Emotionen – der unterschätzte Faktor
Das hohe Ansehen des Verstandes und die gleichzeitige Geringschätzung der Gefühle haben eine lange Tradition: Philosophen von Seneca bis Kant haben die Vernunft als diejenige Eigenschaft des Menschen angesehen, die ihn über die Leidenschaften erhebt. In der Justiz wird Sachlichkeit zum Ideal erhoben. Und aufgrund der geschichtlichen Ereignisse im 20. Jahrhundert haben sich vor allem die Deutschen eine „Nie wieder“-Haltung in Bezug auf emotionale Beeinflussung auferlegt. Daher trainiert das Erziehungssystem vorwiegend das rationale und logische Denken. Gefühle werden allenfalls im Privatbereich ausgelebt. Da die klassische Betriebswirtschaftslehre Organisationen auf ihr rationales Funktionieren sowie ihre Effizienz und Effektivität reduziert, ist es nicht verwunderlich, dass sich auch Manager im Umgang mit Emotionen schwertun.
„Unternehmen und Organisationen haben, genau wie der einzelne Mensch, eine emotionale und eine mentale Dimension, deren Zustand über Erfolg oder Misserfolg von Fusionen und Change-Initiativen entscheidet.“
Doch nicht die bloße Wahrnehmung der Realität, sondern vor allem die Emotion, die wir dabei empfinden, regt uns zum Handeln an. Schlechte Gefühle können Stress hervorrufen und unser Handeln blockieren. Werden Emotionen unterdrückt, so stauen sie sich an. Es kann zur plötzlichen Entladung kommen oder auch zu einer schleichenden, zunehmenden Lustlosigkeit. Beide Entwicklungen treten nicht nur bei einzelnen Personen auf, sondern aufgrund enger Vernetzungen auch in Gruppen.
Die emotionalen Viren
Emotionen sind ansteckend – wie Viren. Dies bestätigt die Entdeckung der so genannten Spiegelneurone im menschlichen Hirn, die das Einfühlen in andere Menschen erleichtern. Problematisch im Unternehmen sind die negativen emotionalen Viren. Sie beziehen sich am häufigsten auf folgende Problembereiche:
- Machtkonflikte: Diese treten überall da auf, wo verschiedene Interessen und Einflüsse aufeinanderprallen, besonders natürlich bei Unternehmensfusionen. Sie können sich subtil oder aggressiv äußern. Oft hilft die Anregung zu einem Perspektivenwechsel, eine stärkere persönliche Vernetzung oder eine Angleichung des Anreizsystems.
- Wertekonflikte: Nicht nur, wenn wie bei Fusionen mehrere Kulturen aufeinandertreffen, sondern auch, wenn beispielsweise staatliche Unternehmen privatisiert werden, kommt es zur Kollision unterschiedlicher Wertvorstellungen. Eine Werteangleichung ist ein sehr langsamer Prozess. Zunächst geht es um Wahrnehmung und Bewusstmachung der verschiedenen Ansichten und Normen.
- Ängste und Unsicherheit: Sie treten vor allem bei Veränderungsprozessen auf und führen meist zu einer unterschwelligen Ablehnung der geplanten Umstrukturierungen sowie zu einer Lähmung des Engagements. Bieten Sie solchen emotionalen Auseinandersetzungen Raum, statt sich nur auf die zu lösenden Sachfragen zu beschränken.
„Immaterielle Werte wie Lebensqualität, Spaß und persönliches Wachstum wurden bis zur Jahrtausendwende als reine Privatsache betrachtet.“
Wie bei Viren im menschlichen Organismus können wir bei den emotionalen Viren drei Arten unterscheiden: Die Viren sind entweder nur latent vorhanden, ohne dass die Krankheit ausgebrochen ist, sie sind in geringem Maße vorhanden oder sie haben sich bereits stark ausgebreitet. Je krisenanfälliger ein Unternehmen ist, desto schwerer tut es sich mit negativen Viren. Sie lassen sich kaum mit rationalen Mitteln angehen. Einige Methoden hingegen bewirken bei den betroffenen Mitarbeitern meist ein Gefühl der Erleichterung oder eine positive Stimmung und regen zur weiteren Kommunikation an:
- Malen: Lassen Sie in Workshops das Erleben der Zusammenarbeit, der Konflikte und der Visionen von Ihren Mitarbeitern bildlich darstellen.
