Die Strudlhofstiege

Buch Die Strudlhofstiege

oder Melzer und die Tiefe der Jahre

München, 1951
Diese Ausgabe: dtv,


Worum es geht

Ein Wiener Wel­tenkos­mos

Die Strudl­hof­stiege ist eine Treppen- und Brun­nenan­lage im 9. Wiener Bezirk. In Doderers Roman, der in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg spielt, ist sie der Nabel der Welt – oder zumindest der Nabel Wiens. Hier spielt eine der Schlüsselszenen, hier begegnen sich die zahlreichen Figuren immer wieder; die meisten von ihnen wohnen in der Umgebung. Viele sind in wechselnden und sich überkreuzen­den Kon­stel­la­tio­nen und Liebeleien miteinander verbunden. Im Zentrum stehen drei Geschwister der Familie Stangeler sowie der junge Major Melzer. Der monumentale Roman (über 900 Seiten) zeichnet sich durch eine üppige, auss­chweifende Sprache aus, hat aber keine Handlung im kon­ven­tionellen Sinn. Die Strudl­hof­stiege ist vielmehr ein Reigen um heimliche Lieb­schaften und unglückliche Ehen. Die eigentliche Heldin des Romans ist die Stadt Wien, in der sich die ganze Großartigkeit und Tragik des 1918 un­terge­gan­genen Kaiser­staats verdichtet.

Take-aways

  • Die Strudl­hof­stiege ist das bekannteste Werk des Wiener Autors Heimito von Doderer.
  • Inhalt: Kaum berührt von dem Epoch­enein­schnitt des Ersten Weltkriegs führt ein Kreis von Verwandten und Bekannten rund um die großbürgerliche Familie Stangeler ein Leben, das von zahlreichen Lieb­schaften und Ehebrüchen geprägt ist. Der Kreuzungspunkt der vielfach verknüpften Schicksale ist die Strudl­hof­stiege im 9. Wiener Bezirk.
  • Die zeitlichen Hand­lungss­chw­er­punkte liegen in den Sommern 1911 und 1925, die durch Vor- und Rückblenden sehr eng zusammengerückt werden.
  • Die Zeit­er­fahrung spielt im Roman eine wichtige Rolle. Das Auf- und Absteigen auf der Treppe kann als Symbol für das In­einan­der­fließen der Zeiten in­ter­pretiert werden.
  • Die Strudl­hof­stiege hat keine eindeutige Hauptfigur und keine durchge­hende Handlung.
  • Die diskon­tinuier­liche Erzählweise ist ein Merkmal der lit­er­arischen Moderne.
  • Doderer schrieb das Buch während und kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter ent­behrungsre­ichen Bedingungen.
  • Doderers stim­mungsvolle, ironische Erzählweise steht im Kontrast zu der sonst meist nüchternen Nachkriegslit­er­atur.
  • Die Strudl­hof­stiege machte Doderer zum anerkannten Repräsentanten der öster­re­ichis­chen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg.
  • Zitat: „Hier schien ihm eine der Bühnen des Lebens aufgeschla­gen, auf welchen er eine Rolle nach seinem Geschmacke zu spielen sich sehnte, und während er die Treppen und Rampen hinabsah, erlebte er schnell und zuinnerst schon einen Auftritt, der sich hier vollziehen könnte, einen entschei­den­den natürlich, ein Herab- und Her­auf­steigen und Begegnen in der Mitte, durchaus opernhaft.“
 

Zusammenfassung

Der Sommer 1923

Frau Mary K. erwartet an einem Spätsom­mer­nach­mit­tag des Jahres 1923 ihren Gatten Oskar. Das prächtige Wetter erinnert sie an Som­mer­fe­rien in Ischl, ungefähr 15 Jahre zuvor, als ihr der stets korrekte Leutnant Melzer den Hof machte. Melzer erschien ihr damals zu langweilig, und kurz darauf heiratete sie Oskar, der sie an der Strudl­hof­stiege zum ersten Mal geküsst hatte. Heute wohnen die K.s und Melzer in der gleichen Nach­barschaft, ohne voneinander zu wissen.

