Schwarmintelligenz

Buch Schwarmintelligenz

Wie einfache Regeln Großes möglich machen

Eichborn,


Rezension

Heuschrecken, Bienen, Ameisen und Fische haben eines gemeinsam: Sie bewegen sich in Schwärmen und werden von einer Intelligenz gesteuert, die nicht dem Individuum, sondern der Gruppe als Ganzes eigen ist. Len Fisher zeigt in seinem Buch, welchen Gesetzmäßigkeiten solche Formationen folgen. Dass der Mensch genau denselben Kräften unterworfen ist, wird in vielen an­schaulichen Beispielen deutlich: So lassen wir uns etwa auch im Verkehr oder im Un­ternehmen­sall­tag von der Schwarmintel­li­genz steuern. Einen wesentlichen Unterschied zu den Tieren gibt es allerdings: Wir sind in der Lage, diese Prozesse zu durch­schauen und sie für uns zu nutzen. Auf amüsante und kurzweilige Weise kombiniert Fisher bi­ol­o­gis­ches Fachwissen mit In­for­ma­tio­nen aus Mathematik, Wirtschaft und Soziologie. Dabei verliert er zwar zuweilen die titel­geben­den Schwärme etwas aus den Augen, etwa wenn er ausführlich über Strategien der Entschei­dungs­find­ung berichtet. Interessant sind diese Exkurse aber allemal. BooksInShort empfiehlt dieses Buch Führungskräften, Mei­n­ungs­mach­ern und allen, die sich mit Strate­giefra­gen beschäftigen.

Take-aways

  • Die Schwarmintel­li­genz ermöglicht einer Gruppe, Aufgaben zu bewältigen, die ein Einzelner nicht meistern könnte.
  • Schwärme und Men­schen­men­gen folgen drei Prinzipien: Abstoßung, Ausrichtung und Anziehung.
  • In Bienenschwärmen geben wenige Bienen als unsichtbare Führer die Richtung vor. Sie verhalten sich besonders entschlossen – und die anderen folgen ihnen.
  • Diese Methode funk­tion­iert auch in Unternehmen.
  • Experimente haben gezeigt, dass die Gruppe meist in­tel­li­gen­ter ist als die einzelnen Teilnehmer.
  • Dennoch sollten Sie sich dem Grup­pen­denken nicht komplett unterwerfen und eine eigene Meinung vertreten.
  • Schwarmintel­li­genz organisiert Gesellschaften und Unternehmen und hilft dabei, andere von seinen Ideen zu überzeugen.
  • Schwar­munternehmen geben Macht an ihre Stakeholder ab.
  • Die Gesetze des Schwarms lassen sich über soziale Netzwerke wie Facebook nutzen.
  • Auch unter Zeitdruck und mit begrenztem Wissen kann man gute Entschei­dun­gen fällen.
 

Zusammenfassung

Mit Schwarmintel­li­genz gegen das Chaos

Unsere Gesellschaft steht am Rande des Chaos, sagen Komplexitätsforscher. Doch keine Angst: Damit ist nicht gemeint, dass wir jeden Moment in der Anarchie versinken könnten. Vielmehr bedeutet es, dass Chaos und Ordnung in unserem Alltag zusam­men­spie­len. Fast jedes Chaos folgt einer Ordnung. Wenn Systeme am Rande des Chaos sind – was bei Menschen ebenso der Fall ist wie etwa bei Fischschwärmen –, ergibt sich die Ordnung aus den Regeln des Zusam­men­spiels einzelner Individuen. Es entstehen dynamische Muster, die die Gesellschaft prägen und auf ihre Mitglieder wirken. Die Lebensdauer dieser Muster kann sehr un­ter­schiedlich sein: Städte sind dauerhaft, eine Men­schen­menge im Fußballstadion dagegen löst sich nach dem Spiel auf.

„Die einzelnen Angehörigen eines Schwarms halten sich an einfache Regeln, mit deren Hilfe sie das Beste aus ihrem Grup­pen­da­sein machen.“

Ein am Rande des Chaos befind­liches System kann eines von zwei dynamischen Mustern annehmen: Entweder es dreht sich unaufhörlich im Kreis oder, was kon­struk­tiver ist, es reagiert auf Umweltveränderungen. Schafft eine Gruppe das, ist sie ein komplexes, anpassungsfähiges System. So kann z. B. das Klatschen der Besucher eines Fußball­sta­dions rhythmisch werden – dieser Rhythmus ist nicht mehr auf Individuen zurückzuführen, sondern ist eine spontan entstandene Eigenschaft der Gruppe. Eine der wichtigsten solchen Eigen­schaften ist die Schwarmintel­li­genz.

