Praxishandbuch Produktentwicklung

Buch Praxishandbuch Produktentwicklung

Grundlagen, Instrumente und Beispiele

Campus,


Rezension

Tuwun, das hört sich erst einmal an wie ein neues Medikament. So etwas Ähnliches soll es auch sein: eine Art Heil­ver­fahren, durch das Produkte begehrenswerter werden. Konkret geht es darum, den Kunden mittels Einzelin­ter­views („Marktgesprächen“) in die Pro­duk­ten­twick­lung zu integrieren – der Erfolg kommt damit fast automatisch. Bis ins Detail erläutert Langbehn seine Vorge­hensweise und zeigt, wie man aus den Interviews Erken­nt­nisse zu Pro­duk­teigen­schaften und Alle­in­stel­lungsmerk­malen ableitet. Wirklich neu sind diese Erken­nt­nisse nicht; neu ist, dass das Buch zum Sel­ber­ma­chen animiert: Ein spezial­isiertes Mark­t­forschung­sun­ternehmen kann man sich laut Langbehn sparen. Letztlich ist Tuwun also vor allem ein – Geld sparendes – Generikum. BooksInShort empfiehlt das um­fan­gre­iche Handbuch allen, die sich einen Überblick über qualitative Be­fra­gungsmeth­o­den verschaffen wollen. Hinweis: In 16 (!) weiteren Kapiteln, die leider nur auf einer CD zu lesen sind, geht der Autor weit über Tuwun hinaus. Er erläutert Fragen zur Käufer­mo­ti­va­tion, zum Pro­duk­t­de­sign oder zur Pre­is­find­ung und stellt die vielver­sprechend­sten Zukunftsmärkte vor.

Take-aways

  • Die aktuelle Wirtschaft­skrise ist eine Umsatzkrise. Es fehlen Produkte, die dem Kunden nutzen und ihm Lösungen für seine Probleme anbieten.
  • Produkte müssen sich am Kun­den­er­folg orientieren.
  • Heuern Sie keine Mark­t­forschung­sun­ternehmen an. Befragen Sie Ihre Kunden selbst.
  • Lassen Sie keine Gelegenheit ungenutzt, mit Ihren Kunden zu sprechen und wichtige In­for­ma­tio­nen zu sammeln.
  • Tuwun („Tell us what you need“) ist ein geeignetes Verfahren für die bedürfnisori­en­tierte Pro­duk­ten­twick­lung.
  • Die Ker­nele­mente von Tuwun sind qualitative Interviews und Grup­pendiskus­sio­nen.
  • Sie können zufällige Gesprächssi­t­u­a­tio­nen nutzen oder Kunden gezielt um ein Gespräch bitten.
  • Aus dem Tuwun-Mark­t­ge­spräch darf niemals ein Verkauf­s­ge­spräch werden.
  • Vor­bere­itung ist alles: Wählen Sie die Kunden nach ihrer Relevanz aus, schulen Sie die in­ter­viewen­den Mitarbeiter und entwickeln Sie einen Gesprächsleit­faden.
  • Mit den aus­gew­erteten Ergebnissen schaffen Sie das Alle­in­stel­lungsmerk­mal und die Pro­duk­teigen­schaften und erstellen darauf aufbauend ein Pro­duk­tkonzept.
 

Zusammenfassung

Verkaufen Sie Produkte oder bieten Sie einen Nutzen?

Die derzeitige Wirtschaft­skrise ist weder eine Kostenkrise noch eine Ver­trieb­skrise: Viel billiger kann man nicht mehr produzieren und sämtliche Verkauf­stech­niken sind per­fek­tion­iert. Es hapert aber am Umsatz. Die Leute konsumieren zu wenig, weil es immer weniger Produkte gibt, die ihnen einen echten Kun­den­nutzen bieten. Produkte werden an den sich ständig wandelnden Bedürfnissen vor­beien­twick­elt; richten sollen es dann Werbung und Marketing, indem sie die Bedürfnisse für die zweifel­haften Produkte schaffen. Damit werden Sie allerdings nicht erfolgreich sein. Ihre Kunden erwarten Lösungen. Orientieren Sie sich bei der Pro­duk­ten­twick­lung am Erfolg, den Ihre Kunden mit Ihrem Produkt erreichen können.

Die Lösung: Fragen Sie Ihren Kunden

Wie häufig kon­tak­tieren Sie Ihre Kunden? Wie häufig sprechen Sie mit ihnen, um etwas über ihren Alltag, ihre Probleme, ihre Wünsche und Sorgen zu erfahren? Welche In­for­ma­tio­nen außer Anschrift, Telefon- und Kontonummer haben Sie über Ihre Kunden?

