärt wird. Zehn Jahre später begegnet Cendrars ihm zufällig im Pariser Viertel Montmartre, wo er als Straßenkehrer arbeitet. Er hat ein Bein verloren. Da sitzen sie einander gegenüber, der eine mit nur einem Bein, der andere mit nur einem Arm. Aber sie leben.

Dumme Strategen

Wer die Realität des Krieges kennen gelernt hat, glaubt nicht mehr an die klugen Sprüche der Kriegsstrate­gen. Marschiere oder krepiere, lautet die Devise. Beispiele für die Dummheit der hohen Militärs gibt es genug. So befiehlt einmal zu Beginn des Krieges der Oberst von Cendrars’ Truppe einen Fußmarsch von Paris nach Rosières, dessen einziger Zweck darin besteht, die Soldaten zu drillen. Man hätte auch Züge nehmen können. Als sie nach fünftägigem Fußmarsch völlig erschöpft und durchge­froren das Ziel fast erreicht haben, verliert der Oberst die Ori­en­tierung. Bei strömendem Regen irren die Männer hungrig durch die Finsternis und versinken bis zu den Knöcheln im Schlamm. Doch der Oberst gönnt ihnen keine Rast. Dann werden sie auch noch von den eigenen Landsleuten unter Beschuss genommen, die blindwütig ihre Munition verballern. Nur durch die Initiative Cendrars’ finden die Männer schließlich ihren Platz in den Schützengräben. Anders als seine Vorge­set­zten zeigt er Ve­r­ant­wor­tung für seine Leute, lässt aber auch schon mal fünf gerade sein, etwa wenn er dem kränkelnden älteren Soldaten Kupka den Besuch seiner Frau gestattet. Immerhin wird er neun Monate später befördert und als bester Soldat seiner Kompanie zur Luftwaffe berufen, was er allerdings zurückweist. Er möchte lieber bei seinen Männern bleiben.

Ein bunter Haufen

Rückblick auf die Zeit des Kriegsaus­bruchs: Bereits im Juli 1914 erscheint in den Pariser Zeitungen ein Aufruf, der alle Freunde Frankreichs dazu auffordert, sich freiwillig zu melden und die französische Armee im Kampf gegen die Deutschen zu unterstützen. Zehn­tausende folgen dem Appell. Unter den Frei­willi­gen sind viele Ausländer, die sich weniger aus Hass gegen Deutschland als aus Liebe zu Frankreich gemeldet haben – darunter In­tellek­tuelle und Künstler, aber auch Kaufleute und Ladenbe­sitzer, die sich auf diese Weise ihre Einbürgerung verdienen, sowie Ausländer, die nach dem Ende des Krieges in ihre Heimat zurückkehren wollen. Für Cendrars selbst, der sich bei Kriegsaus­bruch unter falschem Namen beim 3. In­fan­teriereg­i­ment der Pariser Garnison verpflichtet, besteht ein Reiz darin, inkognito zu bleiben. An der Front ist er kein Schrift­steller, sondern Soldat.

„Die Erinnerung, was für ein Friedhof! Ob nah oder fern, die Gräber vervielfachen sich, und in einer Zeit wie der unsren spielen die Toten Bock­sprin­gen und kehren, vom Himmel herabstürzend, zurück!“ (S. 58)

Die französischen Offiziere reagieren oft mit Verachtung auf die Ausländer, in denen sie einen Haufen Herrensöhnchen, Kriminelle oder einfach nur arme Irre sehen. Dass Leute sogar aus Übersee anreisen, um freiwillig für das fremde Land zu kämpfen, können die arroganten französischen Feldwebel nicht verstehen. Als die Pariser Garnison nach acht Monaten der Frem­den­le­gion zugeteilt wird – zur großen Empörung der Frei­willi­gen, denn die Frem­den­le­gion hat einen schlechten Ruf –, machen sich viele Offiziere und Un­terof­fiziere aus dem Staub. Auf Kampfgetümmel haben diese Schnösel und Kar­ri­eris­ten in ihren prächtigen Uniformen ohnehin keine Lust. Leutnant Plein-de-Soupe beispiel­sweise, ein selbstgefälliger Dummkopf und Spießer, im bürgerlichen Leben Notar, wird wie die anderen laufend wechselnden Offiziere nie in einem Schützengraben gesehen. Korpsgeist zeigen diese Herren allenfalls bei festlichen Gelagen und Sieges­pa­raden. Allein Hauptmann Jacottet kümmert sich wirklich um sein Bataillon und hat für jeden ein Wort übrig.