Die Regeln der Schwarmintel­li­genz

Die Schwarmintel­li­genz ermöglicht einer Gruppe, Aufgaben zu bewältigen, die ein Einzelner nicht meistern könnte. Vo­raus­set­zung ist, dass der Schwarm lernfähig ist und die Mitglieder un­tere­inan­der kom­mu­nizieren. Die Angehörigen der Gruppe müssen nur wenige einfache Regeln befolgen. Ein Fisch im Schwarm muss dem Fisch vor ihm folgen, sofern es einen gibt, und darf nur so schnell sein wie der Fisch neben ihm. Ähnlich gestalten sich die Regeln für Vogelschwärme und Men­schen­men­gen. Sie lauten konkret:

  1. Stoße nicht mit anderen zusammen.
  2. Bewege dich in die durch­schnit­tliche Richtung deiner Nachbarn.
  3. Befinde dich möglichst mittig zwischen deinen Nachbarn.
„Schwar­mver­hal­ten wird zu Schwarmintel­li­genz, wenn eine Gruppe eine Aufgabe im Kollektiv löst, die kein Angehöriger der Gruppe allein lösen könnte.“

Oder, in drei Worten: Abstoßung, Ausrichtung und Anziehung. Beobachten Sie z. B. eine Men­schen­menge am Flughafen, und Sie werden das Prinzip erkennen. Schwarmintel­li­genz kommt auch bei „Flashmobs“ zum Einsatz. Das sind Gruppen, die ihre Aktionen über Mo­bil­tele­fone und andere Kom­mu­nika­tion­skanäle ko­or­dinieren. Ein Anführer ist nicht sichtbar und die Gruppe organisiert sich selbst. Flashmobs können Präsidenten stürzen, wie auf den Philippinen geschehen. Im Jahr 2001 haben sich dort Protes­tanten per SMS verständigt. Auch die Unruhen 2005 in Frankreich und 2006 in Chile funk­tion­ierten so.

Unsichtbar führen

In Bienenschwärmen geben einige wenige Bienen die Richtung für alle vor. Sie wissen mehr als die anderen und haben ein klares Ziel vor Augen, etwa den leckeren Klee auf einer bestimmten Wiese. Es braucht nicht mehr als die Entschlossen­heit dieser wenigen, um die anderen Bienen an den Ort zu führen. Dieses Wissen lässt sich in Unternehmen umsetzen: Mit Schwarmintel­li­genz können Sie eine Gruppe unsichtbar leiten, wenn Sie ein konkretes Ziel verfolgen. Am besten führen Sie von innen heraus, mit einer Gruppe Gle­ich­gesin­nter. Achten Sie unbedingt darauf, dass die Außenstehenden das nicht merken. Gehen Sie ohne das geringste Zögern auf Ihr Ziel zu und vertrauen Sie auf die Schwar­mge­setze.

„Wenn zwei Menschenströme, die aus zwei Richtungen aufeinander zukommen, durch einen Engpass gehen müssen, dann or­gan­isieren sie sich so, dass sie das Nadelöhr möglichst effizient passieren.“

Um Energie zu sparen, markieren Ameisen mit Duftstoffen für ihre Artgenossen den kürzesten Weg zum Futter. Menschen verhalten sich auf der Suche nach Abkürzungen ähnlich. Man spricht hier von positiver Rückkopplung: Einer trampelt über die Wiese und hinterlässt eine Schneise, andere sehen sie und treten sie breiter. Bald nutzen immer mehr Menschen die Abkürzung. Aber Achtung: Nicht immer sind breit aus­ge­tretene Pfade die kürzesten. Es lohnt sich, nach eigenen Wegen zu suchen.

„Bei einer Schätzung erzielt die Gruppe als Ganze bessere Ergebnisse als die Mehrheit ihrer Mitglieder.“

Das Verhalten der Ameisen wurde auf Com­put­er­sim­u­la­tio­nen übertragen, deren Ergebnisse von Unternehmen genutzt werden. So erkannte z. B. der Kuri­er­di­enst UPS, dass die kürzeste Strecke nicht immer die schnellste ist. Da man, wenn man links abbiegt, meistens eine Gegen­fahrbahn überqueren muss, kam UPS zum Schluss, dass die Fahrer so oft wie möglich rechts abbiegen sollten. Mit dieser Methode sparte das Unternehmen innerhalb eines Jahres 14 Millionen Liter Benzin.

