Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

Buch Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

Boston, 1849
Diese Ausgabe: Diogenes,


Worum es geht

Revolution gegen die Un­gerechtigkeit

Als 1861 der amerikanis­che Bürgerkrieg ausbrach, erklärte Henry David Thoreau, dass er niemals mehr genesen werde: „Denn dieses Land macht mich krank.“ Der Schrift­steller litt zu diesem Zeitpunkt bereits längere Zeit an einer schweren Tuberkulose. Krank machte ihn aber auch die schwere moralische Schuld, die die amerikanis­che Regierung seit Jahren anhäufte: durch die Sklaverei, den Krieg gegen Mexiko und nun auch noch den Krieg im eigenen Land. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte Thoreau eine Nacht im Gefängnis verbracht, weil er partout seine Steuern nicht zahlen wollte – seine Form des Protests gegen die Regierung, die mit seinen Steuergeldern Kriegsgerät für den Raubzug in Mexiko und Fesseln für die afrikanis­chen Sklaven auf den Baum­wollfeldern der Südstaaten erwerben wollte. Seinen tief empfundenen Groll gegen einen Staat, der Unrecht tat und die Gerechtigkeit mit Füßen trat, schrieb sich Thoreau in seinem Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat von der Seele. Das dünne Büchlein gehört zu den wenigen Werken, von denen man mit Recht behaupten kann, dass sie die Welt verändert haben: Für Bürg­er­rechtler und Kriegs­geg­ner gehört es zur Grund­bil­dung, bei den Hippies genoss es Kultstatus, Martin Luther King hat es zitiert und Mahatma Gandhi hat es in sein Konzept des gewaltlosen Widerstands eingebaut.

Take-aways

  • Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat ist die wichtigste politische Schrift des Amerikaners Henry David Thoreau.
  • Inhalt: Die amerikanis­che Regierung Mitte des 19. Jahrhun­derts leidet unter zahlreichen Defekten und Unzulänglichkeiten, was sich hauptsächlich an der Kriegs- und Sklaven­poli­tik zeigt. Gewissen, Gerechtigkeit und Tugend stehen über Recht und Gesetz. Die Freiheit des Individuums muss gegen Mehrheits­beschlüsse verteidigt werden.
  • Der Essay entstand nach einem Gefäng­nisaufen­thalt des Autors. Er hatte sich geweigert, mit seinen Steuern den Krieg gegen Mexiko zu unterstützen.
  • Die Spaltung der Amerikaner in der Sklaven­frage war ebenfalls ein wichtiger sozialpoli­tis­cher Hintergrund von Thoreaus Essay.
  • Thoreau kritisiert nicht nur den Staat­sap­pa­rat, sondern auch die Untertanen, die zu bequem oder zu ignorant sind, um gegen die Un­gerechtigkeit aufzubegehren.
  • Thoreau war ein Vertreter des Tran­szen­den­tal­is­mus, der ein selb­stver­ant­wortliches, naturnahes Leben propagierte und den Ma­te­ri­al­is­mus ablehnte.
  • Thoreau, der zwei Jahre lang allein in einer Hütte im Wald lebte, gilt als Prototyp des Aussteigers.
  • Mahatma Gandhi übernahm den Begriff des zivilen Ungehorsams von Thoreau.
  • Bei Aussteigern, Hippies, Kriegs­geg­n­ern und Bürg­er­rechtlern genoss und genießt das Buch Kultstatus.
  • Zitat: „Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert.“
 

Zusammenfassung

Die beste Regierung

Die beste Regierung ist diejenige, die am wenigsten regiert. Mit anderen Worten: Die beste Regierung regiert gar nicht! Die gleichen Einwände, die man gegen ein stehendes Heer erheben kann, gelten auch für eine dauerhafte Regierung. Eine Regierung ist immer nur ein Instrument, und wie jedes Instrument kann sie auch missbräuchlich eingesetzt werden. Das Volk wählt eine Regierung, die seinen Willen ausführen soll. Aber genau das muss nicht notwendi­ger­weise der Fall sein. Der Krieg Amerikas gegen Mexiko beweist das eindrücklich: Einige wenige miss­brauchen die Regierung für ihre Zwecke – und das Volk hat überhaupt kein Mit­spracherecht.