„Wie beim Militär, wo man nicht einfach irgendwohin geht, sondern einfach irgendwohin kommt, ist Melzer, als der Zusam­men­bruch von 1918 die militärische Laufbahn unseres damaligen Majors beendet hatte (...) zur öster­re­ichis­chen Tabakregie ‚gekommen‘, und zwar als Amtsrat und nicht als Inhaber einer Trafik, denn darauf hatten nur völlig invalide Offiziere Anspruch.“ (S. 86)

Mary ist mit der Recht­san­walt­stochter Grete Sieben­schein befreundet. Diese fragt Mary bezüglich ihres Verehrers René Stangeler um Rat. Als junge Frau hat Grete eine Weile als Un­ter­hal­tungspi­anistin in Norwegen gelebt. In dieser Zeit hatte sie zahlreiche Affären. Nun arbeitet sie in der Kanzlei ihres Vaters und ist seit zwei Jahren mit René liiert. René hat mit einem Philoso­phi­es­tudium begonnen, nachdem er 1920 aus russischer Kriegs­ge­fan­gen­schaft zurückgekehrt ist. Sein Kriegskam­erad E. P. war der frühere Freund von Grete, inzwischen arbeitet er bei einer Bank. Er und seine Frau sind Melzers Nachbarn und mit diesem befreundet. Grete und René bleiben liiert, aber René kann sich nicht zu einer Heirat entschließen.

Melzer und die Geschwister Stangeler

Leutnant Melzer zählt zum großen Fre­un­deskreis der Geschwister Stangeler. Melzer, stets zurückhaltend, ist durch und durch Soldat, ein Mensch, der sich keine eigenen Gedanken macht. Sein Vater war ebenfalls Offizier, seine Mutter eine Diplo­ma­ten­tochter. Als Mary K. ihm 1910 einen Korb gibt, reist der junge Leutnant zu seinem Sta­tion­ierung­sort in Bosnien ab. Dort lädt ihn Major Laska, den er sehr bewundert, zu einer Bärenjagd ein. Die Jagd und den Schuss auf den Bären erlebt Melzer als ungeheuer intensiven Moment. Großzügig überlässt Laska ihm das erbeutete Bärenfell. Laska stirbt im Krieg an einer Verwundung – in Melzers Armen. Das Bärenfell bleibt Melzers kostbarster Besitz. Im Krieg wird er zum Major befördert und findet später eine Beamten­stelle im staatlichen Tabakun­ternehmen, die er pflicht­be­wusst und tadellos bekleidet.

„Hier schien ihm eine der Bühnen des Lebens aufgeschla­gen, auf welchen er eine Rolle nach seinem Geschmacke zu spielen sich sehnte, und während er die Treppen und Rampen hinabsah, erlebte er schnell und zuinnerst schon einen Auftritt, der sich hier vollziehen könnte, einen entschei­den­den natürlich, ein Herab- und Her­auf­steigen und Begegnen in der Mitte, durchaus opernhaft.“ (über René und die Strudl­hof­stiege, S. 129)

René ist der jüngere Bruder von Asta und Etelka. Im Jahr 1911 geht er noch aufs Gymnasium. Der Vater der Geschwister Stangeler ist ein wohlhaben­der, viel beschäftigter Eisen­bah­nin­ge­nieur. In den Zimmern der Stan­geler-Schwest­ern, in der elterlichen Villa, treffen sich oft junge Leute; sie führen bei Kaffee- und Tabakgenuss philosophis­che Gespräche und lesen ori­en­tal­is­che Dichter. Diese Zimmer befinden sich in einer Art Anbau der Villa und werden „Quartier Latin“ genannt. Bei einem Spaziergang entdeckt René zufällig die Strudl­hof­stiege, die ihm wie eine Opernbühne vorkommt. Ganz unbefangen spricht er auf der Straße die etwa gle­ichal­trige Steno­typ­istin Paula Schachl an und lädt sie in eine nahe gelegene Konditorei ein. Paula macht sich lange Zeit Hoffnungen auf René, heiratet später aber den Druck­er­meis­ter Pichler.

