Die Spreu vom Weizen trennen
Die Finanz- und die anschließende Wirtschaftskrise haben schmerzhaft gezeigt, dass Ratings, also die Einschätzung der Bonität von Schuldnern, im Zweifelsfall nichts sind, worauf sich Investoren oder Gläubiger verlassen können. Ein Rating ist die Einschätzung zukünftiger Zahlungsströme. Die können naturgemäß mehr oder minder gewiss sein und sich vor allem auch kurzfristig stark ändern. Diese Ungewissheit in Zahlen zu verpacken ist die große Herausforderung des Finanzmanagements. Ohne dieses kommt kein seriöses Unternehmen aus. Welche Kunden sind verlässliche und welche eher wankelmütige Geschäftspartner, welche könnten durch einen Zahlungsausfall gar die Solvenz des eigenes Unternehmens gefährden? Dies einzuschätzen und im Unternehmensalltag zu implementieren ist Aufgabe des Debitorenratings.
Drum prüfe, wer sich bindet
Die Einschätzung der Schuldner mittels Debitorenrating ist einer von mehreren Bausteinen des Working-Capital-Managements, zu dem u. a. auch das Vorratsmanagement sowie das Rechnungs- und Mahnwesen zählen. Das Working Capital eines Unternehmens ist das Ergebnis aus Forderungen (plus Vorräten) abzüglich Verbindlichkeiten. Wer es schafft, sein gebundenes Umlaufvermögen möglichst gering zu halten, ist entsprechend liquider – ein Umstand, der in der Wirtschaftskrise den Unterschied zwischen Solvenz und Insolvenz bedeuten kann. Aber auch die Gefahr eines Liquiditätsengpasses in einer Aufschwungphase wird von vielen Firmen unterschätzt, besonders nach einem Turnaround: Nur wer hinreichend liquide ist, kann die sich ihm bietenden Chancen im Aufschwung nutzen. Chancen auf Zu- oder Rückgewinne von Marktanteilen verpuffen, wenn Sie nicht über die ausreichenden Mittel verfügen, diese Chancen auch zu ergreifen.
Wer bringt wie viel?
Beim Debitorenrating geht es darum, den Wertbeitrag Ihrer Kundenbeziehungen zu beurteilen – und zwar aller Kundenbeziehungen! Dazu zählen nicht nur die Umsatzerlöse, sondern auch die gewährten Rabatte und Skonti sowie mögliche kundenspezifische Prozesskosten oder Inanspruchnahmen von Garantien. Was einfach klingt, ist in der Praxis recht komplex, denn Sie müssen auch folgende Posten beachten:
- die eingeräumten Zahlungsziele,
- die Zahlungstreue eines Kunden,
- das Ausfallrisiko des Kunden,
- die Vorfinanzierung der Lagerhaltung.
„Es scheint so, dass viele Unternehmen durchaus bereit wären, nach den Erfahrungen in der aktuellen Krise für das zusätzliche Maß an Sicherheit auch mehr zu bezahlen.“
Klar ist: Profitable und schnell zahlende Kunden hat jedes Unternehmen gern. Diese sollten Sie entsprechend bevorzugt behandeln. Doch auch ein profitabler Kunde kann Schwierigkeiten verursachen, wenn er ausstehende Zahlungen auf die lange Bank schiebt. In Krisenzeiten gilt deshalb: Liquidität vor Profitabilität.
Die wichtigsten Kennzahlen
Das größte Risiko besteht zweifellos in einem Totalausfall eines Schuldners. Bei einer Insolvenz erhalten die Gläubiger bei unbesicherten Forderungen in der Regel nur eine einstellige prozentuale Quote, durchschnittlich 4 % der angemeldeten Forderung. Ein Rechenbeispiel macht die Tragweite deutlich: Bei einer Umsatzrentabilität von 5 % – wie beispielsweise im Automobilsektor üblich – muss der Gläubiger an anderer Stelle den 20-fachen Umsatz erzielen, um auch nur einen einzigen Forderungsausfall auszugleichen. Daher sollte es nach Möglichkeit gar nicht erst dazu kommen, dass einer Ihrer wichtigen Kunden komplett ausfällt. Folgende Kennzahlen helfen Ihnen, Rückschlüsse auf die wirtschaftliche Situation Ihrer Kunden zu ziehen:
- Operative Marge: Unternehmen mit notorisch niedrigen Gewinnmargen (Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen im Verhältnis zum Umsatz) sind krisenanfälliger.