„Die beste Regierung ist die, welche gar nicht regiert.“ (S. 9)

Die amerikanis­che Regierung besitzt weniger Lebenskraft als ein einzelner gesunder Mann. Wie anders wäre es sonst zu erklären, dass eine einzige Person die Regierung nach ihrem Gutdünken zurechtzu­biegen vermag? Regierungen zeigen uns, wie leicht es ist, Menschen zu betrügen. Die Bewahrung der Freiheit, die Erforschung und Besiedlung des Westens der Vereinigten Staaten: Nichts davon vermag die Regierung aus eigener Kraft zu vollbringen. Das amerikanis­che Volk hat all dies selbst geschafft, und vieles davon wäre ihm ohne die Regierung le­ichterge­fallen. Diese verhält sich wie das Gesindel, das Hindernisse auf Eisen­bahn­schienen legt: Statt dem Volk zu helfen, bremst sie es aus. Aber Polemik hin oder her: Es ist natürlich nicht sinnvoll, die Abschaffung der Regierung zu fordern. Es ergibt aber durchaus Sinn, eine bessere Regierung einzuklagen.

Erst die Gerechtigkeit, dann das Gesetz

Wenn die Mehrheit regiert, bedeutet das noch lange nicht, dass diese Mehrheit gerecht handelt. Der Grund, warum die Mehrheit regiert, ist einzig, dass sie stärker ist. Eine Regierung, in der immer und in jedem Fall die Mehrheit bestimmt, kann aber nicht gerecht sein. Jeder Mensch hat ein Gewissen. Deshalb kann es nicht sein, dass das Volk Gewis­sensentschei­dun­gen an die Regierung delegiert. Jeder Einzelne sollte nach seinem Gewissen handeln. Jeder sollte zuerst Mensch sein und dann erst Untertan. Die Gerechtigkeit und nicht das Gesetz sollte an erster Stelle stehen. Es wird gesagt, dass eine Masse von Menschen kein Gewissen hat. Das stimmt, doch auch das Gesetz macht Menschen keineswegs gerechter. Der Respekt vor dem Gesetz macht sie sogar zu seinen willenlosen Handlangern. Nehmen wir als Beispiel eine Sol­datenkolonne: Fein säuberlich geordnet in ihrer Hierarchie von Oberst, Hauptmann, Korporal bis zum Pul­ver­jun­gen marschieren sie ohne Murren in den Krieg. In einen Krieg, den sie nicht wollen und der ihnen eine Heidenangst einjagt. Sie wollen ja eigentlich Frieden, lassen sich jedoch vor den Karren des Gesetzes spannen. Auch der Besuch eines Kriegshafens lehrt jeden, der sich die Matrosen genauer anschaut, dass diese allesamt lebendige Leichen sind. Sie sind bereits zu Lebzeiten unter ihren Waffen begraben.

Eine Frage von Moral und Gewissen

Die meisten Menschen dienen dem Staat nicht mit ihrer ganzen Person, sondern nur mit ihren Körpern, sozusagen als menschliche Maschinen. Moralische Gefühle oder gar ein eigenes Urteil bleiben dabei auf der Strecke. Andere Menschen dienen dem Staat vor allem mit ihren Köpfen: Dazu gehören beispiel­sweise Politiker, Pfarrer, Advokaten und die Gesetzgeber. Moralische Gefühle leisten sich aber auch sie nicht. Deswegen können sie dem Teufel wohl genauso gut dienen wie Gott. Nur sehr wenige können wir als Patrioten oder echte Reformer preisen, die dem Staat auch mit ihrem Gewissen dienen. Gerade diese werden von ihm aber meistens als Feinde betrachtet. Wie soll man sich also nun gegenüber der Regierung verhalten? Es ist vermutlich nicht möglich, sich mit ihr einzulassen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Eines jedoch ist klar: Wer die Sklaverei ablehnt, kann sich zu dieser Regierung nicht bekennen.