„Er hatte, nach dem Überschre­iten der Schwelle zwischen dem Knaben- und Jünglingsalter, schon so etwas wie eine mech­a­nis­tis­che Sicherheit im Umgange mit weiblichen Wesen erlangt, mit welchen er übrigens im springenden Punkte nahezu vertraut war.“ (über René, S. 131)

Renés älteste Schwester Etelka ist sehr gebildet, anspruchsvoll und nervös. Als Minderjährige verlässt sie heimlich die elterliche Villa, stillt sie ihren Leben­shunger und begehrt gegen das häusliche Regiment auf, in dem höhere Töchter nach strengen An­stand­sregeln erzogen und behütet werden. Sie be­w­erk­stel­ligt das, indem sie im Speisez­im­mer in ein Abendkleid schlüpft, das sie samt Cape oder Pelz in einem Bowlekübel deponiert hat. Dann wandelt sie nachts durch Bars und Kneipen. Schon 1911 ist sie heimlich mit dem angehenden Konsul Stephan Grauermann verlobt, dem sie 1915 als Ehefrau nach Kon­stan­tinopel und später nach Budapest folgt. Dort lernt sie Robert Fraunholzer kennen, einen Kollegen ihres Gatten, mit dem sie eine langjährige Beziehung eingeht, die auch dann anhält, als Grauermann nach dem Krieg in Budapest stationiert wird und Fraunholzer in Belgrad. Fraunholzer seinerseits ist mit Lea Küffer verheiratet, und diese wiederum ist eine enge Freundin von Mary K.

Der Sommer 1911 in der Ferienvilla an der Rax

Die Stan­geler-Geschwis­ter laden etliche ihrer Freunde für ein paar Tage in die elterliche Ferienvilla im Gebirgs­mas­siv Rax ein, darunter Melzer, Ingrid Schmeller, Editha Pastré und den jungen polnischen Diplomaten Stephan von Semski, alles unter Aufsicht von Eltern und Di­en­st­per­sonal. Sowohl Asta als auch Editha haben ein Auge auf Semski geworfen. Melzer in­ter­essiert sich für Asta. Auf einer anspruchsvollen Berg­wan­derung zu viert sollen René und Editha zurückbleiben, damit Asta und Melzer für sich sein können. Sie tun dies auch, und Editha nutzt die Gelegenheit, um René zu verführen. Melzers Sehnsucht nach Asta hingegen bleibt unerfüllt.

Die große Szene an der Strudl­hof­stiege

Von der Rax aus folgt die ganze Gesellschaft für einen Augusttag einer Einladung zu einer Gartenparty in Döbling bei Oberbaurat Schmeller, Ingrids Vater. In einem Badezimmer im Obergeschoss der Schmeller-Villa trifft sich Ingrid heimlich mit Semski. Die eifersüchtige Editha Pastré beobachtet dieses Stelldichein, bei dem es nur zu einem Kuss kommt, und erzählt Vater Schmeller davon. Dieser ohrfeigt den ertappten Semski beim Her­ab­steigen aus dem Obergeschoss auf der großen Treppe und verweist ihn des Hauses.

„Melzer aber war nicht so geartet, dass er in die wirkliche Beschaf­fen­heit dieses Men­schenkreises hätte einsehen können, eines Kreises, an dessen Peripherie er als Fremdling siedelte, gegen dessen Mittelpunkt er sich angesaugt fühlte.“ (S. 306)

Ingrid flüchtet zu Asta in die Stan­geler-Villa. Dort wird ein Ab­schied­str­e­f­fen mit Semski an der Strudl­hof­stiege arrangiert. Ingrids Vater lauert ihr in einem Taxi vor der Stan­geler-Villa auf und folgt ihr bis zur Strudl­hof­stiege. Gle­ichzeitig trifft sich René in der nahe gelegenen Konditorei zu einem von Paula Schachl lange ersehnten Wiedersehen. Unverhofft kommt Stephan Grauermann hinzu, der Verlobte seiner Schwester Etelka. Während sie zu dritt plaudern, sieht René, wie Etelka draußen im offenen Fiaker mit Regierungsrat Guys vorbeifährt, der ebenfalls auf der Rax eingeladen war. Grauermann bemerkt es nicht. Die drei brechen auf und gehen Richtung Strudl­hof­stiege.