Aben­teuer­lust und Katzen­jam­mer

Die Ausländerkom­panie fühlt sich von den Offizieren allein­ge­lassen. Gle­ichzeitig genießen Cendrars und seine Leute, alle um die 25 Jahre alt, in ihrem einsamen, an Sümpfe grenzenden Postenstand im Tal der Somme große Freiheit. Sie jagen, fischen und kochen sich ihr Essen selbst. Inmitten des großen Krieges führen sie – ausgerüstet nur mit Jagdgewehren, Messern und erbeuteten Granaten – wie Indianer ihren eigenen Kleinkrieg. Von Langeweile und Aben­teuer­lust getrieben, greifen sie die Deutschen aus dem Hinterhalt an und klauen Sachen aus verlassenen Häusern. Nachts schippern sie heimlich in einem gestohlenen Kahn durch die Sümpfe. In ihren gemütlich ein­gerichteten Unterständen in der Grenouillère lässt es sich aushalten. Doch das ständige Hin und Her zwischen Front und Etappe, bei dem sie nie wissen, ob sie es lebend überstehen, ist ermüdend. Die Nächte an der Front in kotver­schmutzen, rat­ten­verseuchten Unterkünften und die Tage in morastigen Schützengräben zermürben die Soldaten. Erfrorene Füße, Lungenentzündungen und Rheuma­tis­men sorgen im ersten Kriegswin­ter für arg dezimierte Truppenverbände, die daraufhin zusam­men­gelegt werden.

„Die Kriegskunst ist Sache der Kommissköpfe. Eine schweinis­che Routine. Marschiere oder krepiere. Und wir marschierten. Und wir krepierten.“ (S. 64)

Auf Befehl des Gen­er­alsstabs, der einen Gefangenen braucht, schleichen sich Cendrars und der Pole Przy­byszewski zum feindlichen Lager – ein riskantes Unterfangen. Stundenlang liegen sie im Schlamm auf der Lauer, ehe sie begreifen, dass da niemand ist. Nach der Anspannung fühlt sich Cendrars vollkommen ausgelaugt und zugleich aufgedreht wie nach einer Überdosis Drogen. Warum bloß macht er das alles mit? Das absurde Spiel mit der Gefahr muss immer aufs Neue wiederholt werden, und koste es das Leben. Er will es bis zum Ende durchziehen, um zu erfahren, wozu die Menschen in der Lage sind – im Guten wie im Bösen. Am nächsten Tag machen sie doch noch einen Gefangenen: einen deutschen Deserteur. Der alte General Dubois, zu dem Cendrars den Gefangenen führt, zeigt sich sehr menschlich. Cendrars liefert ihm wichtige In­for­ma­tio­nen, doch auf das Fass Rotwein, das ihm versprochen wird, wartet er vergeblich. Auf das Wort eines kleinen Ganoven kann man sich verlassen, auf das eines großen nicht.

In den Fängen der Militärmaschinerie

Eines Nacht überfallen Cendrars und fünf seiner Leute – neben Przy­byszewski und Garnéro auch Griffith, Sawo und der flämische Schmuggler Opphopf – von ihrem Kahn aus einen deutschen Postwagen. Sie erbeuten nicht nur Leckereien und Geschenke, sondern auch geheime Dokumente der Deutschen. Zunächst soll Cendrars dafür das Ehrenkreuz erhalten, doch als herauskommt, dass sie den Kahn entwendet haben, ist der Ärger groß. Cendrars erhält eine Anzeige wegen Diebstahls und Verbrüderung mit den Deutschen. Der neue – inzwischen schon vierte – Oberst Bourbaki, ein ehrgeiziger, bulliger Militärkopf, verhört und bedroht ihn, versucht ihn wech­sel­weise einzuschüchtern und zu verführen – ohne Erfolg. Weder entschuldigt sich Cendrars, noch liefert er eine Erklärung. Schließlich wird er degradiert.

