Auf unbekanntem Terrain
Viele Dinge im Wirtschaftsleben sind gut planbar, und häufig führen diese Pläne auch ans Ziel. So besteht etwa die Möglichkeit, die Ergebnisse der Marktforschung als Basis für Pläne zu nehmen. Das ist schließlich ein fester Grund, auf dem Manager stehen. Oder etwa nicht?
„Effectuation ist eine Art, unternehmerisch zu denken und zu handeln – eine eigenständige Logik, die ohne Prognosen auskommt.“
Das Beispiel der Post-its zeigt, dass auch ein Produkt, dem die Marktforschung keine Chancen eingeräumt hat, ein riesiger Erfolg werden kann. Die gelben Klebezettel beweisen, dass Vorhersagen häufig danebenliegen, wenn es um Produkte geht, die es auf dem Markt noch nicht gibt. Bleibt die Frage: Was machen Sie, wenn Sie keine Erfahrungen haben, auf die Ihre Pläne bauen können? Wenn Sie in Ungewissheit hineinplanen müssen? Für diese Fälle gibt es Effectuation, eine Form unternehmerischen Denkens, die ohne Prognosen zum Ziel führt.
Risiko, Unsicherheit oder Ungewissheit?
Um zu verstehen, was Effectuation genau bedeutet, muss man die Begriffe „Risiko“, „Unsicherheit“ und „Ungewissheit“ durchleuchten. Ist das Risiko bekannt, lässt sich sehr gut mit Prognosen und Analysen arbeiten und so ans Ziel zu kommen. Beispielsweise ist das Risiko kalkulierbar, wenn Sie auf eBay das White Album der Beatles verkaufen möchten: Vermutlich wird es zu einem sehr hohen Preis den Besitzer wechseln, Ihr Risiko ist also klein.
„Kausale Logik ist dann eine wirksame Methode, wenn die Zukunft planbar, das Ziel vorgegeben und bekannt und die Umwelt unabhängig von den Handlungen autonomer Akteure ist.“
Unsicherheit bedeutet etwas anderes als Risiko: Bei einem Fußballspiel wissen Sie zwar u. U. eine Menge über die antretenden Mannschaften und können Prognosen wagen. Doch obwohl Sie wissen, wann und wo das Spiel sein wird und obwohl Sie alle Regeln kennen, bleibt der Ausgang des Spiels unsicher.
„Die Logik der Effectuation ist die exakte Umkehr kausaler Logik.“
Sprechen wir von Ungewissheit, sind überhaupt keine Rahmenbedingungen bekannt. Das heißt, Sie wissen nicht einmal, welche Mannschaften zu welchem Spiel antreten. Und die Regeln kristallisieren sich auch erst im Lauf der Zeit heraus. Das ist, wie wenn Sie auf den Flohmarkt gehen, um dort nach etwas Wertvollem zu suchen. Ob Sie etwas finden und was das sein wird, bleibt ungewiss, bis Sie es in Händen halten.
„Das Ergebnis eines Fußballspiels zwischen Österreich und Deutschland ist nicht ungewiss, bloß unsicher.“
So ähnlich ist Wirtschaft im 21. Jahrhundert: Vieles ist ungewiss geworden. Heute gibt es lauter unterschiedliche Geschmäcker – und sie ändern sich ständig. Alles ist miteinander vernetzt und beeinflusst sich gegenseitig. Dahinter steckt eine schwer zu durchschauende Dynamik, die das Leben komplex macht. Das stellt viele Branchen vor eine große Herausforderung.
Der Griff in den Methodenkoffer
Je mehr über die Rahmenbedingungen bekannt ist, desto eher liegt einer Problemlösung eine linear-kausale Denkstruktur zugrunde. Mit dieser Methode wird analysiert, wie man am schnellsten, am günstigsten und am effizientesten ein Ziel erreicht. Sie haben eine Idee, führen eine Analyse durch, treffen auf dieser Grundlage eine Entscheidung, planen dann und akquirieren die Ressourcen, die Sie benötigen. Im letzten Schritt handeln Sie. Mit diesem Vorgehen können Sie beispielsweise eine Software für einen vorgegebenen Zweck schreiben oder eine Fabrik bauen. Linear-kausales Denken funktioniert also dann besonders gut, wenn die Zukunft planbar ist, das Ziel feststeht und das Umfeld sich nicht ständig ändert.
„Handeln im Sinne von Effectuation bedeutet mit anderen kommunizieren und diese durch Vereinbarungen ins Boot holen.“
Wenn Ihr Ziel jedoch noch nicht klar festgelegt ist und etwas Neues in einer nicht vorhersehbaren Umgebung gefunden werden soll, hilft Effectuation weiter. Hier gehen Sie davon aus, dass Sie die ungewisse Zukunft mitgestalten können. Dazu müssen Sie sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen. Sie berichten den anderen von Ihren Visionen und informieren sich über das, was Ihre Mitstreiter denken. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, etwas gemeinsam zu machen. Was am Ende dabei herauskommt, ist oft vom Zufall geprägt. Der wesentliche Unterschied zur linear-kausalen Vorgehensweise: Sie denken und handeln zyklisch – allerdings sind die Anteile, in denen Sie handeln, deutlich höher. Und während kausale Denker sich die Umwelt aussuchen, die ihnen am besten passt, verändern Effectuators ihre Umwelt so lange, bis sie ihnen gefällt.