„Scheint irgendwann dahinter gekommen zu sein, dass bei ihm im Oberstübchen das Licht nicht gerade sehr hell brennt. Wenn das einer weiß (...) so kommt’s eigentlich schon wieder der Intelligenz gleich, und so einer verhält sich praktisch wie ein sehr In­tel­li­gen­ter (...)“ (Eulenfeld über Melzer, S. 644)

Dort ist inzwischen Ingrid in Begleitung von Asta und Melzer angelangt. Asta und Melzer lassen Ingrid und Semski kurz allein. Sie kommen just in dem Augenblick zurück, als auch René Stangeler, Paula und Grauermann unten an der Treppe eintreffen und oben Vater Schmeller mit dem Ruf „Ingrid, zu mir!“ seine Tochter abführt. Melzer bringt Asta noch nach Hause, doch mit seiner zurückhaltenden Art, schafft er es nicht, sie für sich zu gewinnen; er wird sie bis 1925 nicht wiedersehen. Asta heiratet später einen Baurat Haupt; aus der Ehe gehen zwei Kinder hervor.

Der Zerrüttmeister

Ein weiterer regelmäßiger Gast des „Quartier Latin“ und damit auch ein Bekannter Melzers ist der preußische Rittmeister von Eulenfeld, der in Wien jeden zu kennen scheint und stets viel trinkt und raucht. Wegen seiner wahllosen Frauen­bekan­ntschaften trägt er auch den Spitznamen „Zerrüttmeister“. Melzer sieht den umtriebigen, selb­st­be­wussten Eulenfeld als Vorbild und hält sich nach dem Krieg oft in dessen Umfeld auf, während er die Stangelers vernachlässigt. Eulenfelds hauptsächliche Geliebte ist Editha Pastré, die auf der Rax von dem damals sehr ju­gendlichen René entjungfert wurde und den Skandal auf der Strudl­hof­stiege angezettelt hat. Sie war zwis­chen­durch verheiratet und bahnt nun parallel zu ihrer Beziehung zu Eulenfeld eine Hochzeit mit dem Tabakgroßhändler Gustav Wedderkopp in Wiesbaden an. Für Wedderkopp meint sie sich auf ein Tabak-Schmuggelgeschäft einlassen zu müssen, aus dem aber nichts wird. Melzers guter Ruf beim staatlichen Tabakun­ternehmen wird dadurch beinahe in Mitlei­den­schaft gezogen. Melzer in­ter­essiert sich intensiver für Editha, und sie stellt ihm ein Stelldichein in Aussicht.

„Mary stand am Ufer dieses Sees von Verkehr, darin die rot-weiße Straßenbahn noch das beschei­den­ste war, die Fülle der Kraft­fahrzeuge aber am meisten Aufmerk­samkeit erforderte.“ (S. 831)

Editha und ihre Zwill­ingss­chwester Mimi sind die Töchter streng calvin­is­tis­cher und sehr vermögender Schweizer Eltern, die in Wien leben. Vor dieser Strenge floh Mimi schon früh und ver­heiratete sich in Buenos Aires mit dem Argentinier Enrique Scarlez. Während eines einjährigen Aufenthalts in Argentinien hatte auch Eulenfeld eine Beziehung mit Mimi. Im Frühjahr 1925 kehrt Mimi nach Wien zurück und nimmt die Stelle ihrer Schwester Editha ein, während diese sich Wedderkopp widmet.

August 1925

Eine enge Freundin von Paula Pichler, geborene Schachl, ist die 26-jährige Thea Rokitzer, die Tochter eines Schreib­warenhändlers in der Nähe der Strudl­hof­stiege. Die hübsche Thea ist eine Geliebte des Rittmeis­ters Eulenfeld, für ihn eine Art Betthupferl. Bei Eulenfeld hat die schüchterne Thea gele­gentlich Melzer angetroffen und sich heimlich in ihn verliebt. Paula und Melzer haben sich bisher nur einmal kurz gesehen: in jenem denkwürdigen skandalösen Moment an der Strudl­hof­stiege im Jahr 1911. Paula lebt mit Mann und Kind im Obergeschoss eines kleinen Häuschens im Stadtteil Liech­t­en­thal, ebenfalls im 9. Wiener Bezirk, aber gleichwohl in einer anderen Welt. Sie hält den Rittmeister für einen Schuft. Melzer lädt sie zu einem Nachmittag im erweiterten Fam­i­lienkreis ein, weil sie ihn näher kennen lernen will.

