Mit Schwarmintelligenz gegen das Chaos
Unsere Gesellschaft steht am Rande des Chaos, sagen Komplexitätsforscher. Doch keine Angst: Damit ist nicht gemeint, dass wir jeden Moment in der Anarchie versinken könnten. Vielmehr bedeutet es, dass Chaos und Ordnung in unserem Alltag zusammenspielen. Fast jedes Chaos folgt einer Ordnung. Wenn Systeme am Rande des Chaos sind – was bei Menschen ebenso der Fall ist wie etwa bei Fischschwärmen –, ergibt sich die Ordnung aus den Regeln des Zusammenspiels einzelner Individuen. Es entstehen dynamische Muster, die die Gesellschaft prägen und auf ihre Mitglieder wirken. Die Lebensdauer dieser Muster kann sehr unterschiedlich sein: Städte sind dauerhaft, eine Menschenmenge im Fußballstadion dagegen löst sich nach dem Spiel auf.
„Die einzelnen Angehörigen eines Schwarms halten sich an einfache Regeln, mit deren Hilfe sie das Beste aus ihrem Gruppendasein machen.“
Ein am Rande des Chaos befindliches System kann eines von zwei dynamischen Mustern annehmen: Entweder es dreht sich unaufhörlich im Kreis oder, was konstruktiver ist, es reagiert auf Umweltveränderungen. Schafft eine Gruppe das, ist sie ein komplexes, anpassungsfähiges System. So kann z. B. das Klatschen der Besucher eines Fußballstadions rhythmisch werden – dieser Rhythmus ist nicht mehr auf Individuen zurückzuführen, sondern ist eine spontan entstandene Eigenschaft der Gruppe. Eine der wichtigsten solchen Eigenschaften ist die Schwarmintelligenz.
Die Regeln der Schwarmintelligenz
Die Schwarmintelligenz ermöglicht einer Gruppe, Aufgaben zu bewältigen, die ein Einzelner nicht meistern könnte. Voraussetzung ist, dass der Schwarm lernfähig ist und die Mitglieder untereinander kommunizieren. Die Angehörigen der Gruppe müssen nur wenige einfache Regeln befolgen. Ein Fisch im Schwarm muss dem Fisch vor ihm folgen, sofern es einen gibt, und darf nur so schnell sein wie der Fisch neben ihm. Ähnlich gestalten sich die Regeln für Vogelschwärme und Menschenmengen. Sie lauten konkret:
- Stoße nicht mit anderen zusammen.
- Bewege dich in die durchschnittliche Richtung deiner Nachbarn.
- Befinde dich möglichst mittig zwischen deinen Nachbarn.
„Schwarmverhalten wird zu Schwarmintelligenz, wenn eine Gruppe eine Aufgabe im Kollektiv löst, die kein Angehöriger der Gruppe allein lösen könnte.“
Oder, in drei Worten: Abstoßung, Ausrichtung und Anziehung. Beobachten Sie z. B. eine Menschenmenge am Flughafen, und Sie werden das Prinzip erkennen. Schwarmintelligenz kommt auch bei „Flashmobs“ zum Einsatz. Das sind Gruppen, die ihre Aktionen über Mobiltelefone und andere Kommunikationskanäle koordinieren. Ein Anführer ist nicht sichtbar und die Gruppe organisiert sich selbst. Flashmobs können Präsidenten stürzen, wie auf den Philippinen geschehen. Im Jahr 2001 haben sich dort Protestanten per SMS verständigt. Auch die Unruhen 2005 in Frankreich und 2006 in Chile funktionierten so.
Unsichtbar führen
In Bienenschwärmen geben einige wenige Bienen die Richtung für alle vor. Sie wissen mehr als die anderen und haben ein klares Ziel vor Augen, etwa den leckeren Klee auf einer bestimmten Wiese. Es braucht nicht mehr als die Entschlossenheit dieser wenigen, um die anderen Bienen an den Ort zu führen. Dieses Wissen lässt sich in Unternehmen umsetzen: Mit Schwarmintelligenz können Sie eine Gruppe unsichtbar leiten, wenn Sie ein konkretes Ziel verfolgen. Am besten führen Sie von innen heraus, mit einer Gruppe Gleichgesinnter. Achten Sie unbedingt darauf, dass die Außenstehenden das nicht merken. Gehen Sie ohne das geringste Zögern auf Ihr Ziel zu und vertrauen Sie auf die Schwarmgesetze.
