Krisen gehören zur Wirtschaft
Es ist gar nicht so einfach, den Zeitpunkt zu rekonstruieren, an dem die Krise nicht mehr abzuwenden war. War es, als immer neue Finanzunternehmen aus dem Boden schossen und Kredite so günstig wurden wie nie zuvor? Hätte man seine Haut noch retten können, als der Boom in eine sich immer weiter aufblähende Blase umschlug? Hätte man die Flucht ergreifen können, als der drohende Orkan abflaute und viele Experten meinten, das Schlimmste sei überstanden? Für die meisten war es zu diesem Zeitpunkt schon zu spät: Die Aktienkurse rauschten in den Keller, Kredite wurden gekündigt, betrügerische Geschäfte flogen auf – die USA saßen mitten in der Krise, und mit ihnen der Rest der Welt.
„In der Geschichte des Kapitalismus sind Krisen die Regel, nicht die Ausnahme.“
Wenn Sie jetzt meinen, bei dieser Schilderung gehe es um die Finanzkrise von 2007, dann sind Sie auf dem Holzweg. Denn 80 Jahre zuvor verlief eine andere Krise nach dem gleichen Muster. Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise wurde durch Spekulationen, eine viel zu laxe staatliche Aufsicht, irrationales Verhalten der Aktionäre und viele neue, komplizierte Finanzprodukte befeuert, bis der Crash unvermeidlich war. Finanzkrisen sind keine seltenen Ereignisse, im Gegenteil: Sie suchen uns in regelmäßigen Abständen heim und laufen stets nach dem gleichen Programm ab.
Architektur einer Blase
Im Zentrum jeder Spekulationsblase steht ein Anlageobjekt. In der Krise von 2007 waren es Immobilien. Die Anlage ist äußert begehrt. Aufgrund günstiger Kredite ist es einfach, das Objekt zu erwerben. Die Nachfrage erhöht sich weiter, und irgendwann wird das Angebot zu knapp, sodass die Preise steigen müssen. Das hält die meisten Anleger jedoch nicht davon ab, weiter zu investieren, denn sie können ja die vorhandenen Anlagen als Sicherheit verwenden. Hier kommt ein gefürchteter Hebeleffekt zum Tragen: Immobilien, die den Besitzern noch gar nicht gehören, dienen als Sicherheit, um neues Geld aufzunehmen. Ein solches Verhalten entwickelt eine ganz eigene Dynamik. Sie führt dazu, dass selbst vorsichtige Zeitgenossen das Risiko falsch einschätzen. Solange das Angebot knapp ist und zu erwarten ist, dass die Preise weiter steigen, lohnt es sich, immer neue Kredite aufzunehmen. Ab einem ganz bestimmten Punkt halten sich Angebot und Nachfrage dann die Waage. Jetzt kehrt Ernüchterung ein: Der Kredithahn wird zugedreht, Nachschussforderungen werden gestellt, die Preise der Immobilien fallen ins Bodenlose. Die Blase platzt.
„Ab einem gewissen Punkt trägt sich eine Spekulationsblase selbst.“
Die Geschichte ist voll von Finanzkrisen, geplatzten Blasen und irrationalem Überschwang. Dazu gehören die Spekulationen mit Tulpenzwiebeln in den Niederlanden der 1630er Jahre, die South Sea Bubble von 1720 und die erste globale Finanzkrise von 1825. Bei Letzterer ging es um peruanische Staatsanleihen, schlecht abgesicherte Kreditversprechen, eine Menge Betrug und leicht verfügbares Geld. Am Ende stand der größte Teil Südamerikas vor der Zahlungsunfähigkeit und eine Kredit- und Vertrauenskrise erfasste ganz Europa. Im 19. und 20. Jahrhundert grassierten weitere Krisen, u. a. in Japan, Thailand, Indonesien, Russland und Südkorea.
Krisenökonomie
Die Frage, wie es überhaupt zu Krisen kommt, wird von Wirtschaftswissenschaftlern sehr unterschiedlich beantwortet. Adam Smith verschwendete keinen Gedanken an die Dysfunktionalität des Marktes – schließlich wollte er ja gerade dessen Funktionieren erklären. Dass der Markt immer Recht habe, glaubten auch David Ricardo, Jean-Baptiste Say, Léon Walras und Alfred Marshall. Die Wissenschaftler trauten dem Markt zu, stets ein stabiles Gleichgewicht herzustellen. Also mussten sie folgerichtig daran glauben, dass es so etwas wie eine Überbewertung von Aktien gar nicht geben konnte. Sie entwickelten raffinierte mathematische Modelle, um genau das zu beweisen. John Stuart Mill konstatierte in seinem 1848 veröffentlichten Buch Grundsätze der politischen Ökonomie, dass es in der Wirtschaft irrationales Verhalten gibt und dass Spekulationsblasen vor allem durch Schulden und Kredite genährt werden. Schließlich war es der britische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes, der den Markt kritisch hinterfragte und den Staat in der Pflicht sah, Nachfrage zu schaffen, wenn diese z. B. aufgrund der Sparfreudigkeit der Bevölkerung nachließ.