„Aber ein Schrecken packte ihn: fertig und nicht mehr rückgängig zu machen, rasch und groß vor ihm aufgewach­sen, stand seine Gemein­samkeit mit Thea: durchaus ein ‚Wir‘; und so hatte er mit ihr seine Wohnung betreten.“ (über Melzer, S. 850)

In der zweiten Augusthälfte des Jahres 1925 ist Robert Fraunholzer von Belgrad unterwegs nach Wien, um wegen Etelka Grauermann, geborene Stangeler, die Scheidung von seiner Frau Lea einzuleiten. Die Mutter der drei gemeinsamen Kinder hat in all den Jahren die Situation mit Etelka erduldet. Zunächst will Fraunholzer Etelka im Ferienort der Stangelers an der Rax treffen. Am Abend seiner Ankunft vergnügt sich Etelka mit ihrem gegenwärtigen Liebhaber Kurt von W. Fraunholzer überreicht daraufhin der ebenfalls anwesenden Asta einen Brief, mit der er seine Beziehung zu Etelka beendet. Er fährt schnurstracks zu seiner Frau Lea, um sich mit ihr zu versöhnen.

René Stangeler will die lange Zeit verreiste Grete Siebenschön am Westbahnhof abholen. Weil er seine Beziehung zu Grete so lange in der Schwebe gehalten hat, ist sie mit einem be­fre­un­de­ten Ehepaar monatelang durch Italien und Frankreich gereist. Am Bahnhof begegnet René zufällig Paula Pichler, die ihre Freundin Thea Rokitzer abholen will. Zu beider Überraschung entdecken sie dabei das Zwill­ingspaar, die Schwestern Pastré. Wenige Tage zuvor hat René wie vor 14 Jahren bei der Klettertour an der Rax mit Editha geschlafen – das glaubt er zumindest. In Wirk­lichkeit war es jedoch die Zwill­ingss­chwester Mimi. Editha hingegen kehrt nun nach monate­langem Zusam­men­sein mit Wedderkopp nach Wien zurück. Als René die Täuschung bewusst wird, treibt ihn das endgültig in die Arme von Grete Sieben­schein.

21. September 1925

Mary K. erfährt beiläufig von einem Bekannten, dass die Beziehung zwischen Etelka und Fraunholzer offenbar zu Ende ist. Alarmiert möchte sie die Neuigkeit so schnell wie möglich ihrer Freundin Lea überbringen, damit diese sich nicht gegen eine eventuelle Versöhnung sperrt. Mit Lea, die nur wenige Stunden auf Durchreise in Wien ist, arrangiert sie für den frühen Abend ein Treffen. Mary weiß, dass René vor Kurzem überstürzt zu seiner Schwester Etelka nach Budapest abgereist ist. Lea erwägt einen Zwis­chen­stopp bei dieser. Davon will Mary sie abbringen.

Editha erwartet Melzer am gleichen Abend zu einem Stelldichein. Vorher ist Melzer mit Thea Rokitzer und Paula Pichler am Donauufer verabredet. Dort will Paula die beiden allein lassen, damit es endlich zu der erhofften Annäherung kommt. Unterwegs trifft Melzer aber auf der Strudl­hof­stiege René Stangeler, der ihm mitteilt, dass seine Schwester Etelka sich in Budapest das Leben genommen hat. René ist eben auf dem Weg, Grete davon in Kenntnis zu setzen, die er aber erst um fünf Uhr treffen kann. Melzer lässt seine Verabredung mit Thea und Paula sausen und bleibt bei René, der ihm die genaueren Umstände vom Tod seiner Schwester schildert. Die letzten Worte auf einem Ab­schieds­brief Etelkas an ihren Mann lauteten: „Nimm dir eine Frau, wie du selbst bist.“

