Soziale Marktwirtschaft – ein neoliberales Konzept
Die Finanzkrise, die 2007 begann, hat eine fundamentale Systemdebatte ausgelöst, in der Kapitalismus, Neoliberalismus und Privatisierungspolitik oft als Feindbilder dienen. In Deutschland wird immer wieder die soziale Marktwirtschaft als Modell ins Feld geführt – Marktwirtschaft „made in Germany“. Dieses Schlagwort ist nicht unbedingt hilfreich, der Begriff ist allzu schwammig. Es gibt zu viele Erklärungsversuche, was genau darunter zu verstehen ist. Diese Dehnbarkeit hat zwar zur Popularität des Begriffs beigetragen, aber wenn Ihnen jemand die soziale Marktwirtschaft als Gegenentwurf zum ungezügelten US-Kapitalismus und Neoliberalismus verkaufen will, sollten Sie stutzig werden. Denn bei der sozialen Marktwirtschaft handelt es sich – Überraschung – um ein neoliberales Konzept.
Was ist Neoliberalismus?
Hinter dem Begriff „Neoliberalismus“ verbirgt sich nach Ansicht vieler nichts als Verantwortungslosigkeit und soziale Kälte. Eine herzlose Ellenbogengesellschaft. Doch der Neoliberalismus hat viele Facetten; er reicht von den Lehren der Chicago School bis zu Ideen von Libertären und Anarchokapitalisten. Nur Letztere dürften dem verbreiteten Klischee der Neoliberalen entsprechen: als Zeitgenossen, die blind an die Überlegenheit des Marktes glauben, während sie den Staat für einen steten Quell des Übels halten. Das gilt aber nicht für die wahren Neoliberalen und Ordoliberalen. Diese sind vielmehr daran zu erkennen, dass sie der Wirtschaft einen gesellschaftlichen Ordnungsrahmen geben wollen. Sie stehen gerade nicht für Laissez-faire. Das zeigt der Blick in ihre Geschichte.
Die Sinnkrise des Liberalismus
Der klassische Liberalismus steckte in den 1930er Jahren in einer Sinnkrise. Die Große Depression widerlegte das liberale Mantra, nach dem der Markt alles richten werde. Kollektive Strategien, die die Freiheitsrechte des Einzelnen beschnitten, waren in vielen Ländern die Antwort auf die Weltwirtschaftskrise. Totalitäre Ideen wie Faschismus, Nationalsozialismus oder Bolschewismus waren auf dem Vormarsch. Anderswo erhielten sozialistische Bewegungen Zulauf. Selbst in den USA wurde der Kollektivismus in Form des New Deal, mit dem der Staat auf breiter Front die Wirtschaft ankurbelte, salonfähig.
„Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft ist ein neoliberales Konzept.“
Am Colloque Walter Lippmann 1938 in Paris diskutierten Liberale die Forderung des US-Publizisten Walter Lippmann, den Liberalismus zu erneuern. Die 26 Teilnehmer nannten sich fortan Neoliberale. Was sie einte, war erstens die Furcht vor antiliberalen, unfreien Gesellschaftsordnungen und zweitens die – für Liberale bis dahin ungewöhnliche – wichtige Rolle, die sie dem Staat zudachten. Sie suchten einen dritten Weg zwischen Laissez-faire und Planwirtschaft. Der Staat sollte sich nach Ihrer Ansicht von Lobbyisten befreien, die nicht das Allgemeinwohl, sondern die Interessen bestimmter Gruppen vertraten, und aktive Wettbewerbspolitik betreiben, also gegen Monopole und Kartelle vorgehen. Die klassische liberale Betonung der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Einzelnen wollten die Neoliberalen der ersten Stunde durch Haftungsregeln ergänzt sehen. Ihre damaligen Debatten haben bis heute nichts an Aktualität verloren.
Keimzelle Freiburg
Die deutsche Variante des Neoliberalismus heißt Ordoliberalismus. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts fanden sich an der Universität Freiburg lehrende Ökonomen und Juristen zusammen, die in den 40er Jahren ein Konzept für eine Nachkriegsordnung entwarfen. Dazu gehörten Walter Eucken, Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth. Außerhalb Freiburgs wirkten u. a. Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow und Alfred Müller-Armack – der Schöpfer des Begriffs „soziale Marktwirtschaft“ – mit. Die maßgeblichen Köpfe waren christlich motiviert und im akademischen Widerstand gegen das NS-Regime aktiv. Das erklärt den moralisch argumentierenden und pathetisch klingenden Ton in vielen ihrer Schriften. Sie entwickelten das Konzept einer sozialen Marktwirtschaft, das Demokratie, Bürgergesellschaft und Marktwirtschaft beinhaltet und individuelle Freiheit mit Solidarität und Gerechtigkeit verbindet.