„Von allen Schlacht­szenen, die ich erlebt habe, habe ich nur das Bild eines totalen Chaos zurückgebracht. Ich frage mich, wo die Kerle das herholen, wenn sie behaupten, historische oder hehre Momente erlebt zu haben.“ (S. 81)

Als neuer Postenchef soll Adjutant Angéli ein Auge auf die Truppe haben und einen Rapport über die unselige Geschichte schreiben. Der ältere und erfahrene Aus­bil­dung­sof­fizier, der sich um seine Frau und seine drei Kinder daheim in Paris sorgt, zeigt Verständnis für Cendrars’ Eskapaden, ermahnt ihn aber, an seine Karriere und Familie zu denken, gegenüber Vorge­set­zten den Mund zu halten und sich bei Verstößen nicht erwischen zu lassen. Doch all seine Erfahrung nützt Angéli selber nichts: Bei einer Schießerei fällt er kopfüber in ein La­tri­nen­loch und erstickt in der deutschen Kloake, die Beine zum Himmel gereckt.

„An der Front war ich Soldat. Ich habe geschossen. Ich habe nicht geschrieben.“ (S. 125)

Die Geschichte des Diebstahls ist derweil immer noch nicht erledigt, ja sie weitet sich sogar zu einer echten Staatsaffäre aus und beschäftigt hohe Beamte und Un­ter­suchungsrichter. Währenddessen sitzt Cendrars offiziell eine 30-tägige Strafe ab, die ihm schon zu Beginn des Krieges aufgebrummt wurde, weil er uner­laubter­weise Fotos geschossen hat. Tatsächlich aber taucht er mit Erlaubnis seines Hauptmanns in dem nahe gelegenen verlassenen Haus eines Sammlers unter und liest sich durch dessen Bibliothek. Der Hauptmann hofft, dass sich die Wogen, die die Affäre seines an­ar­chis­chen Un­tergebe­nen ausgelöst hat, wieder glätten werden, wenn dieser nur für eine Weile aus dem Blickfeld ver­schwindet.

Schießen statt schreiben

Nachdem Oberst Bourbaki das Regiment verlassen hat, ist der Spuk vorbei. Cendrars kehrt zu seinen Männern zurück. Der geklaute Kahn kommt bei Patrouillen zum Einsatz, diesmal ganz offiziell. Eines Tages taucht aus Paris ein Beamter der Geheim­polizei in dem sumpfigen Unterstand auf, der hinter dem falschen Namen des Soldaten den Schrift­steller Blaise Cendrars erkannt hat. Er beobachtet den bekannten Anarchisten, der nun auch der Spionage verdächtigt wird, schon seit Längerem und hat sich persönlich seines Falles angenommen. Unter dem Vorwand, sich an Ort und Stelle zu informieren, ist er an die Front gereist, um den Krieg mit eigenen Augen zu sehen. Selbst ein heimlicher Poet, der di­en­stun­tauglich ist, schwärmt er von dem erhabenen Erlebnis des Krieges, das ihn sogleich zu einem Gedicht anregt. Die Gefahr, die Kam­er­ad­schaft, die frische Luft, das Malerische der Schützengräben – all das müsse doch auch auf Cendrars in­spiri­erend wirken! Der aber weist den in­tellek­tuellen Schwafler wütend zurück. Er sei nicht hier, um zu schreiben, sondern um zu schießen. Nicht aus Hunger nach poetischer Inspiration, sondern aus Hass gegen die Deutschen habe er sich freiwillig gemeldet. Der Krieg sei eine Sauerei, ein schändliches Verbrechen, sonst gar nichts.

Und wozu das ganze Leid?

Bei einer Trup­penin­spek­tion lehnt Cendrars eine billige Maispfeife ab, die ein wohlwol­len­der General ihm schenken will. Wegen dieses dreisten Verhaltens gegenüber einem Vorge­set­zten soll der Gefreite, dem kurz zuvor noch das Ehrenkreuz versprochen wurde, für 100 Tage ins Gefängnis. Doch bei der geplanten großen Frühjahrsof­fen­sive wird jeder Mann gebraucht, und darum ist von der An­gele­gen­heit bald nicht mehr die Rede. Die wenigen Soldaten aus Cendrars’ Truppe, die das von den Strategen im Generalstab schlampig vor­bere­it­ete Gemetzel überleben, werden in den fast schon idyllischen, ruhigen Frontab­schnitt bei Tilloloy verlegt. Dort, irgendwo in der Champagne, verliert Cendrars seinen rechten Arm. An die genauen Umstände mag er sich jedoch nicht erinnern.