Melzer macht sich – verspätet – auf den Weg zu Editha. Unterwegs entdeckt er auf dem verkehrsre­ichen Althanplatz Mary K., die eilig zu ihrer Verabredung mit Lea unterwegs ist. Seit sie ihm vor 15 Jahren in Ischl einen Korb gegeben hat, hat er sie nicht mehr gesehen. Sie überquert die Straßen­bah­n­gleise und läuft unversehens in eine ankommende Bahn, sie wird überfahren und verliert ein Bein. Melzer stürzt herbei und leistet, im Nu von Blut durchtränkt, Erste Hilfe, indem er mit seinem Gürtel und seinem Spazier­stock das Bein abbindet. Jemand steht ihm bei. Es ist die von der Donaulände zurückkehrende Thea Rokitzer, die beherzt hilft, bis Ambulanz und Notarzt eintreffen. Dies ist der Moment, in dem Melzer erkennt, dass Thea für ihn die richtige Frau ist. Verlobungs- und Hochzeits­feier finden in Liech­t­en­thal statt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die Strudl­hof­stiege hat keine eindeutige Hauptfigur und keine durchge­hende Handlung; der Roman ist bewusst polyzen­trisch angelegt. Der ver­meintliche Fokus auf Melzer ist auf einen Wunsch des Verlags zurückzuführen: Kurz vor Erscheinen sollte der Titel gar um den Untertitel „Melzer und die Tiefe der Jahre“ erweitert werden. Das Buch ist in vier un­ter­schiedlich lange Teile gegliedert, die wiederum aus einer großen Anzahl szene­nar­tiger Abschnitte bestehen: der erste Teil aus 30 Abschnitten, der zweite aus 16, der dritte aus 33, der vierte aus 50.

Doderers Roman ist in einem – freilich sehr farbigen und hochlit­er­arischen – Berichtsstil geschrieben. Gele­gentlich wird der Leser direkt ange­sprochen. Es ist ein Bericht voller Vor- und Rückblenden, vor allem in den ersten beiden Teilen, in denen sich die zeitlichen Erzählschw­er­punkte, die Ereignisse in den Jahren 1911 und 1925, ständig überlappen.

In der Strudl­hof­stiege finden sich auffallend häufig musikalis­che Vergleiche und Bezüge, die auf Doderers Ken­ner­schaft schließen lassen. Auch Doderers Wortwahl und Sprache zeugt von großer Musikalität. Der Roman insgesamt lässt sich in seiner Gesamt­struk­tur mit einer großen, komplexen Symphonie vergleichen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Doderer beschreibt menschliche Ver­hal­tensweisen, wie sie sind und ohne zu werten. Er be- oder verurteilt seine Figuren nicht – Die Strudl­hof­stiege ist kein moralisches Drama.
  • Die epische Breite des Romans, der Verzicht auf das gewohnte Raum-Zeit-Kon­tin­uum einer Ro­man­hand­lung und das absichtslos er­scheinende Verhalten der Figuren betonen das Schick­sal­hafte des Geschehens, den kaum zu bee­in­flussenden Lauf des Lebens.
  • Die Strudl­hof­stiege, ein Trep­pen­bauw­erk im 9. Wiener Bezirk, das zwei Straßen miteinander verbindet, bildet den ruhenden Pol in den vielfach verschränkten Handlungsfäden des Romans.
  • Die Zeit­er­fahrung spielt in der Strudl­hof­stiege eine wichtige Rolle. Das Auf- und Absteigen auf der Treppe kann als Symbol für das In­einan­der­fließen der zeitlichen Hand­lungss­chw­er­punkte 1911 und 1925 gesehen werden. Erinnertes und Erlebtes ist hier gleichermaßen gegenwärtig. Die innere Kontinuität der beiden zeitlichen Hand­lungss­chw­er­punkte spiegelt sich auch in den Jahreszeiten: Beide Male werden Hochsommer und Spätsommer sprach­lich-at­mo­sphärisch intensiv beschworen und fließen so in eins. Auch die beiden his­torischen Epochen Kaiserzeit und Republik werden damit fugenlos verbunden.
  • Der lange Zeit völlig konturlose Melzer, ein Mann ohne Vornamen, praktisch ohne Herkunft und ohne Eigen­schaften, kommt erst gegen Ende zu einer selbstständigen Wirk­lichkeit­serken­nt­nis – und einer Erkenntnis seiner selbst. Doderer nennt dies Men­schw­er­dung.
  • Die Strudl­hof­stiege ist ein gattungsübergreifender Text: zugleich En­twick­lungs-, Familien-, Gesellschafts- und Liebesroman.

