Der menschliche Faktor
Da sitzt ein erfahrener Flugkapitän am Steuer, und trotz aller Sicherungssysteme führt ein Pilotenfehler zum Absturz, der viele Menschenleben kostet. Oder: Ein angesehenes Traditionsunternehmen verliert innerhalb weniger Jahre immer mehr an Boden und muss schließlich Insolvenz anmelden. In solchen Fällen werden gern äußere Faktoren bemüht – beim Flugzeugabsturz etwa das Wetter, beim Unternehmen die schlechte Auftragslage oder die Konjunktur –, aber in der Regel gibt es nur eine Ursache: menschliches Versagen. Auch den besten und erfahrensten Flugkapitänen und Führungskräften können schier unglaubliche Fehler passieren, die zum Absturz führen. Das liegt letztlich an der genetischen Ausstattung des Menschen: Seit Urzeiten sind wir darauf programmiert, in Stresssituationen rasche, einfache Entscheidungen zu treffen, ohne nachzudenken. In der Luftfahrt versucht man dieser Tendenz mit Trainings entgegenzuwirken, in der Wirtschaft spielt dieses Thema jedoch noch kaum eine Rolle.
Der Säbelzahntiger im Büro
In einer Stresssituation wird das Großhirn, das für das analytische Denken zuständig ist, ausgeschaltet. Stattdessen übernimmt das Stammhirn die Regie, der älteste Teil des Gehirns. Es kennt nur drei Reaktionsmöglichkeiten: angreifen, weglaufen und sich tot stellen. Wenn der Steinzeitmensch plötzlich einem Säbelzahntiger gegenüberstand, konnte dieses einfache Schema lebensrettend sein. Und nach diesem Muster reagieren wir heute noch, obwohl sich die Bedrohungen verändert haben. Die modernen Säbelzahntiger heißen Konkurrenzdruck, sinkende Umsatzzahlen, Angst um den Arbeitsplatz. Für diese kontinuierlichen Bedrohungen sind die angeborenen Reaktionen aber nicht geeignet. Je größer der Stress, umso größer die Gefahr, dass die Entscheidungsträger reflexartig reagieren, statt systematisch nach Lösungen zu suchen. Ein Unternehmen steckt in der Krise, und die Unternehmensführung stellt sich tot, macht einfach weiter wie gewohnt, bis es zu spät ist. Anderswo verstrickt sich ein Unternehmen in sinnlose Gerichtsprozesse, statt seine wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Hier wird der Angriffsreflex ausagiert, allerdings an der falschen Stelle. Machen Sie sich als Führungskraft solche Mechanismen bewusst und versuchen Sie, unter Druck nicht blind vorzugehen, sondern möglichst rational zu handeln.
Was ist Wirklichkeit?
Menschen nehmen nur einen Bruchteil dessen auf, was tagtäglich an Reizen auf sie einstürmt. Unser Gehirn könnte auch gar nicht alles verarbeiten, deshalb filtert es die allermeisten Reize aus, ohne dass wir es überhaupt bemerken. Dabei wird meistens das ausgeschlossen, was nicht in unser Weltbild und unsere Vorerfahrungen passt. So konstruiert sich letztlich jeder Mensch seine Wirklichkeit selbst. In Stresssituationen verstärkt sich dieser Tunnelblick – kein Wunder also, dass viele Führungskräfte noch den Aufschwung beschwören, wenn das Unternehmen schon kurz vor der Pleite steht. Außerdem neigen Menschen dazu, sich unter Stress eher einzuigeln, weniger zu kommunizieren und schneller aggressiv zu werden. Für ein Unternehmen in der Krise hat das fatale Folgen. Holen Sie sich, um sich vor Wahrnehmungsverzerrungen zu schützen, regelmäßig Einschätzungen von außen ein, auch und gerade dann, wenn Sie nicht das hören, was Sie hören wollen. Achten Sie auf eine gute Kommunikation im Unternehmen, besonders in schwierigen Zeiten.
Den Ernstfall trainieren
Piloten proben den Ernstfall am Flugsimulator. Solche Katastrophensimulationen sind auch im Unternehmen hilfreich. Was wäre für Ihr Unternehmen der Worst Case? Etwa der Verlust eines wichtigen Kunden, billige Konkurrenz aus Fernost, Probleme mit Ihrer Bank? Was würden Sie dann tun? Nehmen Sie sich wenigstens einmal im Jahr einen Tag Zeit, um solche Worst-Case-Szenarien zu erstellen und mögliche Lösungen zu erarbeiten. Dann sind Sie für den Ernstfall vorbereitet und können entspannter handeln. Oft müssen Sie gar nicht sofort auf ein Problem reagieren. Gehen Sie einmal um den Block oder überschlafen Sie das Problem, um wieder klarer zu sehen. Vermeiden Sie auf jeden Fall hektische Spontanreaktionen, denn die sind mit Sicherheit nicht die beste Lösung.