„Mittelorientierte Effectuators haben einen entscheidenden Vorteil, wenn ihre Ziele dem Unerwarteten zum Opfer fallen. Sie hängen nicht so stark an ihren Zielen und passen diese daher rascher an die neuen Möglichkeiten an.“
Die Grenzen zwischen kausalem Denken und Effectuation sind nicht statisch. Schließlich ist Effectuation als Ergänzung zu kausalem Denken zu verstehen. Wichtig ist, dass Sie im richtigen Moment die passende Methode einsetzen. Effectuators, die auch kausal planend vorgehen können, werden gezwungen, ihr Vorhaben als Ganzes zu verstehen. Das hilft ihnen herauszufinden, woran ihre Idee scheitern könnte. So können sie sich besser auf einen Plan B vorbereiten.
„Nicht entscheiden kostet Zeit, Geld und Nerven, und oft sind andere dann einfach schneller.“
Wenn Sie als Effectuator planen, sollten Sie festhalten, was Sie über die Zukunft denken und was unbedingt notwendig ist, damit Sie ans Ziel kommen. Aufschreiben sollten Sie auch die nicht veränderbaren Faktoren sowie eine Ausweichidee für den Fall, dass Sie scheitern.
Vier Grundprinzipien
Effectuation beruht auf vier Prinzipien: Mittelorientierung, leistbarer Verlust, Umstände und Zufälle sowie Vereinbarungen und Partnerschaften.
- Bei der Mittelorientierung stehen die Fragen im Vordergrund, wen der Effectuator kennt, was er weiß und wer er ist. Er legt sich die zur Verfügung stehenden Mittel zurecht und denkt darüber nach, welche Ergebnisse er damit erzielen kann. Mittelorientiert handelt beispielsweise, wer seine Berufung zum Beruf macht, wer etwas aus persönlicher Überzeugung und nicht des Geldes wegen tut oder wer zuerst den Kleiderschrank öffnet und dann erst entscheidet, was er tragen wird. Manchen wird das planlos oder unstrukturiert vorkommen, sie vermuten hinter dieser Art des Handelns vielleicht Esoterik oder Intuition. Doch das ist ein Trugschluss: Vielmehr ist der Effectuator vielen Zielen gegenüber offen. Seinen Weg bestimmt er anhand der Mittel, die ihm begegnen. Er legt fixe Ziele nur in Arbeitsetappen von Tagen oder Wochen fest. Kausale Denker, die ein festes Ziel im Auge haben, obwohl die Rahmenbedingungen höchst vage sind, setzen sich dagegen großem Stress aus. Die damit verbundene Hormonausschüttung geht zulasten der Kreativität und kostet unnötig Kraft. Sie sollten nie vergessen, dass es grundsätzlich zwei Arten von Fehlern im Leben gibt: Sie tun etwas, was Ihnen nicht zum Erfolg verhilft. Oder Sie unterlassen etwas, was Sie erfolgreich gemacht hätte. Den ersten Fehler werden Sie und vielleicht auch andere zu spüren bekommen. Aber Sie werden nie herausfinden, was Ihnen entgeht, wenn Sie etwas gar nicht erst tun.
- Nach dem Prinzip des leistbaren Verlustes handeln Leute, die eine machbare Lösung suchen – selbst wenn die nicht perfekt sein sollte. Solche Menschen haben für den Notfall einen Plan B parat. Wer nach der Prämisse des leistbaren Verlustes handelt, überlegt sich, was alles schiefgehen könnte, was das Allerschlimmste wäre. Wenn Sie feststellen, dass die Konsequenzen selbst dann nicht so dramatisch sind, dass Sie nicht damit leben könnten, dann sollten Sie loslegen. Sind die möglichen Konsequenzen jedoch unerträglich, greifen Sie zu Plan B. Ein Vorteil dieser Methode: Entscheidungen fallen schneller als mit kausalen Denkwegen.
- Ein schönes Beispiel für das Prinzip der Umstände und Zufälle bot der Italiener Mario Moretti Polegato: Seine Schuhe waren nicht gemacht für einen Spaziergang in der Mittagshitze von Reno, Nevada. Kurz entschlossen bohrte er darum Löcher in die Sohlen, um seine Füße zu belüften. Das Ergebnis dieses Handelns ist das Schuhunternehmen Geox, das heute weltweit 3500 Mitarbeiter beschäftigt.