„Betrachten Sie mehrere Al­ter­na­tiven und entscheiden Sie sich für die erste, die Ihre Erwartungen übertrifft.“

Wenn Sie sehen, dass jemand etwas besser macht als Sie, dann ahmen Sie es nach! Vo­raus­set­zung dafür ist allerdings, dass Sie ähnliche Eigen­schaften wie Ihr Vorbild haben, sonst klappt es nicht. Wenn Sie andere von Ihren Ideen überzeugen möchten, bringen Sie die ver­schiede­nen Aspekte Ihres Themas regelmäßig zur Sprache, sodass Ihnen möglichst viele folgen. Sie brauchen nicht zuerst einen so genannten Mei­n­ungs­macher zu überzeugen. Wenn Ihre Idee oder Ihr Produkt gut genug ist, begeistern Sie die Leute auch so.

Schwar­munternehmen sind erfolgreich

Unternehmen, die sich die Schwarmintel­li­genz zunutze machen, un­ter­schei­den sich in drei Punkten von tra­di­tionellen Firmen:

  1. Sie stärken ihre Macht, indem sie den Stake­hold­ern mehr Einfluss geben. So arbeiten etwa eBay und Amazon. Sie bieten die In­fra­struk­tur und schlichten in Streitfällen. Den Rest optimieren Käufer und Verkäufer.
  2. Sie unterstützen den Schwarm und teilen mit ihm. Der Com­put­er­her­steller IBM stellt die Open-Source-Soft­ware Linux kostenlos zur Verfügung, obwohl er jährlich rund 100 Millionen Dollar in die Entwicklung steckt. Langfristig aber verkauft IBM mehr Geräte auf Linux-Basis.
  3. Ihnen ist das Wohl des Schwarms wichtigerer als der Profit.

Das beste Verhalten in der Masse

Eine Men­schen­menge hat sehr komplexe Strukturen. Diese bilden sich aus den physikalis­chen und sozialen Kräften zwischen den einzelnen Personen. Wie man sich in einer Menge am besten verhält, hängt davon ab, wie dicht sie ist. Achten Sie auf spontan entstehende Strukturen wie Fußgängerströme. Schwimmen Sie mit. Kommt es zur Massenpanik, verhalten Sie sich am besten so: Folgen Sie zu 60 % der Menge und suchen Sie in den übrigen 40 % nach eigenen Wegen. Am besten ist es natürlich, so eine Situation von vornherein zu vermeiden. Wer am Rand einer in Panik geratenden Men­schen­masse steht, sollte auf Abstand gehen und andere dazu bringen, dasselbe zu tun. So wird der Druck auf die Menschen, die bereits mittendrin stecken, geringer. Wenn Sie vor einer Gefahr gewarnt werden, überlegen Sie nicht lange, sondern handeln Sie sofort, bevor Sie überrannt werden.

Die Weisheit der Masse nutzen

Math­e­matiker haben die Intelligenz der Gruppe in Ex­per­i­menten belegt.

  1. Soll eine Gruppe von Menschen einen Wert schätzen, etwa die Zahl von Gummibärchen in einem Glas, dann erzielt die Gruppe als Ganzes immer ein besseres Ergebnis als die Mehrheit der einzelnen Mitglieder.
  2. Gibt es auf eine Frage nur eine richtige, aber mehrere mögliche Antworten, dann liegt die Gruppe mit ihrer Meinung fast immer richtig. Selbst, wenn nur wenige Menschen gut informiert sind, fällt die Antwort meist korrekt aus.
„Wählen Sie bei kom­plizierten Fahrten durch eine Stadt eine Route, auf der Sie öfter rechts als links abbiegen.“

Diese Grup­pen­in­tel­li­genz ist allerdings nur unter bestimmten Umständen hilfreich. Die einzelnen Mitglieder müssen selbstständig denken und unabhängig urteilen dürfen. Alle müssen dieselbe Frage beantworten und diese muss eine definitive, überprüfbare Antwort haben. Aber die Gruppe hat nicht immer Recht. Entziehen Sie sich dem Zwang des Grup­pen­denkens und bilden Sie sich eine klare Meinung, zu der Sie stehen. In Notfällen helfen Ihnen bestimmte Regeln bei Entschei­dun­gen: Setzen Sie Prioritäten oder stellen Sie klare Hand­lungsan­leitun­gen auf. Diese können sich auf Mengen oder den zeitlichen Aufwand beziehen. Beispiele: Ihre Firma kauft nur Firmen auf, die nicht mehr als 75 Mitarbeiter beschäftigen, oder Ihre Mitarbeiter arbeiten nicht länger als 18 Monate an einem Projekt. Setzen Sie nie alles auf eine Karte. Verteilen Sie Kraft und Geld gleichmäßig auf ver­schiedene Optionen.