„Was den Unternehmen fehlt, sind gute Produkte, für die die Kunden auch bereit sind, Geld auszugeben.“

Treten Sie mit ihnen in einen Dialog, lernen Sie ihre Bedürfnisse kennen. Nutzen Sie jede Gelegenheit: ob beim Verkauf­s­ge­spräch, bei einer Kun­denbeschw­erde, bei Anrufen im Kun­denser­vice, bei Gesprächen auf einer Messe oder im Wartezimmer des Arztes. Egal wo Sie Ihren Kunden begegnen, befragen Sie sie und sammeln Sie In­for­ma­tio­nen über Probleme und potenzielle Lösungen. Gehen Sie auch aktiv auf Ihre Kunden zu und reden Sie zur Abwechslung einmal mit ihnen, anstatt gleich etwas verkaufen zu wollen. Die gewonnenen Erken­nt­nisse sind die beste Grundlage für die Entwicklung bedürfnis­rel­e­van­ter Produkte.

Pro­duk­ten­twick­lung mit Tuwun

Die Methode Tuwun („Tell us what you need“) hilft Ihnen bei der Pro­duk­ten­twick­lung. Sie ermöglicht Ihnen, in die Welt Ihrer Kunden einzu­tauchen. So erkennen Sie früher als die Konkurrenz, wie sich Märkte und Kundenbedürfnisse ändern, und können entsprechend darauf reagieren. Kern des Verfahrens sind qualitative Marktgespräche. Das sind ziel­gerichtete, offene Interviews, deren Inhalte sich auf die Motive, Rah­menbe­din­gun­gen und Probleme Ihrer Kunden konzen­tri­eren. Eine feste Frage­bo­gen­struk­tur, mit der vorgefasste Annahmen geprüft werden – wie in der Mark­t­forschung üblich –, eignet sich nicht für eine Pro­duk­ten­twick­lung, die erfolgreich sein soll. Denn damit werden Sie nicht erfahren, was Ihren Kunden wirklich wichtig ist. Statt sie „erforschen“ zu lassen, sollten Sie mit ihnen sprechen. Marktgespräche können Sie in allen En­twick­lungssta­dien einsetzen: zur Erschließung von Mark­t­seg­menten, zur Ne­upro­duk­ten­twick­lung, zum Test von Prototypen, zur Pro­duk­top­ti­mierung usw. – und das sowohl für den Konsumgüter- als auch für den Industriegütermarkt.

„Kunden kaufen keine Produkte, sie kaufen Lösungen.“

Mit den Ergebnissen der Marktgespräche entwickeln Sie Ihre Unique Selling Proposition (USP) – das einzi­gar­tige Verkauf­sar­gu­ment oder Alle­in­stel­lungsmerk­mal, das die Lösung des drin­gend­sten Kun­den­prob­lems verspricht. Die wichtigsten Pro­duk­t­per­spek­tiven sind die Funktion (Was kann das Produkt?), die Struktur (Passt sich das Produkt den Ver­hal­tensweisen der Nutzer an?), die Ansprache (Erschließt sich der relevante Nutzen sofort?), die Produktart (Passt das Produkt in das Ar­beit­sum­feld?), die Emotionen (Wie fühlt sich der Nutzer mit dem Produkt?) und das Design (Spricht das Produkt alle Sinne an?). Diese sechs generellen Pro­duk­t­per­spek­tiven werden jetzt in konkrete Pro­duk­teigen­schaften übersetzt.

Zufällige Marktgespräche

Ergibt sich bei einem Kun­denkon­takt die Chance auf ein Marktgespräch, dann ergreifen Sie sie. Lassen Sie Ihre Mitarbeiter Formblätter benutzen, auf denen sie sämtliche In­for­ma­tio­nen notieren können. Jeder Mitarbeiter mit Kun­denkon­takt sollte diese Formulare griffbereit haben, der Außendienstler ebenso wie der Telefonist im Callcenter. Folgende Punkte gilt es zu notieren:

  • Gesprächsin­for­ma­tion: Name des Mi­tar­beit­ers, Datum, Ort, Uhrzeit, Dauer.
  • Thema des Gesprächs: Was ist vorgefallen? Welche Gründe gibt es dafür? Was schlägt der Kunde als Lösung vor?
  • Fragen zur Pro­duk­ten­twick­lung: Wie wird das Produkt verwendet? Was kann optimiert werden? Welche Probleme hat der Kunde mit dem Produkt? Für welches Problem hat der Kunde noch keine Lösung?
  • Angaben zum Gesprächspartner: Name, Position, Abteilung, Kon­tak­t­daten und In­for­ma­tio­nen zum Unternehmen (im B2B-Sektor).
  • Persönlicher Eindruck: Wie lief das Gespräch, was gibt es anzumerken?
„Nutzen Sie jeden Kontakt mit Ihren Kunden, um In­for­ma­tio­nen für Ihre Pro­duk­ten­twick­lung zu erhalten.“

Natürlich können Sie das Protokoll dem In­ter­viewziel anpassen. Ganz wichtig ist: Am Ende sollten Sie den Kunden immer fragen, ob Sie ihn zu einem späteren Zeitpunkt erneut wegen eines Marktgesprächs kon­tak­tieren dürfen. So können sich später auch Kollegen aus einer anderen Abteilung beim Kunden melden, um beispiel­sweise ein Einzelin­ter­view zu führen oder ihn zu einer Grup­pendiskus­sion einzuladen.