Das Unrecht der USA

Wenn die Regierung aus Tyrannen besteht oder aus Menschen, die angesichts ihrer hohen Position einfach untauglich sind, muss man ihr widerstehen und sich gegen sie auflehnen. Dieses Recht auf Revolution wird nicht infrage gestellt. Doch leider meinen heute viele, die aktuelle Regierung sei eben gar nicht so schlecht. Würde unsere Regierung ausländische Waren in unseren Häfen besteuern, könnte uns das herzlich egal sein, denn es ist durchaus möglich, ohne diese Güter zu leben. Aber wenn, wie es heute der Fall ist, ein Sechstel der Bevölkerung in der Sklaverei lebt, ist es die Pflicht der anderen, dagegen zu rebellieren. Das Gleiche gilt für den Fall, dass ein ganzes Land ohne irgendeine rechtliche Le­git­i­ma­tion von einer fremden Armee erobert wird. Umso mehr gilt dies, wenn es nicht das amerikanis­che, sondern ein fremdes Land ist, das von der Armee überrannt und besetzt wird, so wie es in Mexiko geschehen ist. Nicht die Zweckmäßigkeit entscheidet darüber, was moralisch richtig und gerecht ist, sondern das Gewissen. Wer einem Er­trink­enden das rettende Stück Treibgut unter den Händen wegreißt, um sein eigenes Leben zu retten, handelt moralisch falsch. Ebenso ist es nicht in Ordnung, wenn ein Volk Sklaven hält und in andere Länder ein­marschiert, um deren Gebiete zu besetzen. Es muss damit aufhören, selbst wenn es dabei seinen eigenen Untergang riskiert.

Die Lethargie der Gerechten

Die Feinde, gegen die wir kämpfen müssen, sind nicht in der Ferne, sondern direkt vor unserer Haustür. Dass es die Sklaverei gibt, liegt nicht nur an vielen Politikern im Süden, sondern auch an Händlern und Handwerkern im Norden, die die von Sklavenhand gepflückte Baumwolle kaufen und weit­er­ver­ar­beiten. Das Problem sind nicht diejenigen, die sowieso für die Un­gerechtigkeiten sind, sondern die so genannten Gerechten, die aber nichts tun, um sie abzuschaf­fen. Gegen Krieg und Sklaverei gibt es viele Stimmen, aber sie sind nicht laut genug. Es gibt zu viele, die den aktuellen Zustand einfach so akzeptieren. Ehrenmänner und Patrioten sind selten geworden, so scheint es. Die Bürger sind zu müßig, zu faul, zu selb­st­gerecht, um etwas zu unternehmen.

Wer die Regierung nicht bekämpft, unterstützt sie

Der Wähler, der seine Gesinnung nur bei der Wahl der Regierung äußert, riskiert nichts. Er gibt lediglich darüber Auskunft, welche Tendenz er sich wünscht. Die Gerechtigkeit überlässt er aber dem Zufall. Mit den amerikanis­chen Bevölkerungssta­tis­tiken kann etwas nicht stimmen: Denn so viele Männer, wie sie uns glauben machen wollen, gibt es gar nicht. Wenn man richtig hinschaut, nicht mal einen pro Quadrat­meile. Stattdessen findet man jede Menge kauzige Figuren, die sich mit Vorliebe der Masse anschließen, keinerlei Verstand besitzen, dafür aber eine überschäumende Selbstgefälligkeit.