Grundannahmen der Neo- und Ordoliberalen
Die Überzeugung der Neoliberalen, dass die persönliche Freiheit des Einzelnen die Grundlage einer Gesellschaftsordnung sein sollte, speist sich aus religiösen und philosophischen Quellen. Laut Immanuel Kant darf ein Mensch für andere Menschen nie ein Mittel zum Zweck sein – er ist ein Zweck an sich. Über alles, was ein Mensch selbst regeln kann, sollte er darum selbst entscheiden.
„Man muss sich von der allzu schlichten und irrigen Vorstellung lösen, der Neoliberale sei ein unangenehmer Mensch, ein herzloser, unsolidarischer Eigenbrötler, dem die Effizienz des Marktes mehr bedeutet als die Seelenwärme, für die der Sozialstaat sorgt.“
Diese Freiheit hat allerdings Schranken: Was einer tut, kann andere beeinträchtigen. Damit die Einzelnen ihre Kräfte harmonisch entfalten können und Konflikte nicht durch das Recht des Stärkeren gelöst werden, setzt der Staat die Regeln. In der Ausdrucksweise der Ordoliberalen betreibt der Staat „Ordnungspolitik“. Er legt die Spielregeln fest, die Spielergebnisse sind dann Sache der Marktteilnehmer. So genannte Prozesspolitik hingegen begnügt sich nicht mit dieser bescheidenen Rolle des Staates. Sie will im Detail steuern, bis hin zum Einzelfall. Das lehnen Ordoliberale ab, weil sie glauben, dass der Staat dazu gar nicht fähig ist. Vielmehr verberge sich hinter solchem Bestreben eine „Anmaßung von Wissen“, so Friedrich August von Hayek.
„Übermäßige staatliche Macht ist stets ein Übel – denn eine totalitäre Planwirtschaft, wie sie der Nationalsozialismus ebenso mit sich gebracht hat wie später der real existierende Sozialismus der DDR, führt die Menschen auf Abwege.“
Die Freiheit des Einzelnen soll also nicht zulasten anderer gehen. Das wichtigste Instrument, um dies sicherzustellen, ist für Neoliberale der Wettbewerb. Wettbewerb entmachtet – auch wenn jeder Unternehmer oder Politiker noch so gern ein Monopol hätte. Davon profitieren die Kunden: Sie entscheiden letztlich, was produziert wird. Hier spricht man von Konsumentensouveränität, häufig ausgedrückt im Slogan: „Der Kunde ist König.“ Der Wettbewerb sorgt außerdem dafür, dass sich effiziente Methoden, Innovationen und Leistung durchsetzen.
„Die kollektiven Veranstaltungen ‚Wirtschaft‘ und ‚Staat‘ haben an sich keinerlei Eigenwert.“
Elementar für diese Lehre ist die Annahme, dass die Interessen der Menschen am besten auf Märkten – nicht in Amtsstuben oder Hinterzimmern – zum Ausgleich gebracht werden. Der Tauschhandel sorgt dafür, dass egoistisch motivierte Individuen, ohne es zu beabsichtigen, so vorgehen, dass es anderen dient – z. B. indem der Bäcker zu unchristlicher Zeit aufsteht, um für seine Mitbürger Brötchen zu backen. Die nützliche Lenkung der wirtschaftlichen Aktivitäten durch eine „unsichtbare Hand“ hat zuerst der schottische Ökonom Adam Smith beschrieben.
Walter Euckens zeitlose Prinzipien
Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft sind die konstituierenden und die regulierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung, die Walter Eucken geprägt hat. Wer Wettbewerb befürwortet, ist für freien Marktzutritt – und zwar national wie international. Neue in- und ausländische Konkurrenten dürfen also in den Märkten der Platzhirsche wildern, auch wenn es diesen nicht passt. Darum ist Vertragsfreiheit wichtig: Jeder wird freiwillig handelseinig, mit wem er möchte. Die Gewähr von Privateigentum garantiert, dass der Einzelne auch ernten kann, was er sät. Richtet er dagegen Schaden an, dann haftet er. Beides führt zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Ressourcen.
„Das für Politiker offenbar unwiderstehlich süße Gift des Mindestlohns bedeutet eine Gefährdung der sozialen Marktwirtschaft.“
Preise müssen frei sein. Ihr Schwanken signalisiert Knappheit oder ein Überangebot und führt zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage. In der Planwirtschaft sind riesige Behörden nötig, nur um die Produktion leidlich zu steuern. In der viel effizienteren Marktwirtschaft reicht dafür ein freies Preissystem. Gesetzlich festgelegte Preise (Höchst- oder Mindestpreise) verzerren dieses Preissystem, ebenso wie die Geldentwertung (Inflation). Eine unabhängige Zentralbank soll deshalb darüber wachen, dass der Geldwert stabil bleibt.