Die Macht der Chefs
Statistisch gesehen sind Sie in einem Flugzeug dann am sichersten, wenn der Kopilot die Maschine fliegt. Sitzt dagegen ein erfahrener Flugkapitän am Steuer, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Absturz kommt. Woran liegt das? Wenn der Kopilot einen Fehler macht, wird der Flugkapitän kein Problem haben, ihn zu korrigieren. Im umgekehrten Fall ist es schwieriger: Welcher Kopilot traut sich schon, dem Chef das Steuer aus der Hand zu nehmen? Im Unternehmen ist das ähnlich. Ein Chef, der von sich selbst überzeugt ist und keine Kritik duldet, ist für die Firma ein ernsthaftes Risiko. Auch wenn viele Unternehmen einen kooperativen Führungsstil propagieren, werden die Entscheidungen in Wirklichkeit noch immer von der Führungsriege im stillen Kämmerlein getroffen, und die Mitarbeiter haben sie auszuführen. Das gilt vor allem in Krisensituationen: Je schwieriger die Lage ist, umso eher neigen Führungskräfte dazu, Ihre Entscheidungen allein zu treffen. Dabei können die Mitarbeiter ein Korrektiv sein – sie sind Kopiloten, die vor Fehlentscheidungen warnen.
Augen zu und durch?
Wer Erfolg haben will, muss sich Ziele setzen und dann unbeirrbar auf sie zusteuern, so die gängige Meinung. Aber Ziele können auch gefährlich sein. Wer zu sehr auf sein Ziel fixiert ist, neigt dazu, Gefahren zu ignorieren. Das ist vor allem dann der Fall, wenn man schon viel Zeit und Geld in ein Projekt investiert hat und glaubt, es bald geschafft zu haben. Da ist die Gefahr groß, dass man die Sache unbedingt durchziehen will, auch wenn die Fakten dagegen sprechen. „Ankommeritis“ nennt man das Problem in der Luftfahrt: Die Piloten sind schon lange in der Luft, sie möchten jetzt landen und Feierabend machen. In einer solchen Situation vergessen sie manchmal alle Vorsicht, und so kommt es kurz vor dem Ende noch zum Crash. Um die Zielfixierung zu vermeiden, planen Sie immer auch die Möglichkeit einer Notlandung mit ein. Legen Sie gleich zu Beginn eines Projekts fest, wann Sie notfalls wieder aussteigen bzw. welche Zwischenziele erreicht sein müssen, damit Sie das Projekt fortsetzen. Achten Sie auf Warnsignale und kritische Stimmen und scheuen Sie sich nicht, eine Niederlage einzugestehen. Eine Notlandung ist immer noch besser als ein Absturz.
Planlos in den Abgrund
Im Dezember 1976 stürzte eine Maschine der Eastern Airlines in das Sumpfgebiet der Everglades in Florida. Auslöser des Unglücks war, dass eines der Lämpchen, die das Ausfahren des Fahrwerks anzeigen, nicht aufleuchtete. Kapitän und Kopilot schalteten daraufhin den Autopiloten ein und versuchten zu klären, ob das Fahrwerk tatsächlich nicht funktionierte oder ob nur das Lämpchen selbst defekt war. Sie waren damit so beschäftigt, dass sie versehentlich den Autopiloten wieder ausschalteten und nicht bemerkten, wie das Flugzeug immer tiefer sank. Als sie das Problem wahrnahmen, war es zu spät. Auch Unternehmen sind vor solchen Situationen nicht gefeit. Da werden eifrig Produkte entworfen und Kunden beliefert, aber niemand stellt sich die Frage, ob das Unternehmen überhaupt noch profitabel wirtschaftet. Ein guter Flugkapitän nutzt ruhige Zeiten im Cockpit, um Strategien für mögliche Probleme zurechtzulegen und schwierigere Punkte wie die Landung schon mal vorzubereiten. Viele Unternehmen sind dagegen vom Tagesgeschäft so ausgelastet, dass sie sich um den weiteren Kurs und um mögliche Probleme in der Zukunft keine Gedanken machen, erst recht nicht, wenn im Moment alles gut zu laufen scheint. Das ändert sich erst, wenn die Probleme offensichtlich werden und für durchdachte Lösungen keine Zeit mehr bleibt.
