Veränderung in komplexen sozialen Systemen
Unternehmen sind komplexe soziale Systeme. Sie müssen sich ändern, um erfolgreich zu bleiben. Ein Wandel wirkt sich direkt auf die Mitglieder der Organisation aus – die entsprechend geführt werden müssen. Die alten Rezepte greifen hier oft nicht mehr. Beispiel autoritäres Führungsverhalten: Was für unsere Eltern und Großeltern noch Teil eines tradierten Wertesystems war, ist heute völlig fehl am Platz. Mitarbeiter müssen ins Boot geholt und emotional auf die Veränderung eingestimmt werden. Ein Change-Manager muss deshalb nicht zuletzt die Auftraggeber des Veränderungsprozesses beraten, um sie vor den eigenen Führungsfehlern zu bewahren.
„Die Evolution hatte schlicht nicht genug Zeit, uns mit Programmen auszustatten, um Veränderungsprozesse in komplexen sozialen Systemen zu managen.“
Dem Topmanagement kommt bei Veränderungsvorhaben wie einem Personalabbau, einer Fusion, einer Reorganisation oder der Implementierung einer neuen Unternehmensstrategie eine zentrale Rolle zu. Alle Strategien sind nichts wert, wenn sie nicht konsequent umgesetzt werden. Dazu ist die Unterstützung der Mitarbeiter notwendig. Diese reagieren auf Veränderungsprojekte aber meist mit Angst und Reaktanz, einer Mischung aus Unwillen, abwehrendem Verhalten und Trotzreaktion. Das Management muss den verunsicherten Mitarbeitern Orientierung geben und im Vorfeld beurteilen, wie heftig die Reaktionen ausfallen werden. Wie hoch die Wellen schlagen, hängt auch davon ab, welche Erfahrungen eine Organisation in der Vergangenheit mit Veränderungsprojekten gemacht hat und wie mächtig die Geschäftsleitung ist.
Fallstudie: Change-Management unter Wettbewerbsdruck
Sie arbeiten für einen Keramikhersteller, der mit 24 % Marktanteil Branchenführer ist. Ihre beiden Wettbewerber mit 17 bzw. 13 % Marktanteil wollen fusionieren. Gelingt dies, setzt sich der neue Konzern an die Spitze. Sie müssen handeln. Nutzen Sie das so genannte „Fenster der Verwundbarkeit“, das sich nun auftut. Die beiden Unternehmen kümmern sich um die Fusion und sind daher nur eingeschränkt handlungsfähig. Es ist nicht ethisch verwerflich, wenn Sie nun versuchen, Marktanteile zu gewinnen – solange Sie sich nicht primär darauf konzentrieren, den Wettbewerbern mit unlauteren Methoden zu schaden. Umgekehrt gilt: Sind Sie selbst von einer Fusion betroffen, besprechen Sie sich rasch mit Ihren Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden. Wenn Sie auf endgültige Antworten warten und Ihre Leute zu lange im Ungewissen lassen, werden die Mitbewerber Ihre Verwundbarkeit ausnutzen und Ihnen Leistungsträger, Schlüssellieferanten und Kunden abspenstig machen.
Fallstudie: Projektkrise
Die Geschäftsführung eines Unternehmens beauftragt eine interne Projektgruppe, bestehend aus Nachwuchskräften, mit der Analyse von Prozessen im Unternehmen. Als die daraus resultierenden Verbesserungsvorschläge in der Leitungskonferenz präsentiert werden, reagieren alteingesessene Führungskräfte feindselig und zerfetzen die Vorschläge in der Luft. Der Betriebsrat verlangt empört Informationen über die Rationalisierungsmaßnahmen. Das Projekt droht zu scheitern, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Das Team ist demoralisiert, Enttäuschung macht sich breit.
„Im Unterschied zu Beton, Stahl und Programmcodes machen sich Menschen ihre Gedanken über das, was auf sie zukommt oder auf sie zukommen könnte. Dies löst Emotionen aus, allen voran Ängste und Abwehr.“
Obwohl das Kernproblem vermutlich im verletzten Stolz der mittleren Führungsebene liegt, die quasi vor vollendete Tatsachen gestellt worden ist, müssen Sie zuerst die Folgeprobleme lösen, die wie Brände rasch um sich greifen. Suchen Sie das Gespräch mit dem Betriebsrat, machen Sie ihm den Handlungsbedarf bewusst, präsentieren Sie ihm die Lösungsvorschläge und die Einwände dagegen und vermitteln Sie einen Einblick in die weitere Vorgehensweise. Informieren Sie also den Betriebsrat, aber lassen Sie sich nicht dazu drängen, ihm mehr Mitbestimmungsrechte einzuräumen, als ihm zustehen. Erläutern Sie auch dem Projektteam, wie Ihr weiterer Plan aussieht. Verläuft das Projekt im Sand, wird nicht nur die Geschäftsführung unglaubwürdig: Mangels williger und motivierter Projektmitarbeiter können auch künftige Projekte dieser Art nicht mehr durchgeführt werden.