„Regierungen führen uns also vor, wie leicht man die Menschen betrügen kann, ja, wie sie sich sogar selbst betrügen (...)“ (S. 11)

Nicht jeder muss sich unbedingt mit der Gerechtigkeit beschäftigen. Man kann sich auch anderen Dingen mit Anstand widmen, aber man darf sich sicher nicht in den Dienst der Un­gerechtigkeiten stellen. Wer sich für irgendetwas einsetzen will, sollte dies zumindest nicht zulasten seiner Mitmenschen tun. Es gibt heute Bürger, die den Soldaten zujubeln, die sich weigern, in einen ungerechten Krieg zu ziehen. Aber genau diese Bürger tun trotzdem nichts dagegen, die Regierung abzusetzen, die solche Kriege befiehlt. Es ist genau diese Laschheit, die für die Gesellschaft besonders gefährlich ist. Wer die Maßnahmen einer Regierung kritisiert, ihr aber die Gefol­gschaft nicht aufkündigt, gehört zu ihren besten Gefol­gsleuten.

Es ist Zeit zu handeln

Es gibt heute Stimmen, die den Staat auffordern, die Union aufzulösen. Man möchte mit den Sklaven­hal­tern keine gemeinsame Sache machen. Der Staat jedoch ist fest mit der Union verbunden. Was also läge für die Abo­li­tion­is­ten näher, als das Band zwischen sich und dem Staat zu zerreißen? Das Einfachste wäre es, dem Staat die Steuern vorzuen­thal­ten, die er für die ungerechte Sache einsetzt. Doch nichts geschieht. Wie kann es sein, dass Menschen eine klare Meinung über die Regierung haben, aber nicht entsprechend handeln? Wenn ihr Nachbar sie betrogen hätte, würde es ihnen ja auch nicht genügen, darüber Bescheid zu wissen. Sie würden ihn aufsuchen, sich zurückholen, was ihnen gehört, und geeignete Maßnahmen ergreifen, damit er sie nicht erneut betrügen kann.

„Ich sage nicht: von jetzt an keine Regierung mehr, sondern: von jetzt an eine bessere Regierung.“ (S. 12)

Im Fall der Regierung scheint diese äußerst simple Methode nicht zu funk­tion­ieren. Wenn das Volk erkennt, dass es ungerechte Gesetze gibt, geht es vor allem aus einem Grund nicht dagegen vor: Es befürchtet, dass das Heilmittel schlimmer als die Seuche ist. So wird abgewartet, bis die Mehrheit vielleicht eines Tages ein ungerechtes Gesetz außer Kraft setzt. In den aller­meis­ten Fällen ist es aber die Regierung selbst, die dafür sorgt, dass das Heilmittel dem Volk nicht schmeckt. Obwohl es sinnvoll wäre, dass die Regierung auf ihre Bürger hört und sich Fehlen­twick­lun­gen von ihnen anzeigen lässt, verleugnet sie ihr eigenes Volk. Erschafft sie Gesetze, die das Volk dazu zwingen, anderen Gewalt anzutun, kann nur eines richtig sein: das Gesetz zu brechen.

Steuer­hin­terziehung für die gute Sache

Jeder begegnet der Regierung mindestens einmal im Jahr persönlich – in der Gestalt des Steuere­in­nehmers. Jede Steuerzahlung sendet eine Botschaft: „Regierung, ich erkenne dich an!“ Wenn also nun jemand seinem Steuere­in­treiber und damit der Regierung die Anerkennung verweigert und dafür ins Gefängnis gesperrt wird, wäre das ein achtbarer Sieg für die Gerechtigkeit. Im Gefängnis landen diejenigen, die der Staat aus­geschlossen hat und die selbst ihr Bündnis mit dem Staat aufgekündigt haben. Einzig im Gefängnis werden all die En­trechteten Amerikas – die Sklaven, die mexikanis­chen Kriegs­ge­fan­genen und die Indianer – andere Menschen finden, die sich für die Freiheit einsetzen. Wenn Tausende Menschen keine Steuern mehr zahlen würden, wäre das kein Akt der Un­gerechtigkeit. Blutig und ungerecht ist es stattdessen, wenn sie ihre Steuern zahlen und damit Gräueltaten an anderen Menschen und Völkern ermöglichen. Wenn jemand nun dem Steuere­in­treiber die Steuern versagt und der Staats­di­ener daraufhin fragt, wie er darauf reagieren solle, ist die Antwort klar: Er soll sich der guten Sache anschließen und aus seinem Amt ausscheiden. Ungehorsame Untertanen und Beamte, die ihr Amt niederlegen: Das sind die wichtigsten Ziele einer Revolution. Was aber geschieht, wenn durch die Revolution Blut vergossen wird? Eine Gegenfrage: Wird denn nicht sogar noch mehr Blut vergossen, wenn Menschen fortwährend ihr Gewissen verletzen müssen?

