Die Frau in Weiß

Buch Die Frau in Weiß

Criminal-Roman

London, 1860
Diese Ausgabe: dtv,


Worum es geht

Spannender Mys­tery-Thriller

Um seiner Geliebten die gestohlene Identität zurückzugeben, wird der junge Ze­ichen­lehrer Walter Hartright zum Meis­ter­de­tek­tiv – einem der ersten der Lit­er­aturgeschichte. Die historische Einordnung des Er­fol­gsro­mans von Wilkie Collins konnte natürlich erst durch die spätere Lit­er­atur­wis­senschaft erfolgen. Was von Anfang an feststand, war aber die Absicht des Autors, seinen Lesern spannende Un­ter­hal­tung zu bieten, und das gelingt ihm meisterhaft. Anders als in den Krim­i­nal­ro­ma­nen, die dem Vorbild der Sher­lock-Holmes-Bücher folgen, wird der Detektiv in Die Frau in Weiß nicht von Dritten oder durch ein Amt mit einer Ermittlung beauftragt. Er ist zunächst ein Charakter unter vielen und tritt erst im Verlauf des Romans immer stärker in den Vordergrund, indem er die Rolle des Ver­brechen­saufklärers annimmt. Collins’ Roman hält dem Vergleich mit neueren Mys­tery-Thrillern spielend stand.

Take-aways

  • Die Frau in Weiß war der erste Er­fol­gsro­man von Wilkie Collins und gilt als erste Mys­tery-Novel der Lit­er­aturgeschichte.
  • Inhalt: Die reizende und vermögende Laura Fairlie wird mit dem adligen Mitgiftjäger Baronet Glyde verheiratet. Mithilfe eines zwielichti­gen Grafen beraubt er seine Frau ihrer Identität und gelangt dadurch an ihr Vermögen. Lauras Ze­ichen­lehrer Walter Hartright deckt in hartnäckigen Er­mit­tlun­gen das raffinierte Komplott auf.
  • Mit diesem Roman wurde Collins einer der best­bezahlten Autoren seiner Zeit.
  • Er war ein enger Freund und Mitarbeiter von Charles Dickens.
  • Die Frau in Weiß ist auch ein Gesellschaft­sro­man mit kritischen Untertönen, vor allem hin­sichtlich der Stellung der Frau im Vik­to­ri­an­is­chen Zeitalter.
  • Meisterhaft versteht es Collins, die ver­schlun­gene Handlung spannend zu halten.
  • Alle Details haben eine dra­matur­gis­che Funktion bei der Aufklärung des Komplotts.
  • Collins ist ein her­vor­ra­gen­der Stilist und ein einfühlsamer psy­chol­o­gis­cher Beobachter.
  • Das Genre der Mys­tery-Novel entwickelte sich aus dem Schauer­ro­man der Romantik.
  • Zitat: „Was die Geduld einer Frau zu ertragen und die Entschlossen­heit eines Mannes zu erreichen vermag, davon handelt dieser Bericht.“
 

Zusammenfassung

Nächtliche Begegnung

Der Aquarellist und Zeichner Walter Hartright wird als Kunstlehrer zweier junger Damen in Limmeridge House engagiert, einem stattlichen Landsitz in Nordengland. Die gut dotierte Stellung hat ihm ein Freund verschafft, der ital­ienis­che Emigrant und Kun­st­pro­fes­sor Pesca, dem Walter einmal beim Baden in Brighton das Leben gerettet hat.

„Was die Geduld einer Frau zu ertragen und die Entschlossen­heit eines Mannes zu erreichen vermag, davon handelt dieser Bericht.“ (Einleitung, S. 5)

Am Abend vor der Abreise aus London macht Walter noch einen Ab­schieds­be­such bei seiner Mutter und seiner Schwester in Hampstead Heath. Auf dem nächtlichen Heimweg über die Heide begegnet ihm eine blasse junge Frau in Weiß. Sie macht einen etwas verstörten Eindruck und fragt Walter nach dem Weg. In der anschließenden Un­ter­hal­tung stellt sich heraus, dass sie Limmeridge House kennt und angenehme Erin­nerun­gen mit der Be­sitzer­fam­i­lie Fairlie verbindet. Am Stadtrand von London entschwindet die mysteriöse Frau in einer Droschke. Zehn Minuten später halten zwei Männer in einem offenen Gefährt auf der Straße an. Sie suchen nach einer Frau in Weiß, die aus einer Ir­re­nanstalt entflohen sei.

Limmeridge House

Walter tritt seine neue Stellung in der kom­fort­ablen Einsamkeit des gepflegten Anwesens Limmeridge House an und un­ter­richtet als Aquarell- und Ze­ichen­lehrer die kluge und resolute Marian Holcombe sowie die liebreizende Laura Fairlie. Die beiden sind Halb­schwest­ern und Waisen. Bald nach Walters Ankunft bestätigt Marian, dass die Frau in Weiß in der Tat in Limmeridge bekannt ist – als Anne Catherick. Mrs. Fairlie hatte sich ihrer angenommen, als Anne noch ein Kind war, und sie stets in Weiß eingek­lei­det; das hat die leicht geistig behinderte Frau aus Dankbarkeit beibehalten.