„Stellen Sie sich bei allen Change-Prozessen darauf ein, dass Ihnen der Wettbewerb keine Pause gewähren wird, bis Sie fertig sind.“
Das mittlere Management zeigt eine starke Reaktanz: Offenbar herrscht das Gefühl vor, ausgebootet zu werden. Die Geschäftsleitung ist scheinbar führungsschwach, denn sonst wäre eine solche Reaktion in der Leitungskonferenz undenkbar gewesen. Bevor Sie aber vorschnell als Geschäftsführer zurücktreten oder die Anstifter im mittleren Management feuern, führen Sie sich Ihr Ziel noch einmal vor Augen: Sie möchten den Beziehungskonflikt mit den Führungskräften beilegen und Maßnahmen zur Prozessoptimierung in Ihrem Unternehmen umsetzen. Erklären Sie dem mittleren Management den Veränderungsbedarf. Erkennen Sie an, dass es dessen Aufgabe ist, konstruktive Kritik zu üben und Lösungsvorschläge zu hinterfragen. Räumen Sie Ihren Fehler ein, der mittleren Ebene keine Möglichkeit gegeben zu haben, Beiträge zur Lösungsfindung zu leisten. Gleichzeitig verurteilen Sie aber die Art und Weise, wie die Leitungskonferenz die Projektgruppe behandelt hat.
Fallstudie: Kulturveränderung
Die Kultur des Unternehmens sei veränderungsbedürftig, befindet der neue Vorstandsvorsitzende. Als er den 34 Mitgliedern der obersten Führungsriege vorschlägt, von einem Projektteam ein neues Leitbild ausarbeiten zu lassen, wertet er deren Schweigen als Zustimmung. Die Projektgruppe macht sich flugs an Werk. Schließlich setzt das Management unter Zeitdruck seine Unterschrift unter das neu formulierte Leitbild und versendet es an alle Mitarbeiter. Doch was dann? Weil ein schlüssiges Umsetzungskonzept und das nötige Interesse der Mitarbeiter fehlen, drohen Kulturveränderungsprojekte wie dieses oft sanft zu entschlafen. Die Erstellung des neuen Leitbildes war ein Non-Event, zu einer dauerhaften Verhaltensänderung kommt es nicht. Der Vorstandsvorsitzende hat sich gleich mehrere böse Schnitzer erlaubt:
- Er verurteilte die gesamte bestehende Unternehmenskultur, wodurch er das alteingesessene Management vor den Kopf stieß. Besser hätte er sich auf einige wenige Veränderungsschwerpunkte konzentriert, die sich tatsächlich auf den Unternehmenserfolg auswirken.
- Kulturveränderungsprojekte sind Chefsache. Sie dürfen sie niemals einfach einem Projektteam übergeben.
- Das Leitbild ist schwammig formuliert. Auch hier gilt: Schwerpunkte setzen!
- Der Prozess wurde nicht zu Ende gedacht. Nach der Verabschiedung des Leitbildes blieb nichts als ein großes Fragezeichen. Hochglanzbroschüren, Newsletter und Mitarbeiterveranstaltungen reichen nicht aus, um eine Verhaltensänderung des Personals zu bewirken. Die Mitarbeiter wollen gute Gründe, warum sie sich so und nicht anders verhalten sollen. Die Antworten auf diese Fragen dienen als Grundlage für einen Maßnahmen- und Zeitplan, der regelmäßig überwacht wird.
Fallstudie: Turnaround/Sanierung
Ein Chemieunternehmen erwirtschaftet seit einigen Jahren Verluste. Ein Jahr noch könnte der neue Geschäftsführer die Firma über Wasser halten, nicht zuletzt dank der Bereitschaft des Betriebsrats, einer Streichung des Weihnachtsgeldes zuzustimmen. Ein Beratungsunternehmen legt ein Sanierungskonzept vor, dem zufolge ein Viertel der Mitarbeiter entlassen werden muss.