- Humor: Mit Humor lassen sich Konflikte entschärfen und sogar tabuisierte Themen ansprechen. Setzen Sie diese Medizin aber einfühlsam ein.
- Theater: Hier lassen sich auf distanzierte und spielerische Weise Vorurteile, Konflikte und Prozesse thematisieren und widerspiegeln.
- Symbole: Sie wirken schnell und ersetzen viele Worte.
Metaphern als Sprache der Emotionen
Metaphern eignen sich besonders gut dazu, Emotionen anzusprechen und zu beeinflussen. Sie prägen ohnehin unser Denken, unsere Realitätswahrnehmung und unsere daraus folgenden Handlungen. So macht es etwa einen gewaltigen Unterschied, ob Sie eine Organisation als technisches und rationales Gefüge, als komplexes System nach der Chaostheorie oder als emotionalen Organismus beschreiben. Daher ist es sinnvoll, bildhaft zu kommunizieren. Diese Maßnahme verhindert Abwehrmechanismen und ermöglicht es, komplexe Zusammenhänge einfach und eingängig darzustellen.
Spüren Sie emotionale Viren auf und behandeln Sie sie
Fokussieren Sie Ihre Beobachtungen im Unternehmen nicht auf Einzelpersonen, sondern auf ganze Gruppen. Befragen Sie aber dennoch regelmäßig einzelne Mitarbeiter zu deren Wahrnehmungen. Nachteil: Die Fragen sind oft geschlossen und sie sprechen vornehmlich den Verstand an. Empfehlenswerter ist deshalb die Arbeit mit dem so genannten Mentalmerger-Barometer: Auf einer matrixähnlichen Tabelle, die von oben nach unten und von links nach rechts diverse Bewertungsabstufungen zulässt, soll jeder Mitarbeiter seine Einschätzung einer bestimmten Situation durch einen Punkt markieren, z. B. auf einem Flipchart oder auch anonym auf einem Zettel. Kommentieren Sie die so zustande gekommenen Aussagen nicht und versuchen Sie auch nicht, sie zu entkräften, denn sie drücken ein emotionales Befinden aus und keinen Sachverhalt. Bitten Sie die Teilnehmer nun, drei bis fünf Gründe für ihre Bewertung zu nennen. Regen Sie sie dazu an, sich für ihre Wahrnehmung eine metaphernhafte Überschrift, die einer Schlagzeile aus einer Boulevardzeitung ähneln darf, auszudenken.
„Emotionen sind der eigentliche Antrieb unseres Handelns.“
Vertiefen Sie die so gewonnenen Erkenntnisse durch Einzelinterviews. Fragen Sie nicht nur negative Aspekte und entsprechende Lösungsvorschläge ab, sondern ebenso Erfolgsgeschichten, um die Aufmerksamkeit auch auf Positives zu lenken. Strukturieren Sie die Ergebnisse nach Themen. Formulieren Sie Grundaussagen und finden Sie treffsichere Bilder, um die emotionalen Empfindungen zu visualisieren. Es gibt zwei Varianten, wie Sie die Ergebnisse vermitteln können: In einer Powerpoint-Präsentation zeigen Sie jeden emotionalen Virus zunächst als Visualisierung, dann benennen Sie seine Ursachen und enden mit Aussagen oder Geschichten, die für ihn typisch sind. Oder aber Sie beziehen die Teilnehmer stärker mit ein, indem Sie sie in Gruppen aufteilen und ihnen nur die bildhafte Darstellung des Virus zeigen. Lassen Sie dann die einzelnen Gruppen selbst debattieren und resümieren.
„Negative Emotionen verursachen Stress und Frustration, die wiederum kontraproduktives Arbeitsverhalten auslösen.“
Priorisieren Sie anschließend die Viren und erörtern Sie Maßnahmen, um die negativen Viren zu entkräften und die positiven zu stärken. Oft hängen die verschiedenen Viren zusammen, sodass es sinnvoll ist, einen Projektplan zu entwickeln, der aufzeigt, wie sie gemeinsam zu behandeln sind. Setzen Sie die gewonnenen Erkenntnisse möglichst rasch um, damit die positiven Erwartungshaltungen der Mitarbeiter nicht in Frustration umschlagen.
Das mental starke Unternehmen
Behandeln Sie emotionale Viren in Organisationen genauso wie negative Einstellungen bei Einzelmenschen. Halten Sie sich immer wieder vor Augen, dass Emotionen zwar immateriell, aber dennoch real sind. Der Schlüssel zur erfolgreichen Therapie liegt im vorausschauenden Handeln. Warten Sie nicht auf eine Krise, sondern beobachten Sie ständig die Stimmungen, thematisieren Sie belastende Viren und greifen Sie bereits im Frühstadium ein.