„Da, mitten auf der breiten, vom Mond erhellten Straße, stand, als wäre sie eben aus der Erde geschossen oder vom Himmel gefallen, die einsame Gestalt einer Frau, von Kopf bis Fuß in Weiß gehüllt (...)“ (Walter Hartright, S. 22)

Lauras Vormund und Onkel, Frederick Fairlie, hat Walter engagiert. Der affektierte, bequeme und überempfind­liche Junggeselle widmet sich ausschließlich seiner Münz- und Kun­st­samm­lung. Seine Gemächer verlässt er nie. Mr. Fairlie hält es für seine Pflicht, Laura gemäß dem Wunsch ihres Vaters Philip Fairlie, seines Bruders, mit Baronet Percival Glyde zu verheiraten. Glyde und Lauras Vater waren befreundet. Durch die Heirat kurz vor Lauras Volljährigkeit erhält Sir Percival auch die Nutznießung ihres beträchtlichen Kapitalvermögens. Der langjährige Fam­i­lien­an­walt Mr. Gilmore kann dies bei der Aus­fer­ti­gung des Ehevertrags nicht verhindern.

„Aber ich bin nur eine Frau, auf Lebenszeit verdammt zu Geduld, Schick­lichkeit und Unterröcken, daher muss ich darauf Rücksicht nehmen, was wohl die Haushälterin von mir denken würde, und versuchen, mich auf eine schwache, weibliche Art zu fangen.“ (Marian Halcombe, S. 208)

Im dritten Monat von Walters Aufenthalt trifft ein anonymer Brief in Limmeridge ein, of­fen­sichtlich von Anne Cathericks Hand, in dem Laura ein­dringlich beschworen wird, Nach­forschun­gen über Sir Percival anzustellen. Walter begegnet der Frau in Weiß erneut, nachts auf dem Friedhof von Limmeridge, wobei ihm ihre Ähnlichkeit mit Laura deutlich vor Augen geführt wird. In seinem Gespräch mit der wiederum etwas gehetzt wirkenden Anne und ihrer älteren Begleiterin Mrs. Clements kann er jedoch nicht in Erfahrung bringen, was das Geheimnis sein soll, das im Fall seiner Aufdeckung Sir Percival „ruinieren“ würde. Die beiden Frauen ver­schwinden. Er­mit­tlun­gen über ihren Verbleib sind fruchtlos. Walter, der sich in Laura verliebt hat, reist angesichts ihrer bevorste­hen­den Hochzeit mit gebrochenem Herzen vorzeitig ab und schließt sich vor lauter Kummer einer einjährigen aben­teuer­lichen Expedition nach Mit­te­lamerika an.

Blackwater Park

Laura heiratet pflicht­be­wusst und schick­salsergeben und folgt ihrem Gemahl nach halbjähriger Hochzeit­sreise durch Italien zu dessen Wohnsitz Blackwater Park in Hampshire, ebenfalls ein großer Herrensitz. Dort wird sie von ihrer Halb­schwester Marian bereits erwartet. Deren ständige Anwesenheit in Blackwater Park hat sie sich bei der Heirat ausbedungen. Der früher so charmante und manierliche Sir Percival entpuppt sich als grob und un­be­herrscht, ins­beson­dere gegenüber der Di­ener­schaft. In Blackwater Park logieren als Dauergäste Sir Percivals auch der äußerst fettleibige ital­ienis­che Graf Fosco und seine ihm still ergebene Gemahlin. Graf Fosco ist ein enger Freund von Sir Percival, Gräfin Fosco ist die ungeliebte Schwester von Mr. Fairlie und beschäftigt sich hauptsächlich damit, Zigaretten für ihren Mann zu drehen. Fosco ist äußerst un­ter­halt­sam, taktvoll und gewandt. Der Exzentriker hält sich einen Kakadu, zwei Kanarienvögel und einige weiße Mäuse als Haustiere, mit denen er häufig spielt und die er auf seinem massigen Körper herumlaufen lässt.

„Ist der Verbrecher ein dummer, ungeschick­ter Mensch, siegt in neun von zehn Fällen die Polizei; ist er aber schlau, wagemutig und hochin­tel­li­gent, verliert die Polizei in neun von zehn Fällen.“ (Graf Fosco, S. 245)

Eines Tages verlangt Sir Percival in schroffem Ton von Laura ihre Un­ter­schrift unter ein Dokument, dessen Inhalt sie nicht lesen darf. In der folgenden hitzigen Au­seinan­der­set­zung äußert Percival den belei­di­gen­den Vorwurf, Laura habe sich nach einer vore­he­lichen Beziehung zu Walter Hartright erst durch die Heirat mit ihm zu einer ehrbaren Frau gemacht. Daraufhin verweigert Laura die Un­ter­schrift. Sie hätte dadurch ihr Kapitalvermögen ihrem Mann überschrieben.