„Gut anfangen kann jeder. Die Kunst besteht darin, begonnene Veränderungsvorhaben auch gut fort- und schließlich zu einem guten Ende zu führen.“
Als Geschäftsführer dieses Unternehmens sollten Sie jetzt Folgendes tun: Kommunizieren Sie offen, um wilden Gerüchten vorzubeugen. Das ist leichter gesagt als getan. Wenn noch keine Details feststehen, klären Sie alle Betroffenen zumindest über die weitere Vorgehensweise und den Zeitplan auf. Hiobsbotschaften sollten die Mitarbeiter von der Geschäftsführung direkt erfahren – am besten am späten Vormittag. Keinesfalls ersetzt die E-Mail oder die Hausmitteilung das persönliche Gespräch. Bereiten Sie Antworten auf die zu erwarteten Fragen vor und beschönigen Sie nichts. Stellen Sie nach den Kündigungsgesprächen zwischen den Mitarbeitern und ihren jeweiligen Vorgesetzten – die dafür speziell geschult werden sollten – Informationsmaterial zu Abfindungspaketen und zur sozialen Abfederung bereit. Bieten Sie immer auch ein zweites Gespräch an, damit der betroffene Mitarbeiter nach dem ersten Schock noch einmal in Ruhe Details erfragen kann.
„Im Change-Management kann das Prinzip nur lauten: Entweder ganz oder gar nicht.“
Bemühen Sie sich um Glaubwürdigkeit beim Betriebsrat, etwa indem Sie ihm einen Platz im Lenkungsausschuss der Sanierung anbieten. Ist der Betriebsrat nämlich verärgert, könnte er den Prozess erheblich behindern – aufhalten allerdings kann er ihn nicht. Vergessen Sie auch die verbliebenen Mitarbeiter nicht. Sie werden nun stärker gefordert sein als bisher und haben u. U. Gewissensbisse, weil es ihren Kollegen nicht so gut erging wie ihnen. Damit die Belastung nicht zum Burn-out führt und sich Fehler an Fehler reihen, müssen Prozesse effizienter werden. Prüfen Sie alle Arbeitsaufgaben dahingehend, ob sie stark vereinfacht oder vielleicht sogar gestrichen werden können. Die dafür notwendige Außenperspektive kann ein externer Berater einnehmen.
15 Leitlinien für erfolgreiche Change-Manager
Als Change-Manager sollten Sie diese Regeln beachten:
- Dass Informationen unvollständig sind oder einseitig interpretiert werden, ist normal. Machen Sie sich daher die Rahmenbedingungen und Machtverhältnisse im Unternehmen bewusst, stimmen Sie die Startbedingungen des Change-Projekts mit allen Beteiligten ab und besprechen Sie Vorschläge mit dem Auftraggeber.
- Da auch Ihre eigenen Erfahrungen und Charaktereigenschaften Ihre Wahrnehmung verzerren, müssen Sie sich Ihre Gefühle und Bewertungen bewusst machen.
- Stehen Sie der Organisation mit kritischer Sympathie gegenüber – nicht mit Ablehnung oder Glorifizierung.
- Versuchen Sie, die Beteiligten zu verstehen. Das muss nicht heißen, dass Sie mit deren Verhalten einverstanden sind.
- Ein schlüssiges Veränderungskonzept vom Einstieg in ein Change-Projekt bis zu seinem Abschluss ist die Basis einer gelungenen Umsetzung.
- Begegnen Sie allen Beteiligten mit Respekt und auf Augenhöhe, ob sie nun Opponenten oder Unterstützer der Veränderung sind.
- Vermeiden Sie den Kampf zwischen „Gut“ und „Böse“.
- Kommunizieren Sie Ziele und Vorgehensweisen offen und ohne Beschönigungen.
- Wenn es noch keine konkreten inhaltlichen Dinge zu berichten gibt, klären Sie die Beteiligten wenigstens über den Prozess auf.
- Akzeptanz und bessere Ergebnisse erreichen Sie, indem Sie eine möglichst hohe Anzahl Betroffener zu Mitgliedern des Projektteams machen.
- Versichern Sie sich der Unterstützung einflussreicher Verbündeter.
- Sprechen Sie Probleme und Fehlentwicklungen offen an.
- Fordern und ermutigen Sie alle Beteiligten.
- Führen Sie auch den Auftraggeber, indem Sie ihm aktiv Vorschläge unterbreiten und seine Erwartungen managen.
- Stellen Sie sicher, dass das Management den Veränderungsprozess beharrlich weiterverfolgt – nichts ist so klar zum Scheitern verurteilt wie halbe Sachen.