Reichtum schadet der Moral

Geset­zes­brecher sperrt man lieber ein, statt ihren Besitz zu beschlagnah­men. Denn diejenigen, die sich besonders für die Gerechtigkeit einsetzen und die darum einem ungerechten Staat gefährlich werden, sind in der Regel nicht diejenigen, die sich in ihrem Leben der Anhäufung von Reichtum gewidmet haben. Wer dagegen besonders reich ist, besitzt oft besonders wenig Anstand. Gelderwerb ist zumeist nicht mit sonderlich viel Tugend verbunden. Reichtum führt nicht dazu, dass man sich die Frage nach der Gerechtigkeit stellt. Mit anderen Worten: Geld verdirbt die Moral. Wenn ein Reicher etwas tun möchte, das seiner Men­schlichkeit förderlich ist, dann sollte er sich die Wünsche erfüllen, die er sich nicht erfüllen konnte, als er noch arm war. Wenn man sich mit freisin­ni­gen Menschen über Politik unterhält, endet ihr Engagement für die Freiheit stets an der Stelle, wo sie den Schutz durch den Staat aufkündigen müssten. Um sich gegen die Regierung zu stellen, so scheint es, muss man arm sein. Als Tagelöhner und Besitzloser kann man es sich leisten, eine eigene Meinung zu haben – schließlich kann einem der Staat nichts wegnehmen, wenn man sich weigert, seine Politik gutzuheißen.

Jenseits der Demokratie

Thoreau weigerte sich sechs Jahre lang, die Kopfsteuer zu bezahlen. Daraufhin wurde er für eine Nacht ins Gefängnis gesteckt. Hinter den dicken Mauern kam es ihm jedoch vor, als wäre er der einzige freie Mensch. Der Staat bestraft den Körper mit Gefängnis, weil er den freien Geist des Menschen nicht fassen kann. Das ist überaus feige und be­mitlei­denswert. Von unten betrachtet mögen der Staat, die Verfassung, die Gesetze und die Regierung nützliche Ein­rich­tun­gen sein. Von einem höheren Standpunkt aus gesehen sind sie aber so, wie sie zuvor beschrieben wurden. Wenn sich die Regierungen weit­er­en­twick­eln, werden sie anerkennen müssen, dass das Individuum die Grundlage des Staates ist. Die Demokratie ist nicht der Endpunkt der politischen Entwicklung. Man kann sich einen besseren Staat vorstellen, einen, der seine Autorität aus den Bedürfnissen des Individuums ableitet, der zu allen Menschen gerecht ist und der es erträgt, wenn einige nicht mit ihm ein­ver­standen sind. Solch ein Staat lässt sich wünschen. Gesehen wurde er jedoch noch nie.