„Gehen Sie einfach in die Richtung, in die Sie gehen wollen, und überlassen Sie den Rest den Gesetzen des Schwarms.“

Wer soziale Netzwerke aufbaut und pflegt, nutzt die Masse für sich. Bringen Sie sich ins Gespräch, per Mund­pro­pa­ganda, Facebook, SMS oder E-Mail. Je in­ter­es­san­ter die Nachricht, desto eher wird sie weit­ergegeben. Das Netzwerk wird umso stabiler, je mehr Verbindun­gen die Menschen un­tere­inan­der haben. Wenn Sie eine Person ken­nen­ler­nen möchten, suchen Sie den Kontakt zu jemandem, der ihr besonders nahesteht.

Richtig entscheiden

Kaufen oder verzichten, reden oder schweigen, gehen oder bleiben? Täglich müssen wir Entschei­dun­gen treffen. Doch die Bedingungen dafür sind ungünstig. Es fehlen Zeit und In­for­ma­tio­nen. Die Methode, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit gute Entschei­dun­gen treffen zu können, wird als Heuris­tik­bil­dung bezeichnet. Sie richtet sich nach einfachen Regeln aus Statistik und Wahrschein­lichkeit­srech­nung. Im Alltag wenden wir Heuristiken unbewusst bereits an; sie lässt sich aber auch ganz gezielt und damit noch effizienter nutzen:

  • Wieder­erken­nung: Wenn Sie zwischen zwei Möglichkeiten wählen müssen, aber nur eine der beiden kennen, dann entscheiden Sie sich für diese.
  • Abzählen: Notieren Sie alle Argumente für und gegen eine Entschei­dung. Entscheiden Sie sich dann für die Möglichkeit mit den meisten Pluspunkten.
  • Prioritäten setzen: Wenn Sie vor einer Entschei­dung stehen, ordnen Sie Ihre Kriterien nach Wichtigkeit. Fällen Sie die Entschei­dung aufgrund des obersten Kriteriums auf Ihrer Liste, in dem sich die beiden Al­ter­na­tiven un­ter­schei­den.
  • Nicht nach dem Besten suchen: Wenn Sie nach einer guten Lösung suchen, sei es bei einem Einkauf oder bei der Per­son­alauswahl, dann prüfen Sie nicht das ganze Angebot. Es reicht, sich 37 % der verfügbaren Möglichkeiten anzusehen, um zu einem zufrieden­stel­len­den Ergebnis zu kommen.
„Glauben Sie nicht, dass Zusammenhänge eine tiefere Bedeutung haben, es sei denn, Sie haben Beweise dafür.“

Zudem ist oft die Wahl, nichts zu tun, die beste. Wenn Sie mit einer Strategie gut fahren, dann bleiben Sie dabei. Ändern Sie sie erst, wenn sie keinen Erfolg mehr mit ihr haben.

Muster erkennen

Eine andere Methode, auch mit wenig Zeit und Wissen die richtigen Entschei­dun­gen zu treffen, ist die Suche nach Mustern. Wo es viele Daten gibt, gibt es auch Zusammenhänge zwischen ihnen. Das Benford’sche Gesetz macht eine Aussage darüber, mit welcher Wahrschein­lichkeit die Ziffern 1–9 jeweils am Anfang von Datensätzen aus dem wirklichen Leben stehen. Bei 30,1 % aller Fälle steht die Ziffer 1 am Anfang. Am seltensten befindet sich die Ziffer 8 an erster Stelle (5,1 %). Mithilfe dieses Wissens suchen Steuer­fah­n­der nach Bilanzfälschern oder kon­trol­lieren, ob die Daten medi­zinis­cher Un­ter­suchun­gen echt oder falsch sind. Auch Sie können mit dem Bendford’schen Gesetz prüfen, ob Ihnen vorliegende Daten echt sind.

Über den Autor

Len Fisher ist Physiker an der Universität Bristol und Mitglied der Royal Society of Chemistry. Er schreibt Kolumnen für den Guardian und ist für seine skurrilen Forschungsar­beiten bekannt.