- Beim vierten Prinzip geht es um Vereinbarungen und Partnerschaften. Die Kooperation zwischen zwei Effectuators funktioniert dann am besten, wenn beide ein Eigeninteresse verfolgen. Außerdem ist es sinnvoll, wenn sie lernbereit, kreativ und überzeugend sind. Letzteres erreichen Sie vor allem, indem Sie selbst von Ihrer Sache begeistert sind . Sind Sie zudem offen für neue Ideen und Vorschläge, dann sollten Sie versuchen, Ihre Gedanken mit denen anderer zu kombinieren. Bleibt die Frage: Wo finden Sie den passenden Partner? Effectuators sprechen in diesem Zusammenhang von Stakeholdern, also von an einer Sache Beteiligten. Behalten Sie im Hinterkopf, dass eine lange Suche nach einem passenden Stakeholder teuer werden kann. Schließlich können Sie, während Sie suchen, nicht an Ihrem Projekt weiterarbeiten. Dadurch entstehen die so genannten Opportunitätskosten. Oft ist es sinnvoller, die Ziele den Menschen anzupassen, die mit Ihnen kooperieren wollen. Geben Sie darum möglichst viele Informationen preis. So erhöhen Sie die Zahl derer, die mit Ihnen zusammenarbeiten werden. Je dichter Ihr Netzwerk geknüpft ist, desto höher werden die Eintrittsschranken für Ihre Konkurrenten.
Die Grenzen von Effectuation
Je größer ein Unternehmen wird, desto schwieriger ist es, Effectuation anzuwenden. Die Organisationsstrukturen und Prozesse werden komplizierter, das Ungewisse der Startphase löst sich auf und damit entstehen Rahmenbedingungen, die kausales Denken fördern. Droht dem Unternehmen Gefahr, ist es sowieso besser, den kausalen Denkansatz zu wählen.
„Effectuators kommen leichter ins Tun, weil sie sich nicht durch Ertragsaussichten motivieren.“
Um auch als etablierter Unternehmer von Effectuation zu profitieren, müssten Sie Hierarchien und Bürokratie möglichst abschaffen. Das hat der Chemiker Bill Gore getan, der seine Ideen bei seinem Arbeitgeber, einem Chemiekonzern, nicht unterbringen konnte. Er machte sich selbstständig und experimentierte im Keller weiter. Heraus kam Gore-Tex, ein neues Material für wetterfeste Bekleidung. Damit die Firma innovativ bleibt, darf und soll jeder Mitarbeiter an einem halben Tag in der Woche nach eigenem Gutdünken experimentieren.
Gibt es die richtige Idee?
In einer zunehmend komplexen Welt mit heterogenen Zielgruppen gibt es vermutlich mehr richtige Ideen als je zuvor. Sie müssen nur gefunden werden. Doch das ist nicht so einfach, denn oft werden gute Ideen erst durch kleine oder größere Veränderungen brillant. Beispiel Internet: Die Pioniere hätten in den 70er Jahren wohl kaum gedacht, dass Menschen bald im Web einkaufen, Filme sehen oder Fotos tauschen würden. Klar ist in jedem Fall, dass die Qualität der Planung nicht automatisch für den Erfolg des Unternehmens verantwortlich ist.
„Effectuators steuern die Zukunft, indem sie Unerwartetes in Innovatives und Nützliches verwandeln.“
Eine Erhebung zeigt, dass nur 28 % der erfolgreichen Unternehmen einen formalen Businessplan erstellt hatten. 20 % hatten ihre Geschäftsidee eher zufällig gefunden, 71 % der Gründer übernahmen Ideen aus früheren Festanstellungen und nur 12 % hatten vor der Gründung Marktforschung betrieben.
Ein Beispiel: William Wrigley betrieb eine ganz eigene Art der Marktforschung, indem er den von ihm vertriebenen Seifen Probepackungen mit Backpulver beilegte. Dieses Küchenhilfsmittel kam besser an als die Seife. Also konzentrierte er sich nur noch auf Backpulver. Diesem legte er nach einiger Zeit Kaugummi bei – das wiederum auf mehr Interesse stieß als das Backpulver. Schließlich gab er die Backpulverproduktion auf und brachte 1893 Wrigley’s Spearmint und Juicy Fruit auf den Markt – Kaugummi, das bis heute in aller Munde ist.
„Wenn Unternehmen reifen und wachsen, dann bewegen sie sich in der Regel weg von Effectuation hin zu linear-kausalem Vorgehen.“
Brillante Ideen entstehen häufig erst durch persönliche Betroffenheit: Sind Sie mit etwas unzufrieden oder von etwas überzeugt? Wollen Sie die Welt verbessern oder hat ein Schicksalsschlag Sie getroffen? Möchten Sie mit anderen zusammen etwas machen oder wollen Sie ein Hobby ausbauen? Das sind die richtigen Gelegenheiten, eine wirklich tragfähige Geschäftsidee mithilfe von Effectuation zu entwickeln.