Die kontrollierte kreative Zerstörung
Keynes wurde gefeiert und seine Theorie in den Nachkriegsjahren zum Dogma erhoben. Spätere Ökonomen, z. B. der Monetarist Milton Friedman, sahen nicht mehr in der Nachfrage, sondern in der Geldpolitik den Grund für die Krisenanfälligkeit von Volkswirtschaften. Der amerikanische Wirtschaftsprofessor Hyman Minsky schließlich führte deren Instabilität darauf zurück, dass im Falle eines Booms die soliden Finanzierungsinstrumente von gefährlichen verdrängt werden. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs tritt demnach an die Stelle der abgesicherten Finanzierung, bei der Zinsen und Tilgung vom Schuldner jederzeit aufgebracht werden können, eine so genannte Schneeballfinanzierung: Hier werden sämtliche Kredite unbesichert vergeben. Die Vertreter der so genannten Österreichischen Schule, darunter Joseph Schumpeter, betrachteten Krisen als zwar schmerzhafte, aber wichtige Korrekturen. Mit anderen Worten: Die Krise sondert die Spreu vom Weizen; durch eine „kreative Zerstörung“ gehen diejenigen Unternehmen unter, die auf lange Sicht sowieso nicht lebensfähig gewesen wären.
„Unabhängig davon, was den Boom auslöst oder auf welchem Weg sich die Anleger beteiligen, steht im Mittelpunkt des spekulativen Interesses immer eine bestimmte Anlage.“
Für zukünftige Krisen scheint eine Mischung aus Keynesianismus und der radikalen Neuordnung gemäß der Österreichischen Schule sinnvoll zu sein: eine „kontrollierte kreative Zerstörung“, bei der neue Regeln definiert und alte Zöpfe abgeschnitten werden sowie der Weg für eine bessere Zukunft bereitet wird. Kontrolliert wird die Zerstörung zumindest kurzfristig durch das Eingreifen des Staates, der die schwerwiegenden Kriseneffekte abfedern muss. Staatliche Eingriffe dürfen aber nicht so langfristig sein, dass „Zombiebanken“ oder „untote Unternehmen“ entstehen, die künstlich am Leben gehalten werden.
Finanzinnovationen als Krisenauslöser
Boom-and-Bust-Zyklen wurden immer schon von Innovationen befeuert. Im 19. Jahrhundert war es die Eisenbahn, um die letzte Jahrtausendwende das Internet. Im ersten Fall wurden mehr Schienen verlegt, als man benötigte, im zweiten gab es haufenweise Internetunternehmen, die niemals auch nur einen müden Dollar verdienten. Nachdem der jeweilige Hype abgeklungen war, blieb aber etwas übrig: ein fortschrittliches Verkehrsmittel bzw. eine revolutionäre Computerinfrastruktur.
„Eine Trennung der Finanzdienstleistungen, die heute unter einem Dach angeboten werden, macht das System weniger abhängig von systemgefährdend großen und verflochtenen Finanzunternehmen.“
Und welche Innovation heizte die Immobilienkrise an? Die ernüchternde Antwort: Es gab keine. Zumindest nicht beim Anlageobjekt selbst. Stattdessen spielte sich im Bereich der Finanzierungsinstrumente eine Revolution ab. Die Banken, die die Hypothekenkredite ausgaben, behielten diese nicht selbst, sondern verkauften sie gebündelt, in Form von forderungsbesicherten Wertpapieren (Collateralized Debt Obligations, CDOs), an Versicherungen, Pensionsfonds und andere institutionelle Anleger. So hatten die Banken sehr schnell wieder frisches Geld zur Verfügung, um neue Kredite zu gewähren. Aber die Schrottkredite blieben auch in neuer Verpackung Schrott. Irgendwann schauten die Kreditgeber dann auch nicht mehr so genau hin, ob sich der Kreditnehmer neue Schulden überhaupt leisten konnte. Die Finanzierungsinstrumente wurden immer weiter aufgesplittet, sodass diejenigen, die den größten Gewinn damit machten, das geringste Risiko trugen. Dieser so genannte Moral Hazard war einer der Gründe, warum die Krise sich dermaßen aufschaukeln konnte, ohne dass jemand etwas unternahm.