„(...) der Beruf des Soldaten ist ein ab­scheuliches Handwerk und voller Narben wie die Poesie. Man hat welche oder man hat keine.“ (S. 141)

Von den 200 Männern, die im Lauf dieses einen Jahres durch seine Kompanie gegangen sind, hat er die meisten längst vergessen, auch wenn er immer noch von ihren blutenden, zerfetzten Körpern träumt. Es waren keine Helden, sondern arme Kerle, die für nichts und wieder nichts auf den Schlacht­feldern verreckt sind. Die grausamen Schreie der sterbenden Kameraden, die wie kleine Kinder nach ihrer Mutter riefen und die man aus Erbarmen erschoss, hat er noch immer im Ohr. Er selbst wird 1939 als „kriegs­versehrter Frei­williger“ zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Ausze­ich­nun­gen für sein schrift­stel­lerisches Werk lehnt er dagegen stets ab: Er hat das Gewehr in der Hand gehalten, nicht die Feder. Auf das Kriegsver­di­en­stkreuz, das General Dubois ihm versprochen hat, wartet er vergeblich – ebenso wie auf das Fass Rotwein für seine Kompanie.

Zum Text

Aufbau und Stil

Blaise Cendrars’ Die Rote Lilie ist in 25 Kapitel un­ter­schiedlicher Länge unterteilt. Viele der meist kürzeren Kapitel tragen als Überschrift den Namen eines Kameraden, dessen Schicksal jeweils im Mittelpunkt steht, z. B. „Rossi (in Tilloloy gefallen)“. Dazwischen finden sich lange Abschnitte, in denen der Autor von seinen eigenen Erlebnissen in den Schützengräben und seinen Au­seinan­der­set­zun­gen mit der Militärbürokratie erzählt. Der Erzählfluss wird immer wieder durch Rückblenden und Vo­raus­deu­tun­gen un­ter­brochen, es gibt kleine Anekdoten und Gesprächsfetzen, Gedicht- und Liedzeilen. Obwohl der Autor im Abstand von 30 Jahren auf die Ereignisse zurückblickt, ist kaum Distanz spürbar: So lebendig und präzise schreibt er, dass der Leser unmittelbar in die Realität des Krieges einzu­tauchen meint. Viele Sätze sind sehr kurz und scheinen das Stakkato der Maschi­nengewehrsal­ven nachzuahmen. Dann wieder folgen lange, ver­schlun­gene Satzpe­ri­o­den und poetische Land­schafts­beschrei­bun­gen. Cendrars spart keine Einzel­heiten aus und bewahrt seine kraftvolle und derbe, mitunter auch obszöne Sprache vor jeder Art von Sen­ti­men­talität. Trotzdem sind hinter seinen lapidaren, mitunter sarkastis­chen Kommentaren der tiefe Schmerz und die Verstörung stets spürbar.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Auch wenn Cendrars mitunter von der Schönheit der Blitzge­wit­ter schwärmt und von Glücksmomenten an der Front erzählt, ist er doch weit von jeder Verklärung entfernt. Vielmehr betont er die Absurdität des Krieges, der keinem Plan, sondern allein dem Zufall folgt und das reine Chaos darstellt.
  • Der Autor als Kämpfer, der bewusst die Schreibfeder gegen das Gewehr tauscht – als solchen stellt Cendrars sich dar. Ausdrücklich vergleicht er einmal den Beruf des Soldaten, das Handwerk des Tötens, mit der Poesie: Beides erfordere Narben und eiserne Disziplin.
  • Mit den kurzen Porträts seiner Kameraden gibt Cendrars den namenlosen Soldaten, die auf den Schlacht­feldern des Ersten Weltkriegs fielen, ein Gesicht. Indem er sie nicht als tapfere Helden, sondern als kauzige Menschen mit all ihren Schwächen und Empfind­un­gen zeigt, entreißt er sie der Anonymität und gibt ihnen ihre Würde zurück.
  • So vielschichtig er die Kameraden zeichnet, so stereotyp erscheint das Feindbild der Deutschen, der „boches“, die Cendrars und seine Leute mit geradezu sportlichem Ehrgeiz abknallen.
  • Als Schlüsselbegriff, mit dem der Autor das Lebensgefühl seiner Generation auf den Schlacht­feldern des Ersten Weltkriegs beschreibt, taucht immer wieder der Ausdruck „cafard“ auf, der sich am ehesten mit „Katzen­jam­mer“ übersetzen lässt.
  • Der Titel Die rote Lilie (im Original: La Main coupée, wörtlich übersetzt „Die abgeschnit­tene Hand“, die mit einer Lilie verglichen wird), legt die Vermutung nahe, Cendrars’ trau­ma­tis­che Kriegsver­let­zung, der Verlust seines Armes, stehe im Zentrum seiner Erin­nerun­gen. Tatsächlich aber spricht der Autor erst in einem kurzen Kapitel am Ende des Buches davon, und auch nur in fan­tastis­cher, sur­re­al­is­tisch ver­fremde­ter Manier: Auf einem Feld entdecken die Soldaten einen blutüberströmten abgeris­se­nen Arm, von dem niemand weiß, wem er gehört.