„Das Emotionale lässt sich nicht mit rationalen Mitteln erfassen und behandeln. Das limbische System muss angesprochen werden.“
Regen Sie Ihre Mitarbeiter zur Eigenverantwortung an. Dadurch lernen sie, nicht Opfer, sondern Gestalter ihrer Umgebung zu sein. Das Topmanagement darf sich in dieser Hinsicht nicht isolieren, sondern muss sich als Teil des gesamten Unternehmens betrachten. Es muss die konstruktiven Werte vorleben und unterstützen. Meist spiegeln sich die Werte, Glaubensgrundsätze und Verhaltensweisen, die in den Chefetagen vorherrschen, im ganzen Unternehmen wider.
„Frühwarnsysteme für kollektive Emotionen werden aus unserer Sicht in den nächsten Jahren genauso selbstverständlich werden wie es heute ‚Marketingradare‘ und die Kennzahlen der finanziellen Entwicklung sind.“
Gehen Sie Problemknotenpunkte gezielt an. Da unterschiedliche Problemfelder sowie die zugrunde liegenden Viren in der Regel miteinander vernetzt sind, lassen sich nach der Behandlung wichtiger Viren andere noch vorhandene Viren viel leichter handhaben. Begegnen Sie der Komplexität von Problemfeldern bewusst mit vereinfachenden Aussagen, auch um die betroffenen Schlüsselpersonen, die Sie in den Prozess einbeziehen sollten, nicht noch zusätzlich zu belasten.
Fördern Sie die kollektive Intelligenz in Ihrem Unternehmen
Schaffen Sie eine Vertrauensbasis und unterstützen Sie die Vernetzung Ihrer Mitarbeiter. Dadurch entstehen Sinngemeinschaften und vertiefte Beziehungen. Die Intelligenz von Gruppen übersteigt die Summe der Intelligenz ihrer Mitglieder. Sie bildet sich in der Gruppe und ist effektiv auch nur in der Gruppe abruf- und nutzbar. Beispiele aus der Tierwelt kennt die Wissenschaft zuhauf: Eine einzelne Biene vergisst den Futterplatz, den sie entdeckt hat, zwar nach wenigen Tagen, er bleibt aber im Kollektivgedächtnis des Bienenvolks gespeichert.
„Die Behandlung der emotionalen Viren eines Unternehmens hat eine befreiende und leistungssteigernde Wirkung, der sich auch skeptische Entscheidungsträger nicht verschließen können.“
Viele Situationen sind heutzutage so vielschichtig, dass sie nur noch mit kollektiver Intelligenz gehandhabt werden können. Moderne Kommunikationstechnologien wie das Internet sind der Ausbildung kollektiver Intelligenz dienlich. Ein wichtiges Erfolgskriterium der kollektiven Intelligenz besteht in einer angemessenen Vielfalt der Teilnehmer: Ist die Gruppe sehr homogen, ist ihr Kreativitätspotenzial eingeschränkt. Ist die Vielfalt dagegen zu groß, wird das Konfliktrisiko erhöht und die Schaffung eines Grundverständnisses verhindert.
Perspektiven
Die Anerkennung von Emotionen und emotionalen Viren im Unternehmen wird aus folgenden Gründen zunehmen:
- Die Mitarbeiter, vor allem Führungskräfte, sehen sich immer weniger nur als Leistungsträger. Sie wollen sich vielmehr auch persönlich entwickeln und wünschen sich ein Klima, in dem sie sich wohlfühlen.
- Infolge materieller Krisen sehen sich viele Unternehmen gezwungen, sich mit der immateriellen Realität, wozu Emotionen gehören, auseinanderzusetzen.
- Die komplexer werdenden Aufgaben und Situationszusammenhänge in Unternehmen und Gesellschaft erfordern mentale Stärke und kollektive Intelligenz.
- Die Wissenschaft beschreibt immer differenzierter die einflussreiche Rolle der Gefühle, gerade in der Entscheidungsfindung.
- Beratungsgesellschaften beginnen ebenfalls, sich für dieses Thema zu öffnen. Eine Studie von McKinsey belegt, dass erfolgreiche Unternehmen negative Emotionen besser handhaben und konstruktive Emotionen fördern und verbreiten.