Globale Auswirkungen der Krise
Die Hypothekenkrise blieb kein amerikanisches Phänomen. Wie alle großen Krisen der letzten Jahrhunderte breitete sie sich pandemisch aus. Es steckt viel Wahrheit in dem Sprichwort: „Wenn Amerika niest, bekommt der Rest der Welt einen Schnupfen.“ Im 19. Jahrhundert spielte das Vereinigte Königreich eine ähnliche Rolle: Wenn in Großbritannien eine Finanzkrise ausbrach, erlitt die ganze Welt Kollateralschäden. Die jüngste Krise traf in erster Linie Europa, Kanada, Brasilien, Russland, Indien und China. Alle diese Volkswirtschaften waren eng miteinander verflochten, und deshalb litten sie gleichermaßen unter der Pleitewelle der Banken.
„Auf dem Höhepunkt der Krise sahen sich viele Regierungen genötigt, drastische Schritte zu unternehmen, um eine Deflation und einen Preisverfall zu verhindern.“
Seit die Krise überstanden scheint, geistert das Gespenst der Deflation durch die Welt. Hier ist der Staat erneut gefragt, denn noch schlimmer als der Anstieg der Preise ist deren Verfall. Schließlich sinken in einer Deflation auch die Löhne, und die Wirtschaft schrumpft. Nach einer Krise besteht aber immer auch die Gefahr der Inflation: dann nämlich, wenn die Staaten versuchen, ihre Defizite mit der Druckerpresse zu schrumpfen. Sollten die USA die Geldmenge signifikant erhöhen, würde der Dollar als Leitwährung in der Welt empfindlich an Wert verlieren – und damit auch die Schulden der USA.
Wie die Welt aus der Gefahrenzone kommt
Krisen bieten die Möglichkeit, einen radikalen Schnitt zu machen. Hier ein paar Vorschläge, wie sich zukünftige Katastrophen verhindern lassen:
- Vergütung von Managern und Bankern reformieren: Die aktuelle Risikokultur verleitet Banker dazu, hohe Risiken einzugehen, da keine Bestrafung droht. Deshalb sollten Boni ausschließlich aus den Finanzinstrumenten abgeschöpft werden, die die Manager selbst aufgelegt haben. Wenn sie Schrott zusammenführen, erhalten sie auch nur Schrott. Das wäre gerecht und abschreckend zugleich.
- Verbriefung von Wertpapieren sicherer machen: Einer der Gründe für die Krise war, dass alle Beteiligten zwar Gebühren einstrichen, aber das Risiko einfach an andere weitergaben – vom Hypothekenmakler über die Sachverständigen und die Investmentbanken bis zu den Ratingagenturen. Alle Glieder dieser Kette müssen besser überwacht werden. Man sollte sie zudem zwingen, Teile ihrer Anlageobjekte selbst zu behalten.
- Ratingagenturen sollen Schuldtitel bewerten und sonst nichts: Beratungsleistungen, womöglich noch für die Marktteilnehmer, die das Rating in Auftrag geben, stürzen Ratingagenturen in einen unauflöslichen Interessenkonflikt. Deshalb sollten Ratingagenturen nur bewerten – alles andere muss ihnen verboten sein.
- Zentralisation der Bankenaufsicht: In den USA durften sich die Banken vor der Krise selbst aussuchen, wer sie beaufsichtigte. Verschiedene staatliche Aufsichtsgremien standen im Wettbewerb miteinander. Das führte zu der grotesken Situation, dass die strengsten Behörden die wenigsten Banken beaufsichtigten und plötzlich um ihr Überleben fürchten mussten. Dieser Antiwettbewerb gehört abgeschafft. Großbritannien könnte Vorbild für eine neue Aufsichtsordnung sein: Die Finanzaufsicht (FSA) vereint seit 1997 erfolgreich mehrere Aufgaben unter einem Dach.
- Zerschlagung der gefährlichen Riesen: Es gibt Unternehmen, insbesondere Finanzkonzerne, die einfach zu groß sind, um bankrottzugehen. Ihr Untergang würde das ganze Finanzsystem in Mitleidenschaft ziehen. Solche Riesen wurden vom Staat nach der Krise aufgepäppelt und verfolgen mittlerweile schon wieder ihre riskanten Eigenhandelsstrategien. Ihre Krisenanfälligkeitist also wieder genauso groß wie zuvor. Solche Konzerne müssen zerschlagen werden. Anwärter auf dieses Schicksal sind: Goldman Sachs, Bank of America, UBS, Wells Fargo, ING, Royal Bank of Scotland, Dexia, JP Morgan und etliche mehr.
- Die Zentralbanken müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden: Im Verlauf der jüngsten Krise haben sie die Spekulationsblase noch angeheizt, statt ihr frühzeitig die Luft bzw. den Geldhahn abzudrehen. In Zukunft müssen sie viel offensiver agieren und die zur Verfügung stehenden währungs- und kreditpolitischen Instrumente ausnutzen.