His­torischer Hintergrund

Die erste öster­re­ichis­che Republik

Der öster­re­ichis­che Kaiserstaat unter den Habsburgern war spätestens seit der er­fol­gre­ichen Abwehr der Türken 1683 eine von fünf europäischen Großmächten. Die Stadt Wien hatte eine enorme kulturelle Ausstrahlung und wurde für den Balkan und Ost­mit­teleu­ropa zu dem, was Versailles für Westeuropa war: eine prachtvolle Res­i­den­zs­tadt, die von der Barockzeit bis ins 19. Jahrhundert beständig an Glanz gewann.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wurde die k. u. k. Monarchie Öster­re­ich-Un­garn von den Siegermächten allerdings regelrecht zerlegt. Das reiche und kulturell blühende Böhmen und Mähren wurde mit der Slowakei zu dem Kunststaat Tsche­choslowakei zusam­mengeschlossen. Aus Serbien, Kroatien, Slowenien und weiteren Gebieten auf dem Balkan entstand das ebenso künstliche Königreich Jugoslawien. Ungarn verlor zwei Drittel seines Staats­ge­bi­ets, hauptsächlich an Rumänien. Das Südtirol ging an Italien. Gefragt, was Österreich denn nun sei, gab der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau seine berühmte zynische Antwort: „L’Autriche c’est ce qui reste“ – Österreich ist das, was übrig bleibt.

Wien und das öster­re­ichis­che Kernland waren damit von einem großen und wirtschaftlichen reichen Hinterland abgeschnit­ten. Der Anschluss an das Deutsche Reich, nach dem Krieg von vielen der Rumpfösterreicher favorisiert, war im Vertrag von St. Germain ausdrücklich verboten worden. Damit waren die Österreicher in ihrer großen Mehrheit unzufrieden. Die Erste Republik hatte quer durch alle Parteien noch weniger Freunde als die von rechten und linken Extremisten bedrohte Weimarer Republik. Auch in Österreich gab es eine Hy­per­in­fla­tion, die durch eine Währungsre­form beendet wurde: Die Krone wurde 1925 vom Schilling abgelöst.

Ex­trem­istis­che Propaganda, die die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dem „in­ter­na­tionalen jüdischen Fi­nanzkap­i­tal“ zuschrieb, fand breiten Widerhall, die öster­re­ichis­chen Na­tion­al­sozial­is­ten hatten viel Zulauf. Nach einer Pattsi­t­u­a­tion im Parlament errichtete Bun­deskan­zler Engelbert Dollfuß ab 1933 eine faschis­tis­che Diktatur nach ital­ienis­chem Vorbild. Zwar wurden sowohl die Kom­mu­nis­tis­che Partei als auch die NSDAP verboten, aber Adolf Hitler übte, ins­beson­dere nach Dollfuß’ Ermordung durch SS-Leute am 25. Juli 1934, so viel Druck aus, dass ihm Mitte März 1938 der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich gelang und er sich auf dem Wiener Heldenplatz bejubeln lassen konnte.

Entstehung

Seit seiner russischen Kriegs­ge­fan­gen­schaft als etwa 20-Jähriger hatte Heimito von Doderer den Wunsch, Schrift­steller zu werden. Er suchte, u. a. während eines längeren Aufenthalts in München, nach Pub­lika­tionsmöglichkeiten. Das bereits weit gediehene Ro­man­pro­jekt Die Dämonen blieb liegen, als er 1940 zur Wehrmacht eingezogen und in Südwest­frankre­ich in der Nähe von Biarritz stationiert wurde. Dort entstanden erste Aufze­ich­nun­gen als Erin­nerun­gen an Wien, ins­beson­dere an das Alser­grund-Vier­tel.