- Krisensignalwert: Dieser Wert ist der Cashflow (vor Steuern, ohne außerordentliche Erträge) bezogen auf die Summe der Verbindlichkeiten. Je höher der Wert, desto besser kann sich das Unternehmen auf sein operatives Geschäft stützen; man spricht von Entschuldungsfähigkeit.
- Liquidität ersten Grades: Dies sind die Zahlungsmittel im Verhältnis zum kurzfristigen Fremdkapital. Der Wert gibt an, wie gut kurzfristige Verpflichtungen aus vorhandener Liquidität bedient werden können.
- Liquidität zweiten Grades: Dies sind die Zahlungsmittel plus kurzfristige Forderungen im Verhältnis zum kurzfristigen Fremdkapital. Liegt die Kennzahl unter 1, so kann das Unternehmen selbst bei Eintreibung all seiner Außenstände seinen kurzfristigen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.
- Eigenkapitalquote: Sie ist das Eigenkapital bezogen auf die Bilanzsumme. Je höher die Eigenkapitalquote, desto unabhängiger ist das Unternehmen von Fremdkapitalgebern. Eigenkapital kann operative Verluste absorbieren und das Insolvenzrisiko reduzieren.
Länderrisiken
Entgegen landläufiger Meinung beruhen die Entschädigungsleistungen der Kreditversicherer nicht in erster Linie auf der Insolvenz von Schuldnern, sondern vielmehr auf länderspezifischen Risikofaktoren. Ein wichtiges politisches Länderrisiko ist z. B. die Beschränkung eigentumsbezogener Verfügungsrechte, etwa wenn Unternehmensvermögen beschlagnahmt werden kann. Nicht jedes Land verfügt über demokratische Strukturen und damit über das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Vertragstreue bedeutet auch, dass Zusagen staatlicher Stellen nicht gebrochen werden. So haben Länderrisiken durchaus gravierenden Einfluss auf das Ausfallrisiko eines Kunden, u. a. durch
- die binnenwirtschaftliche Stabilität (Geldpolitik, Infrastruktur usw.),
- die außenwirtschaftliche Stabilität (Verschuldung, Handelsbilanz usw.),
- die innenpolitische Stabilität (politische Führung, innere Ordnung usw.),
- die außenpolitische Stabilität (z. B. Gefahr militärischer Konflikte) sowie
- die soziokulturelle Stabilität (z. B. Einstellung gegenüber Ausländern bzw. ausländischen Unternehmen).
„Ein manuelles Debitorenrating ist besser als gar keins.“
Früher waren die so genannten Hermesdeckungen (Exportgarantien durch die Bundesrepublik Deutschland) die einzige Möglichkeit für deutsche Unternehmen, Länderrisiken adäquat abzusichern. Heute übernehmen das auch private Kreditversicherer.
Die Organisation des Debitorenmanagements
Ein ausgefeiltes Working-Capital-Management – und damit ein verlässliches Debitorenmanagement – fällt keinem Unternehmen in den Schoß. Auslöser für die Einführung ist häufig die Einsicht, dass man von einer statischen (zeitpunktbezogenen) Bonitätsbetrachtung der Kunden zu einer dynamischen übergehen muss. Ein solches Monitoring hilft, Veränderungen frühzeitig zu erkennen, diese zu bewerten und angemessene Maßnahmen einzuleiten bzw. vorzuschlagen. Die Informationsbeschaffung sollte automatisiert und die Bewertung objektiv und standardisiert erfolgen. Folgende Überlegungen müssen Sie im Vorfeld anstellen:
- Grundsatzfrage: Was genau wollen wir erreichen?
- Organisation: Wer macht was, wo und wie?
- Konditionen: Wer darf was und bei wem?
- Fälligkeiten: Wann wird was fällig, wie und bei wem?
- Bonitätsprüfung: Wer prüft, wann wird geprüft und wie?
- Entscheidungen: Wer entscheidet und bis zu welcher Höhe?
- Überwachung: Wer kontrolliert was und wie?