„Wenn zwei Menschenströme, die aus zwei Richtungen aufeinander zukommen, durch einen Engpass gehen müssen, dann organisieren sie sich so, dass sie das Nadelöhr möglichst effizient passieren.“
Um Energie zu sparen, markieren Ameisen mit Duftstoffen für ihre Artgenossen den kürzesten Weg zum Futter. Menschen verhalten sich auf der Suche nach Abkürzungen ähnlich. Man spricht hier von positiver Rückkopplung: Einer trampelt über die Wiese und hinterlässt eine Schneise, andere sehen sie und treten sie breiter. Bald nutzen immer mehr Menschen die Abkürzung. Aber Achtung: Nicht immer sind breit ausgetretene Pfade die kürzesten. Es lohnt sich, nach eigenen Wegen zu suchen.
„Bei einer Schätzung erzielt die Gruppe als Ganze bessere Ergebnisse als die Mehrheit ihrer Mitglieder.“
Das Verhalten der Ameisen wurde auf Computersimulationen übertragen, deren Ergebnisse von Unternehmen genutzt werden. So erkannte z. B. der Kurierdienst UPS, dass die kürzeste Strecke nicht immer die schnellste ist. Da man, wenn man links abbiegt, meistens eine Gegenfahrbahn überqueren muss, kam UPS zum Schluss, dass die Fahrer so oft wie möglich rechts abbiegen sollten. Mit dieser Methode sparte das Unternehmen innerhalb eines Jahres 14 Millionen Liter Benzin.
„Betrachten Sie mehrere Alternativen und entscheiden Sie sich für die erste, die Ihre Erwartungen übertrifft.“
Wenn Sie sehen, dass jemand etwas besser macht als Sie, dann ahmen Sie es nach! Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Sie ähnliche Eigenschaften wie Ihr Vorbild haben, sonst klappt es nicht. Wenn Sie andere von Ihren Ideen überzeugen möchten, bringen Sie die verschiedenen Aspekte Ihres Themas regelmäßig zur Sprache, sodass Ihnen möglichst viele folgen. Sie brauchen nicht zuerst einen so genannten Meinungsmacher zu überzeugen. Wenn Ihre Idee oder Ihr Produkt gut genug ist, begeistern Sie die Leute auch so.
Schwarmunternehmen sind erfolgreich
Unternehmen, die sich die Schwarmintelligenz zunutze machen, unterscheiden sich in drei Punkten von traditionellen Firmen:
- Sie stärken ihre Macht, indem sie den Stakeholdern mehr Einfluss geben. So arbeiten etwa eBay und Amazon. Sie bieten die Infrastruktur und schlichten in Streitfällen. Den Rest optimieren Käufer und Verkäufer.
- Sie unterstützen den Schwarm und teilen mit ihm. Der Computerhersteller IBM stellt die Open-Source-Software Linux kostenlos zur Verfügung, obwohl er jährlich rund 100 Millionen Dollar in die Entwicklung steckt. Langfristig aber verkauft IBM mehr Geräte auf Linux-Basis.
- Ihnen ist das Wohl des Schwarms wichtigerer als der Profit.
Das beste Verhalten in der Masse
Eine Menschenmenge hat sehr komplexe Strukturen. Diese bilden sich aus den physikalischen und sozialen Kräften zwischen den einzelnen Personen. Wie man sich in einer Menge am besten verhält, hängt davon ab, wie dicht sie ist. Achten Sie auf spontan entstehende Strukturen wie Fußgängerströme. Schwimmen Sie mit. Kommt es zur Massenpanik, verhalten Sie sich am besten so: Folgen Sie zu 60 % der Menge und suchen Sie in den übrigen 40 % nach eigenen Wegen. Am besten ist es natürlich, so eine Situation von vornherein zu vermeiden. Wer am Rand einer in Panik geratenden Menschenmasse steht, sollte auf Abstand gehen und andere dazu bringen, dasselbe zu tun. So wird der Druck auf die Menschen, die bereits mittendrin stecken, geringer. Wenn Sie vor einer Gefahr gewarnt werden, überlegen Sie nicht lange, sondern handeln Sie sofort, bevor Sie überrannt werden.
Die Weisheit der Masse nutzen
Mathematiker haben die Intelligenz der Gruppe in Experimenten belegt.
- Soll eine Gruppe von Menschen einen Wert schätzen, etwa die Zahl von Gummibärchen in einem Glas, dann erzielt die Gruppe als Ganzes immer ein besseres Ergebnis als die Mehrheit der einzelnen Mitglieder.
- Gibt es auf eine Frage nur eine richtige, aber mehrere mögliche Antworten, dann liegt die Gruppe mit ihrer Meinung fast immer richtig. Selbst, wenn nur wenige Menschen gut informiert sind, fällt die Antwort meist korrekt aus.