„Menschliches Versagen ist nicht auf Piloten beschränkt: Wenn kritische Faktoren zusammenkommen, sind wir alle zu erschreckenden Fehlleistungen fähig.“
Handeln Sie wie ein guter Flugkapitän: Reservieren Sie sich regelmäßig Zeiten, in denen Sie die Position Ihres Unternehmens bestimmen und mögliche Probleme vorwegnehmen. Wie steht Ihr Unternehmen zurzeit da? Welche Hindernisse könnten in den nächsten Jahren auftauchen? Welche deuten sich vielleicht schon an? Wie können Sie möglichen Schwierigkeiten begegnen? Wenn Sie bereits in der Krise stecken, sehen Sie den Problemen ins Auge, verfallen Sie nicht in Schockstarre. Oftmals ist es besser, das Falsche zu tun, als untätig zu bleiben: Denn wenn Sie etwas falsch machen, sehen Sie die Auswirkungen und können korrigieren. Machen Sie sich aber bewusst, dass es bei jeder Maßnahme Zeit braucht, bis sie zu wirken beginnt. Machen Sie nicht den Fehler, Ihre Pläne ständig wieder umzuwerfen.
Klare Zuständigkeiten schaffen
Theoretisch sollte es im Berufsalltag immer rational zugehen und jeder Mitarbeiter sollte seinen klar definierten Aufgabenbereich haben. Die Praxis sieht meistens anders aus. Wenn Zuständigkeiten nicht klar geregelt sind, kommt es schnell zu Konflikten. Animositäten zwischen Mitarbeitern und erst recht in der Führungsriege binden viel Energie und können ein Unternehmen regelrecht lahmlegen. Sie müssen das inoffizielle Machtgefüge des Unternehmens kennen, es zählt oft mehr als das offizielle Organigramm. Nehmen Sie Konflikte zwischen Mitarbeitern nicht einfach hin, sondern klären Sie die Situation und trennen Sie notfalls die Streithähne. Jeder Mitarbeiter muss wissen, was sein Aufgabenbereich ist, und er muss die Freiheit haben, innerhalb dieses Bereichs eigenverantwortlich zu handeln. Gestehen Sie Ihren Mitarbeitern diesen Freiraum zu und überwachen Sie sie nicht zu sehr. Achten Sie aber auch darauf, dass Sie nicht einfach alles laufen lassen, denn sonst fühlen sich Ihre Mitarbeiter schnell überfordert und geben auf. Machen Sie es wie ein Fluglehrer, der seinem Schüler häppchenweise mehr zutraut und ihn so an schwierigere Aufgaben heranführt.
Der Umgang mit Fehlern
Wo gearbeitet wird, passieren Fehler. In der Luftfahrt können diese viele Menschenleben kosten. Darum müssen alle Unglücke und selbst Beinahe-Crashs gemeldet werden. Zwischenfälle werden akribisch untersucht und die Ursachen analysiert, um die entsprechenden Fehler in Zukunft zu vermeiden. In vielen Unternehmen dagegen wird ein Fehler mit Versagen gleichgesetzt und entsprechend sanktioniert. Führungskräfte üben sich darin, sogar Krisen schönzureden, und halten es für ein Zeichen von Schwäche, ein Versagen offen zuzugeben. So werden Fehler auf allen Ebenen möglichst vertuscht, und jeder hofft, dass sein Scheitern unbemerkt bleibt. Das ist zwar verständlich, schadet aber dem Unternehmen. Fehler sind dazu da, dass man aus ihnen lernt und die Abläufe verbessert. Das funktioniert, wenn jeder im Unternehmen Fehler offen zugeben darf, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Sorgen Sie daher für eine gute Fehlerkultur. Fragen Sie nicht nach der Schuld, sondern nach den Ursachen. Und was besonders wichtig ist: Leben Sie selbst einen konstruktiven Umgang mit Fehlern vor und geben Sie eigenes Versagen offen zu. Nur dann werden sich Ihre Mitarbeiter trauen, ebenfalls ehrlich zu sein. Nehmen Sie Fehler nicht auf die leichte Schulter. Meist ist es eine Kette kleinerer Missgeschicke, die irgendwann zum großen Crash führt. Und Sie können nie wissen, an welcher Stelle der Fehlerkette Sie sich gerade befinden.
Kommunikation im Unternehmen
Menschliche Kommunikation ist ausgesprochen störanfällig. Untersuchungen zufolge machen nonverbale Faktoren wie Mimik, Gestik oder Stimmlage den weitaus größten Teil einer Botschaft aus. Entsprechend hoch ist das Risiko für Missverständnisse und Mehrdeutigkeiten. Im Cockpit ist die Kommunikation aus diesem Grund inzwischen weitgehend standardisiert, es gibt feststehende Formulierungen für die einzelnen Abläufe. Achten Sie auch im Unternehmen auf eine gute und möglichst eindeutige Kommunikation. Wie sprechen die Mitarbeiter miteinander, welcher Ton herrscht vor? Werden neue Vorschläge und kritische Stimmen gehört, oder werden Mitarbeiter mit Killerphrasen („Das hat noch nie geklappt“) mundtot gemacht? Traut sich jemand, in einer Besprechung offen seine Meinung zu sagen, oder sind Zustimmung und Schweigen die einzige Rückmeldung?