Zum Text

Aufbau und Stil

Thoreaus Schrift ist ein Essay und folgt den Gepflo­gen­heiten dieser Textsorte: Der Autor setzt sich persönlich mit einem Sachverhalt auseinander, ohne dabei streng wis­senschaftlichen Kriterien zu folgen. Ausgehend von der These, dass eine Regierung dann am besten sei, wenn sie wenig bis gar nicht regiere, entwickelt Thoreau die Idee des zivilen Ungehorsams. Dabei bezieht er sich immer wieder auf die zwei Kernthemen, die den politischen und his­torischen Kontext seiner Abhandlung bilden: die Sklaverei und den Krieg Amerikas gegen Mexiko. Er zitiert Zeitgenossen, Politiker, Dichter und die Bibel. Der Text enthält viel Lokalkolorit und An­spielun­gen auf En­twick­lun­gen seiner Zeit. Auch wenn Thoreau zuweilen von seinem Hauptthema abschweift, kommt er doch immer wieder darauf zurück. Ungefähr im letzten Viertel wird der Essay sehr persönlich: Hat Thoreau zu Beginn zwar seine Meinung verkündet, ist dabei aber ver­gle­ich­sweise allgemein geblieben, flicht er nun Episoden aus seinem Leben ein. Ein zentraler Punkt ist seine Nacht im Gefängnis, die er in einem Einschub sehr ausführlich, auch unter Ein­beziehung der Gespräche mit seinem Zel­lengenossen, schildert und damit den Anstoß und Hintergrund zum Essay liefert. Der Text ist durchsetzt mit rhetorischen Fragen, Ausrufen und Be­haup­tun­gen – und immer wieder mit sehr pointierten For­mulierun­gen, die dank ihrer Kürze und Aus­druck­skraft zu Bonmots geworden sind.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Essay ist politische Theorie und konkrete Anwendung dieser Theorie zugleich. Thoreaus Gedanken sind keine abstrakten Konstrukte, sondern können und sollen direkt auf die gesellschaftliche Praxis bezogen werden.
  • Die Forderung nach der Abschaffung der Sklaverei bildet den Dreh- und Angelpunkt des Essays. Thoreau gehörte den Abo­li­tion­is­ten an, die die vollständige Abschaffung der Sklaverei forderten.
  • Auch wenn Thoreau immer wieder mit dem gewaltlosen Wiederstand in Verbindung gebracht wird: Er selbst tritt im Essay keinesfalls für Gewalt­losigkeit ein, sondern fordert offensiven Protest, nötigenfalls auch mit Gewalt. Thoreau schloss sich Mitte der 1850er-Jahre der sogenannten Underground Railroad an, einem Netzwerk, das den Sklaven eine Flucht aus den Südstaaten nach Kanada ermöglichte.
  • Thoreau war ein Vertreter des Tran­szen­den­tal­is­mus. Diese Bewegung forderte ein selb­stver­ant­wortliches, naturnahes Leben, richtete sich gegen den Ma­te­ri­al­is­mus und versuchte, die Rechte der Frauen zu stärken. Die auf dem deutschen Idealismus fußende Philosophie ist auch im Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat präsent, ja sie ist mit ihrer Betonung der Freiheit und Autonomie die philosophis­che Triebfeder des Ganzen.
  • Die Skepsis gegenüber dem Staat, der Regierung und den demokratis­chen Mehrheit­surteilen findet ihren Ausdruck in der Betonung des Individuums. Mitläufertum und das Warten auf Mehrheit­skom­pro­misse sind für Thoreau bereits sträfliche Handlungen. Wer wegschaut, mache sich schuldig. Nur aktiver Widerstand könne die Missstände verändern.
  • Ein Schwach­punkt von Thoreaus Ar­gu­men­ta­tion liegt darin, dass er nicht erklärt, wo im Gewissen des Einzelnen die Grenze zu ziehen ist zwischen berechtigtem Widerstand und Anarchie.