„Wählen Sie bei komplizierten Fahrten durch eine Stadt eine Route, auf der Sie öfter rechts als links abbiegen.“
Diese Gruppenintelligenz ist allerdings nur unter bestimmten Umständen hilfreich. Die einzelnen Mitglieder müssen selbstständig denken und unabhängig urteilen dürfen. Alle müssen dieselbe Frage beantworten und diese muss eine definitive, überprüfbare Antwort haben. Aber die Gruppe hat nicht immer Recht. Entziehen Sie sich dem Zwang des Gruppendenkens und bilden Sie sich eine klare Meinung, zu der Sie stehen. In Notfällen helfen Ihnen bestimmte Regeln bei Entscheidungen: Setzen Sie Prioritäten oder stellen Sie klare Handlungsanleitungen auf. Diese können sich auf Mengen oder den zeitlichen Aufwand beziehen. Beispiele: Ihre Firma kauft nur Firmen auf, die nicht mehr als 75 Mitarbeiter beschäftigen, oder Ihre Mitarbeiter arbeiten nicht länger als 18 Monate an einem Projekt. Setzen Sie nie alles auf eine Karte. Verteilen Sie Kraft und Geld gleichmäßig auf verschiedene Optionen.
„Gehen Sie einfach in die Richtung, in die Sie gehen wollen, und überlassen Sie den Rest den Gesetzen des Schwarms.“
Wer soziale Netzwerke aufbaut und pflegt, nutzt die Masse für sich. Bringen Sie sich ins Gespräch, per Mundpropaganda, Facebook, SMS oder E-Mail. Je interessanter die Nachricht, desto eher wird sie weitergegeben. Das Netzwerk wird umso stabiler, je mehr Verbindungen die Menschen untereinander haben. Wenn Sie eine Person kennenlernen möchten, suchen Sie den Kontakt zu jemandem, der ihr besonders nahesteht.
Richtig entscheiden
Kaufen oder verzichten, reden oder schweigen, gehen oder bleiben? Täglich müssen wir Entscheidungen treffen. Doch die Bedingungen dafür sind ungünstig. Es fehlen Zeit und Informationen. Die Methode, mit begrenztem Wissen und wenig Zeit gute Entscheidungen treffen zu können, wird als Heuristikbildung bezeichnet. Sie richtet sich nach einfachen Regeln aus Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Im Alltag wenden wir Heuristiken unbewusst bereits an; sie lässt sich aber auch ganz gezielt und damit noch effizienter nutzen:
- Wiedererkennung: Wenn Sie zwischen zwei Möglichkeiten wählen müssen, aber nur eine der beiden kennen, dann entscheiden Sie sich für diese.
- Abzählen: Notieren Sie alle Argumente für und gegen eine Entscheidung. Entscheiden Sie sich dann für die Möglichkeit mit den meisten Pluspunkten.
- Prioritäten setzen: Wenn Sie vor einer Entscheidung stehen, ordnen Sie Ihre Kriterien nach Wichtigkeit. Fällen Sie die Entscheidung aufgrund des obersten Kriteriums auf Ihrer Liste, in dem sich die beiden Alternativen unterscheiden.
- Nicht nach dem Besten suchen: Wenn Sie nach einer guten Lösung suchen, sei es bei einem Einkauf oder bei der Personalauswahl, dann prüfen Sie nicht das ganze Angebot. Es reicht, sich 37 % der verfügbaren Möglichkeiten anzusehen, um zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen.
„Glauben Sie nicht, dass Zusammenhänge eine tiefere Bedeutung haben, es sei denn, Sie haben Beweise dafür.“
Zudem ist oft die Wahl, nichts zu tun, die beste. Wenn Sie mit einer Strategie gut fahren, dann bleiben Sie dabei. Ändern Sie sie erst, wenn sie keinen Erfolg mehr mit ihr haben.
Muster erkennen
Eine andere Methode, auch mit wenig Zeit und Wissen die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist die Suche nach Mustern. Wo es viele Daten gibt, gibt es auch Zusammenhänge zwischen ihnen. Das Benford’sche Gesetz macht eine Aussage darüber, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Ziffern 1–9 jeweils am Anfang von Datensätzen aus dem wirklichen Leben stehen. Bei 30,1 % aller Fälle steht die Ziffer 1 am Anfang. Am seltensten befindet sich die Ziffer 8 an erster Stelle (5,1 %). Mithilfe dieses Wissens suchen Steuerfahnder nach Bilanzfälschern oder kontrollieren, ob die Daten medizinischer Untersuchungen echt oder falsch sind. Auch Sie können mit dem Bendford’schen Gesetz prüfen, ob Ihnen vorliegende Daten echt sind.