Arrangierte Marktgespräche

Um ein Produkt nach den Bedürfnissen Ihrer Kunden zu entwickeln, sollten Sie auf Einzelgespräche oder Grup­pendiskus­sio­nen mit poten­ziellen Kunden keinesfalls verzichten. Scheuen Sie sich nicht, Kunden um ein Gespräch zu bitten; machen Sie dabei aber deutlich, dass es sich nicht um ein Verkauf­s­ge­spräch handelt. Dieses ist tabu, wenn Sie etwas Relevantes erfahren wollen.

„Tuwun hat als Ziel die er­fol­gre­iche Pro­duk­ten­twick­lung. Die Gespräche mit den Kunden sind nur Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck.“

Wählen Sie Gesprächspartner aus, die aus dem ge­ografis­chen Umfeld kommen, in dem Sie Ihr Produkt später verkaufen wollen. Solche Leute finden Sie z. B. über Tele­fon­vor­wahlen oder Postleitzahlen; auch ein Blick in die Kundendatei oder in ein Branchen­buch hilft bei der Auswahl. Befragen können Sie Nichtkunden, Erstkunden, Gele­gen­heit­skun­den, Stammkunden, Rückkehrer, ehemalige Kunden oder Wech­selkun­den. Un­ter­schei­den Sie weiterhin zwischen Dauer­nutzern und Gele­gen­heit­snutzern sowie zwischen Entschei­dern und Zahlern.

„Tuwun ist eine Variante, die Sie mit Bordmitteln durchführen können: direkter Kontakt zum Kunden ohne die Kosten einer externen Mark­t­forschungsagen­tur.“

Treffen Sie sich mit dem Kunden nicht an einem neutralen Ort, sondern gehen Sie zu ihm: In seiner natürlichen Umgebung (am Ar­beit­splatz oder in seiner privaten Wohnung) erhalten Sie Einblick in sein Leben; Ihr Gesprächspartner wird sich dort sicherer fühlen und Ihnen mehr erzählen. Außerdem können Sie wertvolle In­for­ma­tio­nen sammeln, z. B. beobachten, welche Konkur­ren­zpro­dukte er nutzt und in welchen Bereichen er neue Lösungen benötigt. Bereiten Sie sich auf das Gespräch vor, indem Sie so viele In­for­ma­tio­nen über Ihr Gegenüber einholen wie möglich. So können Sie sich im Gespräch auf die relevanten Dinge konzen­tri­eren.

Fragen und zuhören

Tuwun-In­ter­views kann jeder Ihrer Mitarbeiter durchführen. Ihr Team hat ja die nötige Fach- und Branchenkom­pe­tenz, und die Methoden der Gesprächsführung sind leicht zu erlernen. Für ein entsprechen­des Training lohnt es sich, eine pro­fes­sionelle Agentur zu beauftragen. Wichtig ist, dass der Interviewer Interesse am In­ter­viewten zeigt, dass er ihm zuhört und Fachchi­ne­sisch vermeidet. Der Interviewer muss ohne eine vorgefasste Meinung in das Gespräch gehen.

„Verschießen Sie nicht gleich mit der ersten Antwort alles Pulver und nennen Sie nicht die Dinge, nach denen der Türöffner noch gar nicht gefragt hat.“

Wenn Sie den Termin für das Gespräch vereinbaren, bitten Sie den poten­ziellen Gesprächspartner um seine Hilfe – das suggeriert, dass man ihm nicht schaden wird. Mit diesem Trick sind Zusage­quoten von 90 % nicht selten. Hat der Interviewer das Sekretariat am Apparat, wird er nach dem Grund des Anrufs gefragt. Seine Antwort sollte den Türöffner dazu bringen, weit­erzufra­gen. Je mehr Fragen, desto höher die Verbindungschan­cen.