His­torischer Hintergrund

Ex­pan­sion­skrieg und Sklaven­hal­ter­staat

Nachdem die USA sich im Unabhängigkeit­skrieg (1775 bis 1783) von der britischen Kolo­nial­macht befreit hatten, standen sie um 1850 mitten in der ersten Phase der In­dus­tri­al­isierung. Außenpolitisch hatte sich der junge Staat bis dahin weitgehend emanzipiert, indem er die engen Ver­flech­tun­gen zum Mut­terkon­ti­nent Europa gelöst hatte. Die von Präsident James Monroe aufgestellte Mon­roe-Dok­trin legte fest, dass sich Europa aus amerikanis­chen An­gele­gen­heiten her­aushal­ten sollte, umgekehrt sollten sich die Amerikaner nicht in europäische Belange einmischen. Auf dem eigenen Kontinent verhielten sich die USA allerdings alles andere als passiv. Davon zeugt der Krieg gegen Mexiko (1846 bis 1848): Durch den Sieg gegen die Mexikaner konnten die USA ihr Territorium in südwestlicher Richtung ausdehnen. Die heutigen Staaten Arizona, Kalifornien, Nevada, Utah sowie Teile von Colorado, New Mexico und Wyoming kamen hinzu. Das Gebiet der USA reichte nun vom Atlantik bis zum Pazifik, Mexiko verlor fast die Hälfte seines Ter­ri­to­ri­ums.

In der Mitte des 19. Jahrhun­derts war außerdem die Sklaven­frage in den USA ein brisantes Thema. Sie spaltete die Nation in den zunehmend in­dus­tri­al­isierten Norden und in den agrarischen Süden, in dem ganze Heere von Sklaven auf Baum­wollplan­ta­gen beschäftigt wurden. Nach dem Krieg mit Mexiko ging es auch darum, ob in den eroberten Gebieten die Sklaverei eingeführt werden sollte. Der Nord-Süd-Konflikt spitzte sich in der Folgezeit zu und gipfelte im blutigen Amerikanis­chen Bürgerkrieg (1861 bis 1865).

Entstehung

Am 4. Juli 1845, dem amerikanis­chen Unabhängigkeit­stag, begann Thoreau sein Experiment „Einfaches Leben“. Er wollte zurück zur Natur finden und seine Bedürfnisse auf ein Minimum reduzieren, jeden überflüssigen Luxus abstreifen und eins mit dem Leben fernab der Zivil­i­sa­tion werden. Er zog in eine kleine, selbst gebaute Hütte auf einem Grundstück, das seinem Freund, dem Schrift­steller Ralph Waldo Emerson, gehörte und unmittelbar an einem Waldsee namens Walden Pond lag. Die Hütte befand sich aber nicht etwa in der Wildnis, sondern in der Nähe des Stadtrands von Concord. Gele­gentliche Ausflüge in die Stadt waren durchaus möglich. Am 23. Juli 1846 wurde er bei einem solchen Stadtbesuch, er war auf dem Weg zum Schuster, vom Steuere­in­treiber erkannt, verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Der Grund: Thoreau hatte mehrere Jahre seine Steuern, die sogenannte Poll Tax, nicht bezahlt und verweigerte dies auch jetzt. Er sträubte sich mit dem Hinweis, dass er keinesfalls die Sklaverei und den soeben begonnenen Mexikanisch-Amerikanis­chen Krieg finanzieren wolle. Die Nacht im Gefängnis, die Thoreau eigenen Angaben zufolge regelrecht genoss, inspirierte ihn zu dem Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Ein unbekannter Gönner sorgte dafür, dass der Autor nur eine Nacht im Gefängnis verbringen musste.

1849 erschien der Essay unter dem Titel The Resistance to Civil Government in der ersten und einzigen Ausgabe der Aesthetic Papers. Den weltberühmten Titel Civil Dis­obe­di­ence erhielt der Text erst, als er 1866 postum in Thoreaus Reise­bericht A Yankee in Canada, with Anti-slav­ery and reform papers erschien.