His­torischer Hintergrund

Schrift­steller an der Front

Unmittelbar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs veröffentlichte Blaise Cendrars zusammen mit dem ital­ienis­chen Filmthe­o­retiker Ricciotto Canudo einen Aufruf, in dem sie an die in Frankreich lebenden ausländischen Künstler und In­tellek­tuellen ap­pel­lierten, für ihre Wahlheimat in den Krieg zu ziehen. Alle Ausländer, so hieß es in dem Appell, sollten Frankreich ihre Bere­itschaft zeigen, sich an der Front für Freiheit und Men­schlichkeit aufzuopfern. In der Tat verpflichteten sich zwischen August 1914 und April 1915 Freiwillige aus mehr als 50 Nationen bei der Ausländertruppe: nebst Italienern, die das stärkste Kontingent bildeten, vor allem Russen, Schweizer und Belgier, aber auch Tschechen und Spanier. Nach den schweren Verlusten im November 1914 wurden die vier Marschreg­i­menter der Frem­den­le­gion in dem berühmten „Régiment de Marche de la Légion Etrangère“ (R. M. L. E.) vereint.

Unter den Frem­den­le­gionären waren auch Künstler und In­tellek­tuelle, wie etwa der amerikanis­che Dichter Alan Seeger, der an der Front starb. Sie folgten dem Beispiel vieler französischer Schrift­steller, die sich bei Kriegsaus­bruch freiwillig zur Armee meldeten und zur Entstehung des neuen lit­er­arischen Genres der Frontlit­er­atur beitrugen. Als Schrift­steller und Soldaten, die den Krieg aus un­mit­tel­barer Nähe erlebten, beanspruchten diese „écrivains combattants“ besondere Glaubwürdigkeit und Legitimität. Aufseiten der Verleger und des Lesepub­likums herrschte große Nachfrage nach Erzählungen, Berichten und Gedichten, die von Erlebnissen an der Front handelten. Im Vordergrund des Interesses standen weniger ästhetische Qualitäten oder lit­er­arische pa­tri­o­tis­che Bekundungen im alten Stil als vielmehr au­then­tis­che, hautnahe Darstel­lun­gen des Leidens in den Schützengräben. Im Unterschied zur Propaganda in der Presse lieferten die Frontschrift­steller ein ungeschöntes, teilweise drastisches Bild von Tod und Gewalt. Zu den bekan­ntesten Vertretern dieser Gruppe zählten der schon früh gefallene Henri Alain-Fournier, Henri Barbusse und Guillaume Apollinaire, der sich nach anfänglicher Kriegs­begeis­terung und Faszination schon bald von der Realität der Schützengräben de­sil­lu­sion­iert zeigte.

Entstehung

Blaise Cendrars hatte an derlei Frontlit­er­atur kein Interesse, wie er sich überhaupt niemals von künst­lerischen oder in­tellek­tuellen Bewegungen vere­in­nah­men ließ. Mehrmals versichert er in Die rote Lilie, er habe während seiner Monate als Soldat keinen Stift in die Hand genommen, nicht einmal, um seiner Frau zu schreiben. Das Verfassen von Briefen, Tagebüchern oder Gedichten habe er anderen überlassen. Mochte sich Cendrars auch von Frontschrift­stellern, die das re­pub­likanis­che Ideal des „citoyen-sol­dat“ verkörperten, dis­tanzieren und sich betont an­ti­in­tellek­tuell geben, so fühlte er sich, der gebürtige Westschweizer, nach eigener Aussage doch der großen Familie der französischen Literaten verbunden. Im Unterschied zu Dichtern anderer Nationen, so schrieb er, zögen diese sich nicht in ihren Elfen­bein­turm zurück.