Der Staat darf – und muss – eingreifen
Damit all diese Prinzipien Früchte tragen können, darf die Politik nicht plötzlich umsatteln, sondern muss konstant bleiben. Eine Hü-und-hott-Politik, z. B. durch das Geben und Nehmen von Subventionen, verbreitet Unsicherheit. Es gibt aber durchaus zulässige staatliche Eingriffe. Die staatliche Wettbewerbspolitik soll den Wettbewerb sichern. Einkommensumverteilung ist – in Maßen – ebenfalls systemkonform. Sie ist wie eine Versicherung gegen die Not- und Zufälle des Lebens, z. B. bei Arbeitslosigkeit. Würde mit der Umverteilung allerdings die Gleichheit aller Einkommen angestrebt, gäbe es keine Leistungsanreize mehr. Der Staat sollte außerdem dafür sorgen, dass jeder für alles bezahlt, was er verursacht – für so genannte „externe Effekte“. Ein Beispiel dafür ist die Umweltverschmutzung. Durch eine Ökosteuer oder gesetzliche Auflagen wird der Verursacher zur Vermeidung von Schäden oder zum Begleichen der Rechnung gedrängt.
Siegeszug im Wirtschaftswunder
Unter Wirtschaftsminister Ludwig Erhard wurde das Konzept der sozialen Marktwirtschaft Schritt für Schritt umgesetzt. 1948 nutzte er die Währungsreform, um die Preise der meisten Waren freizugeben. 1958 folgte mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen das Verbot von Kartellen, das Erhard gegen den Widerstand der Unternehmerverbände durchsetzte. Dass ein Konzept aus der Schublade tatsächlich von der Politik umgesetzt wurde, lag vor allem an der historisch und ökonomisch einmaligen Situation: Im Elend Nachkriegsdeutschlands waren alle mehr oder weniger gleich. Niemand konnte auf Basis seiner Besitzstände seine künftige Position in der Gesellschaft voraussehen – und damit auch nicht abschätzen, ob das neue System ihm nutzen oder schaden würde. Zwar kam es nach Preisanstiegen 1948 zu Demonstrationen und Streiks. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung stieg die Zustimmung zum System allerdings rasch.
„Damit möglichst alle Länder der Welt von der Globalisierung profitieren, wäre ein internationaler Ordnungsrahmen hilfreich: ein Satz von guten Spielregeln, der dafür sorgt, dass die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft überall Anwendung finden.“
Warum aber löst der Begriff „Neoliberalismus“ heute negative Assoziationen aus? In den 1970er Jahren holte der chilenische Diktator Augusto Pinochet Ökonomen der Chicago School um Milton Friedman ins Land, um die Wirtschaftspolitik zu gestalten. Zwar gilt das kapitalgedeckte chilenische Rentensystem bis heute als vorbildlich. Dass aber eine Verbindung von rechtsgerichteter Diktatur und ökonomischem Neoliberalismus möglich war, sorgte – zu Recht – für lebhafte Debatten.
Soziale Marktwirtschaft in Gefahr
Ob in der Sozial-, Konjunktur- oder Arbeitsmarktpolitik: Der politische Aktionismus hat im Lauf der Zeit zugenommen. Die abstrakten, allgemeingültigen Regeln des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft werden immer wieder verletzt, indem die Politik einzelfallbezogene Entscheidungen trifft. Das liegt an den kurzfristigen Eigeninteressen von Politik und Interessengruppen. Ein Symptom dafür ist die seit den 1950er Jahren ständig steigende Staatsquote, also der Anteil der Staatsausgaben an der Wirtschaftsleistung. Es ist zugegebenermaßen ein Drahtseilakt, sozialpolitisch motivierte Eingriffe in die Gesellschaft marktkonform zu gestalten. Am problematischsten sind Interventionen, die den Preismechanismus verzerren, etwa gesetzliche Mindestlöhne. Ist der festgelegte Lohn niedriger als der Marktlohn, ist er sinnlos. Ist er höher, werden weniger Stellen geschaffen.
„Die Welt muss neoliberaler werden!“
Bedroht ist unser Wirtschaftssystem derzeit von drei Trends. Erstens wird die Globalisierung, die in Teilen der Welt für einen nie gekannten Wohlstand gesorgt hat, von vielen beargwöhnt. Es ist nicht klar, ob es gelingt, Rufe nach nationaler Abschottung abzuwehren und den ordoliberalen Ordnungsrahmen auf die internationale Ebene auszuweiten. Zweitens droht die Gefahr, dass die wohlhabenden Industrieländer durch eine falsche internationale Klimapolitik ihre ökonomische Leistungsfähigkeit aufs Spiel setzen. Drittens sind unsere sozialen Sicherungssysteme nicht ausreichend auf den demografischen Wandel und jenen der Arbeitswelt zu mehr Flexibilität und zur Wissensgesellschaft vorbereitet.