- Forderungseinzug: Wer kassiert wann und auf welche Weise?
„In Krisensituationen gilt: Liquidität vor Rentabilität!“
Die Informationsbeschaffung kann sämtliche verfügbaren Ressourcen wie Handels- und Bankauskünfte, Grundbuchauszüge und Bilanzen umfassen und muss unbedingt von Ihrer Kreditmanagementabteilung aus erfolgen. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass dabei Zielkonflikte mit Ihrem Vertrieb entstehen. Der nämlich möchte vor allem verkaufen, während Ihre Finanzabteilung sich ggf. später mit zahlungssäumigen Kunden herumschlagen muss. Daher müssen die Entscheidungen, ob und wie mit einem Kunden Geschäfte gemacht wird, objektiv getroffen werden. Sie dürfen Ihrem Vertrieb keinen Ermessensspielraum nach Augenmaß und Bauchgefühl einräumen.
Ratingskala von O. k. bis K. o.
Ihre Bonitätsskala kann auf Ihrer eigenen Schuldnerbewertung beruhen, oder Sie stützen sich auf vorhandene Ratings von Moody’s, Coface usw. Deren Ratingklassen reichen beispielsweise von AAA (höchste Bonität) bis C (niedrigste Bonität bzw. stark ausfallgefährdet), mit zahlreichen Abstufungen wie AA, BA usw. Für jede dieser Ratingklassen liegen historische Ausfallquoten vor, sodass Sie einen Zahlungsausfall des Kunden X mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit beziffern können. Alternativ dazu können Sie Ihr eigenes Bewertungssystem zusammenstellen, indem Sie Daten wie Branche, Unternehmensalter, Zahlungsweise, Rechtsform usw. heranziehen und gewichten. So kommen Sie zu einer Punkteskala, die beispielsweise von „Geschäftsbeziehung ausweiten“ über „Vorauskasse anfordern“ bis hin zum K.-o.-Kriterium (insolvenzgefährdet) reichen kann.
Fair geht nicht vor in Krisenzeiten
Ein Thema, mit dem sich viele Zulieferer im Zuge der Wirtschaftskrise befassen mussten, waren Inanspruchnahmen von Vertragsgarantien. Diese sind besonders im Großanlagenbau üblich und bei staatlichen Abnehmern sogar zwingend. Garantien gehören also unbedingt in die Risikomatrix, wenn Sie Ihr Debitorenrating zusammenstellen. Ein Kunde in wirtschaftlichen Schwierigkeiten wird eher mal geneigt sein, eine willkürliche oder unfaire Inanspruchnahme einer Garantieleistung zu probieren – deren Rechtmäßigkeit festzustellen kostet zunächst Zeit. Besonders hoch sind die Risiken, wenn Sie maßgeschneiderte Produkte herstellen oder Dienstleistungen anbieten, die jeweils auf einzelne Kunden zugeschnitten sind. Dann können willkürliche Garantiefälle ein echtes Problem für Ihr Unternehmen werden. Dem begegnen Sie im Debitorenmanagement mit entsprechenden Risikoaufschlägen bei der Bewertung solcher Kunden.
Gute Kunden sucht das Land
Die Finanz- und die Wirtschaftskrise haben eindrucksvoll gezeigt, welchen Wert ein verlässliches Debitorenrating hat. Unternehmen sind bereit, für valide Ratings mehr zu bezahlen, können sie im Ernstfall doch den Unterschied zwischen eigener Solvenz oder Insolvenz ausmachen. Während herkömmliche Ratingsysteme hauptsächlich die Vergangenheit im Blick haben, berücksichtigen neuere Ratingprognosesysteme alle denkbaren möglichen Risikoszenarien eines Unternehmens, um bei einer drohenden Überschuldung möglichst frühzeitig Alarm zu schlagen. Für betroffene Unternehmen heißt dies, dass sie für eine Geschäftsanbahnung höhere Preise werden berappen müssen. Das optimale Kreditrisikomanagement setzt an zwei Werttreibern an, nämlich einerseits am Risiko (das Sie sich entsprechend vergelten lassen sollten) und andererseits an den erwarteten Erträgen – gute Kunden sollten Sie entsprechend zuvorkommend behandeln.