Leitfaden und Fragebogen

Damit das Gespräch nicht am Thema vorbeigeht, sollten Sie einen Gesprächsleit­faden und einen Fra­genkat­a­log zusam­men­stellen. Der Gesprächsleit­faden grenzt die Themen ein und struk­turi­ert das Gespräch. Der Fra­genkat­a­log dient dazu, die Themen zu vertiefen. Lassen Sie die Fragen ruhig situativ einfließen, aber verlieren Sie die überge­ord­nete Struktur nicht aus den Augen. Handeln Sie die folgenden Themen nacheinan­der ab; wahrschein­lich brauchen Sie dazu mehrere Gespräche:

  • Lebenswelt: Der Gesprächspartner soll anhand von Erlebnissen oder Beispielen erzählen, was ihm wichtig ist, welche Werte und Ein­stel­lun­gen er hat.
  • USP-In­for­ma­tio­nen: Eruieren Sie Motive und Rah­menbe­din­gun­gen, den Tagesablauf und die Tätigkeiten des Gesprächspartners, seine Aufgaben, Probleme und Hindernisse bei der Aufgabenerfüllung sowie die für ihn relevanten Er­fol­gs­fak­toren, die später mit Ihrem Produkt gefördert werden. Aus diesen In­for­ma­tio­nen sollten Sie die USP Ihres Produkts ableiten können.
  • Per­spek­tiven: Entwickeln Sie die sechs Per­spek­tiven eines Produkts; entsprechende Marktgespräche sollten erst stattfinden, nachdem die USP definiert ist.
„Ihr Gesprächspartner kennt zwar nicht Ihre Struktur, vermerkt jedoch positiv, wenn Sie nicht hin und her springen.“

Häufig reichen bereits 10–20 Gespräche, um hin­re­ichende Erken­nt­nisse zu einem dieser Themen zu gewinnen. Je homogener Ihre Zielgruppe ist, desto weniger Gespräche benötigen Sie. Seien Sie in der Themenwahl flexibel – das Gespräch soll offen sein, und Ihr Fragebogen ist nicht in Stein gemeißelt.

„Das Konzept steht als Bindeglied zwischen der Idee und den Marktgesprächen auf der einen Seite und der Produktion auf der anderen Seite.“

Ergänzend können Sie Ihre Kunden auch zu Grup­pendiskus­sio­nen einladen. Ide­al­er­weise führen Sie mindestens zwei Grup­pendiskus­sio­nen mit je sechs Teilnehmern durch. Diese sollten in keinerlei Bezug zueinander stehen. Eine Grup­pendiskus­sion sollte 90–150 Minuten dauern. Als angemessener Ve­r­anstal­tung­sort bietet sich beispiel­sweise ein Seminarraum eines Hotels an.

Auswertung und Anwendung

Nun gilt es, die Marktgespräche auszuwerten. Lassen Sie Transkripte der Gespräche anfertigen und bringen Sie anschließend die Gesprächsinhalte in eine feste Struktur. Diese sollte sich an den oben genannten drei Themen orientieren. Machen Sie zuerst eine Langschnit­t­analyse, d. h. werten Sie jedes einzelne Gespräch über alle Themen hinweg aus. Danach folgt die Quer­schnit­t­analyse, bei der einzelne Themen über alle Gespräche hinweg erfasst werden. Für jede homogene Gruppe an Gesprächspartnern verdichten Sie die Ergebnisse zu einem „Mustergesprächspartner“, struk­turi­ert nach Lebenswelt, In­for­ma­tio­nen für die USP und Pro­duk­t­per­spek­tiven. Nehmen Sie bereits nach fünf Gesprächen eine erste Zwis­chenauswer­tung vor – so können Sie den Gesprächsleit­faden für nach­fol­gende Marktgespräche mod­i­fizieren.

„Die Umsetzung des gesamten Verfahrens führt zur Ausrichtung Ihrer Pro­duk­ten­twick­lung auf die Bedürfnisse Ihrer Kunden.“

Sie haben nun alle relevanten In­for­ma­tio­nen über Ihre Kunden und deren Bedürfnisse, Wünsche und Probleme, d. h. Sie kennen jetzt Ihre typischen Kunden, auf die Sie die Pro­duk­ten­twick­lung ausrichten können. Mit den Ergebnissen der Marktgespräche können Sie Ihre USP definieren, ein Pro­duk­tkonzept mit relevanten Pro­duk­teigen­schaften erstellen, dieses und die dazugehörigen Werbemaßnahmen mit weiteren Marktgesprächen überprüfen – und schließlich ein er­fol­gre­iches Produkt auf den Markt bringen.

Über den Autor

Arno Langbehn ist Geschäftsführer des Fachverlags B. Behr’s mit Pub­lika­tio­nen im Bereich der Lebens­mit­telin­dus­trie, Gemein­schaftsverpfle­gung und Gesundheit. Seit 15 Jahren beschäftigt er sich mit nutzw­er­to­ri­en­tierter Pro­duk­ten­twick­lung und hat in diesem Zusam­men­hang das Verfahren Tuwun entwickelt.