Wirkungs­geschichte

Nach Thoreaus Tod überwog zunächst eine negative Einstellung gegenüber dem Autor. Der amerikanis­che Schrift­steller und Diplomat James Russell Lowell beklagte Thoreaus Sub­jek­tivis­mus: „Er macht seine eigene Laune zum Gesetz, sein eigenes Wissen zum Universum.“ Robert Louis Stevenson diffamierte ihn gar als Neinsager und Drückeberger, der sich nicht mit der Wirk­lichkeit au­seinan­der­set­zen wolle und sich deshalb aus der Welt ausgeklinkt habe. Die 1890 erschienene Thoreau-Bi­ografie von Henry S. Salt brachte eine für die Wirkungs­geschichte des Essays sehr wichtige Person mit dem Text in Zusam­men­hang: Mahatma Gandhi. Dieser verwendete den Essay und das Konzept des „zivilen Ungehorsams“ für den friedlichen Protest im indischen Unabhängigkeit­skampf. Auch John F. Kennedy, Martin Luther King und die amerikanis­che Feministin und Frieden­sak­tivistin Emma Goldman, die Thoreau als einen „der größten amerikanis­chen Anarchisten“ feierte, fühlten sich dem Autor gedanklich verwandt. Der No­bel­preisträger Sinclair Lewis bezeichnete Thoreau im Jahr 1937 als „einen von drei oder vier wirklichen Klassikern der amerikanis­chen Literatur“ und als einen Vorkämpfer amerikanis­chen Frei­heits­be­wusst­seins. Ähnlichen Beifall erhielt er vom Schrift­steller Henry Miller.

Im 20. Jahrhundert stil­isierten die Anhänger der Hip­piebe­we­gung Thoreau zum Prototyp aller Aussteiger. Sein Werk bot genügend Anknüpfungspunkte, sowohl in Bezug auf den Widerstand gegen einen als ungerecht empfundenen Staat – zum Beispiel für die Viet­namkriegs­geg­ner der 1970er-Jahre – als auch für die Ökoak­tivis­ten: Schließlich gilt Thoreau nicht nur als politischer, sondern auch als Naturschrift­steller.

Über den Autor

Henry David Thoreau wird am 12. Juli 1817 in Concord, Mass­a­chu­setts, geboren. Er studiert von 1833 bis 1837 an der Harvard University und fällt bereits während dieser Zeit durch seine Sparsamkeit auf. So lehnt er es angeblich ab, die Gebühren von 5 Dollar für den Erhalt seines Diploms zu bezahlen. Nach dem Studium gründet er mit seinem Bruder John in seiner Heimatstadt eine Schule, zu deren Lehrplan so progressive Fächer wie „Spaziergänge durch die Natur“ und „Besuche der heimischen Unternehmen“ gehören. Die Schule muss schließen, als John an Tuberkulose erkrankt, woran er bald darauf stirbt. 1841 lernt Thoreau den Schrift­steller Ralph Waldo Emerson kennen. Die beiden freunden sich an und Emerson führt Thoreau in einen Kreis von Autoren und Philosophen ein, dem unter anderem Margaret Fuller und Nathaniel Hawthorne angehören. Zwischen 1841 und 1844 arbeitet Thoreau bei Emerson als Hauslehrer. In einem Experiment, das er „Einfaches Leben“ nennt, bewohnt Thoreau zwischen 1845 und 1847 eine einsame Hütte am Ufer des Waldsees Walden Pond. In dieser Zeit erhält er Besuch vom Steuere­in­treiber. Aus der Weigerung, Steuern zu zahlen, in Verbindung mit einer im Gefängnis verbrachten Nacht, geht der Essay The Resistance to Civil Government (Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat) hervor, der unter dem späteren Titel Civil Dis­obe­di­ence zum Klassiker des zivilen Ungehorsams avanciert und später Mahatma Gandhi und Martin Luther King bee­in­flussen wird. 1854 publiziert Thoreau Walden; or, Life in the Woods (Walden oder Leben in den Wäldern). Bereits in dieser Zeit ist er von aben­teuer­lichen Ex­pe­di­tio­nen fasziniert. Ab 1849 arbeitet er als Land­ver­messer und macht sich de­tail­lierte Notizen zu seinen Naturbeobach­tun­gen. Er unternimmt Vor­tragsreisen und bleibt zeitlebens ein Verfechter des zivilen Ungehorsams sowie ein Gegner der Sklaverei und der Prügelstrafe an den Schulen. Thoreau, der bereits seit 1835 an Tuberkulose leidet, stirbt am 6. Mai 1862 in seiner Heimatstadt an den Folgen einer starken Bronchitis.