In den Jahren 1944–1946 weitete Doderer dieses Erin­nerungstage­buch zum Roman aus. Die ersten Teile entstanden noch im Krieg an wechselnden Ein­sat­zorten in ganz Europa. Den Rest schrieb er in einer Art Schaf­fen­srausch unter ärmlichsten materiellen Bedingungen, abgemagert und frierend, in Wien. Das Buch erschien 1951 in München.

Wirkungs­geschichte

Die Strudl­hof­stiege war Doderers erstes großes Werk und wurde ein Erfolg. Bei der Veröffentlichung war der Autor 55 Jahre alt. Doderer bekam viel Anerkennung und wurde endlich auch finanziell unabhängig. Im gleichen Jahr nahm er die Arbeit an den Dämonen wieder auf; der Roman erschien 1956 und ist noch um­fan­gre­icher als Die Strudl­hof­stiege. Doderer galt rasch als führender Vertreter, ja geradezu als Repräsentant der öster­re­ichis­chen Nachkriegslit­er­atur und sogar als Kandidat für den Nobelpreis.

Die Strudl­hof­stiege ist Doderers bekan­ntestes Buch geblieben. Mit seiner üppigen Sprache – typisch auch für andere Texte Doderers – zählt es allerdings nicht zum Mainstream der deutschsprachi­gen Nachkriegslit­er­atur mit ihrer nüchterneren, sprachlich eher einfachen Erzählweise. Einen direkten lit­er­arischen Nachfolger Doderers gibt es deshalb nicht. Die Strudl­hof­stiege wurde Vorlage eines Fernsehmehrteil­ers sowie einer ebenfalls mehrteili­gen Rund­funk­fas­sung. Gele­gentlich begehen literarisch gebildete Wien­touris­ten die Schauplätze von Doderers Roman im Alser­grund-Vier­tel.

Über den Autor

Heimito von Doderer wird am 5. September 1896 als sechstes Kind eines öster­re­ichis­chen Architekten und Eisen­bah­nin­ge­nieurs geboren. Nach der Matura im Sommer 1914 geht Doderer 1915 als Frei­williger zur Armee und gerät im Jahr darauf in russische Kriegs­ge­fan­gen­schaft. In Sibirien erwachen seine lit­er­arischen Interessen und er hat Zeit, sie zu entwickeln. Wegen der Wirren des russischen Bürgerkriegs müssen die Kriegs­ge­fan­genen Jahre warten, bis sie wieder nach Hause können; Doderer erreicht Wien 1920. Nach seiner Heimkehr studiert er Geschichte und schließt 1925 mit der Promotion ab. Seine ältere Schwester Helga begeht 1927 in Budapest Selbstmord. Die Doderers gehören nach dem Ersten Weltkrieg zu den Kriegsver­lier­ern. Sie sind wie viele Österreicher an­ti­demokratisch gesinnt und haben als ursprünglich Deutschstämmige kein Problem mit dem aus dem Deutschen Reich auf Österreich ein­wirk­enden Na­tion­al­sozial­is­mus. Heimito von Doderer wird 1933 Mitglied der damals verbotenen NSDAP, distanziert sich jedoch in den Folgejahren von den Nazis. In den 1930er Jahren lebt er eine Zeit lang in München, um Anschluss an lit­er­arische Kreise zu finden. 1938 erscheint sein Roman Ein Mord, den jeder begeht. 1940 konvertiert er zum Katholizis­mus und nimmt am Zweiten Weltkrieg teil, vorwiegend als Etap­penof­fizier. Während des Krieges arbeitet er am Roman Die Strudl­hof­stiege, den er 1948 beendet. Er erscheint 1951 und macht Doderer schlagartig bekannt. Der inzwischen 55-jährige Autor gilt nunmehr als Repräsentant der öster­re­ichis­chen Nachkriegslit­er­atur, erhält zahlreiche Ausze­ich­nun­gen, darunter 1957 den Großen Öster­re­ichis­che Staatspreis für Literatur, und kann weiterhin erfolgreich publizieren. Doderer heiratet zweimal. Er stirbt am 23. Dezember 1966 in Wien.