Die rote Lilie entstand 30 Jahre nach den im Buch geschilderten Ereignissen. Während des Zweiten Weltkriegs war Cendrars zunächst als Kriegsko­r­re­spon­dent im Dienst des britischen Gen­er­al­haup­tquartiers in Frankreich tätig, weswegen er von den Na­tion­al­sozial­is­ten auf die Liste verfemter Autoren gesetzt wurde. Nach der Ka­pit­u­la­tion Frankreichs 1940 und der Besetzung des Landes durch die Deutschen tauchte er bei Freunden im südfranzösischen Aix-en-Provence unter. Zur Taten­losigkeit verurteilt, verfiel der rastlose Wel­tenbumm­ler und Vielschreiber zunächst in Schweigen. Erst 1943 setzte er sich wieder an seine Schreib­mas­chine. Atemlos, wie im Rausch verfasste er während der letzten Kriegsjahre in der Abgeschieden­heit seines innerfranzösischen Exils vier au­to­bi­ografis­che Romane, die er zwischen 1945 und 1949 veröffentlichte. Die rote Lilie ist der zweite Teil dieser Serie. Cendrars widmete das Buch seinen beiden Söhnen Rémy und Odilon, die im Zweiten Weltkrieg als Soldaten gekämpft hatten. Rémy war ein halbes Jahr nach Kriegsende als Militärpilot bei einem Übungsflug in Nordafrika tödlich verunglückt. Die lange Widmung am Anfang des Buches, in der Cendrars seinen Sohn beschreibt und aus den Briefen seiner Gefährten und Vorge­set­zten zitiert, zeugt von seinem Schmerz über den Verlust.

Wirkungs­geschichte

In Frankreich zählte Die rote Lilie in der Nachkriegszeit zu den bekan­ntesten Werken über den Ersten Weltkrieg. Eine vollständige Übersetzung von Cendrars’ au­to­bi­ografis­chen Romanen ins Deutsche ließ allerdings auf sich warten. Erst 2002 erschien Die rote Lilie im Schweizer Lenos Verlag. Nicht als Schrift­steller, sondern als ehemaliger Soldat erhielt Cendrars eine Ausze­ich­nung: 1960 überreichte ihm der französische Autor und Politiker André Malraux den Orden „Commandeur de la Légion d’Honneur“ für seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg.

Über den Autor

Blaise Cendrars wird am 1. September 1887 im Westschweizer La Chaux-de-Fonds als Frédéric-Louis Sauser geboren. Der Sohn einer Kauf­manns­fam­i­lie kommt schon in seiner Kindheit viel herum und lebt zeitweise in Neapel. Mit 16 Jahren läuft er von zu Hause weg, bricht die Han­delss­chule ab und beginnt eine Ausbildung bei einem Schweizer Juwelier in St. Petersburg. Nach seiner Rückkehr 1907 studiert er in Bern zunächst Medizin, später Philosophie, ohne jedoch abzuschließen. 1911 zieht er nach Paris und veröffentlicht – nach einem New-York-Aufen­thalt – das lange Gedicht Les Pâques à New York (Ostern in New York, 1912). Er schließt Bekan­ntschaft mit Künstlern wie Marc Chagall, Pablo Picasso, Amedeo Modigliani und Guillaume Apollinaire. Seine mit abstrakten Bildern der Künstlerin Sonia Delaunay aus­ges­tat­tete Reisebeschrei­bung La Prose du Transibérien et de la Petite Jehanne de France (Die Prosa von der Transsi­birischen Eisenbahn und der kleinen Jehanne von Frankreich, 1913) sorgt als erstes „Si­mul­tan­buch“ für einiges Aufsehen in der Pariser Avantgarde. 1914 heiratet er eine Polin, mit der er insgesamt drei Kinder bekommt. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Frei­williger kämpft und seinen rechten Arm verliert, wendet sich Cendrars von der Pariser Künstlerszene ab. Zahlreiche längere Reisen führen den „linkshändigen Schrift­steller“, der 1916 die französische Staatsbürgerschaft angenommen hat, in den 20er Jahren nach Brasilien, Spanien und in die Vereinigten Staaten. Sein Buch L’Or (Gold, 1925) über den Schweizer Amerika­pi­onier Johann August Sutter wird ein Pub­likum­ser­folg und bringt ihm erstmals auch eine gewisse finanzielle Sicherheit. Neben Romanen schreibt er große Reportagen, in denen er sich als Wel­tenbumm­ler und Draufgänger inszeniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg heiratet er 1949 in zweiter Ehe seine langjährige Geliebte, eine Schaus­pielerin. Kurz nach Erhalt des Großen Lit­er­atur­preises der Stadt Paris für sein 40-bändiges Werk stirbt Blaise Cendrars am 21. Januar 1961 in seiner Wahlheimat Paris.