Graf Foscos Plan

Sir Percival ist hoch verschuldet, und auch Graf Fosco ist in Geldnöten. Kurz nach dem Vorfall begegnet Laura an einem zum Anwesen gehörenden See selbst der geheimnisvollen Anne Catherick. Diese warnt sie erneut vor Sir Percivals Geheimnis. Graf Fosco hat das Zusam­men­tr­e­f­fen beobachtet. Als Sir Percival davon erfährt, ist er außer sich. In einem Brief an Mr. Fairlie schreibt Marian, er möge Laura nach Limmeridge einladen. Sie erhofft sich von der zeitweili­gen Trennung eine Entschärfung der Situation. Graf Fosco fängt den Brief jedoch ab und entwickelt einen Plan. Nachts, in Regen und Kälte, belauscht Marian eine Un­ter­hal­tung zwischen Graf Fosco und Sir Percival über diesen Plan. Unmittelbar darauf erkrankt sie aber so schwer, dass sie nicht eingreifen kann. Sie wird in einem unbewohnten Seitenflügel von Blackwater Park versteckt, kurz bevor Laura nach Limmeridge abreist.

„Dass Laura ihm ihre offene, bitterste Verachtung so klar zum Ausdruck brachte, sah ihr so gar nicht ähnlich, war so konträr zu ihrem sonstigen sanften Wesen, dass es uns allen die Rede verschlug.“ (Marian Halcombe über Laura und Percival Glyde, S. 259)

Laura wird von Sir Percival gezwungen, auf der Fahrt nach Limmeridge im Londoner Stadthaus der Foscos zu übernachten. Die Foscos gaukeln ihr vor, Marian sei bereits dorthin vo­raus­gereist. Auch die herzkranke Anne Catherick wird zu den Foscos gelockt, wo sie stirbt. Laura trifft am folgenden Tag ein und wird betäubt. Die Gräfin zieht ihr Annes weiße Kleidungsstücke an. Kaum ist sie erwacht, wird sie als Anne Catherick vom Leiter der Ir­re­nanstalt, in der Anne früher un­terge­bracht war, in Gewahrsam genommen. Anne Cathericks Leichnam wird als die angeblich verstorbene Laura nach Limmeridge überführt und dort beerdigt. Mehrere Zeu­ge­naus­sagen und Berichte bestätigen dies in Graf Foscos Sinn. Durch Lauras ver­meintlichen Tod erben Sir Percival und ihre Tante, Gräfin Fosco, Lauras Kapitalvermögen. Graf Foscos Plan ist geglückt. Sir Percival und die Foscos sind saniert.

Walter Hartrights Er­mit­tlun­gen

Nach rund einjähriger Abwesenheit ist Walter Hartright als einer der wenigen Überlebenden der Mit­te­lamerika-Ex­pe­di­tion nach England zurückgekehrt, wo er von Lauras Tod erfährt. In tiefer Trauer fährt er zu ihrem Grab nach Limmeridge – als Laura plötzlich vor ihm steht, zusammen mit Marian.

„Meine Mutter kennt das Geheimnis und hat ihr ganzes Leben darunter gelitten.“ (Anne Catherick, S. 294)

Nachdem Marian sich von ihrer Krankheit erholt und von dem angeblichen Tod ihrer Halb­schwester Laura erfahren hatte, setzte sie in London alles daran, Sir Percivals Geheimnis zu ergründen, das Geheimnis, von dem Anne Catherick immer gesprochen hatte. Sie ging in die Ir­re­nanstalt, um Anne zu besuchen – und erkannte ihre Halb­schwester. Indem sie eine Wärterin bestach, gelang es ihr, Laura zu befreien. Sie fuhren nach Limmeridge, doch Mr. Fairlie wollte die junge Frau, die Marian ihm vorführte, nicht als seine Nichte anerkennen. Die Halb­schwest­ern beschlossen, in London un­terzu­tauchen und damit Laura zu schützen, die nunmehr als geflohene Anstaltsin­sassin Anne Catherick galt. Zum Abschied von Limmeridge besuchten sie das Grab von Lauras Mutter, Mrs. Fairlie, neben dem sich auch das Grabmal der ver­meintlich ver­stor­be­nen Laura befand.

„O Gott, zwei Frauen­z­im­mer im Besitz deines Geheimnisses – das ist schlimm, sehr schlimm, mein Freund! Ich verstehe jetzt, warum du die Tochter ins Irrenhaus hast sperren lassen (...)“ (Graf Fosco zu Percival Glyde, S. 343)

Die Halb­schwest­ern und Walter beziehen unter falschen Namen ein ärmliches Häuschen im Londoner East End und führen mit Walters Einkünften als Illustrator eine bescheidene Existenz. Er schwört sich, die Hintergründe des Komplotts aufzuklären und Lauras wahre Identität nachzuweisen. Marian ist dank ihrer Tage­buchaufze­ich­nun­gen und ihres präzisen Gedächtnisses eine wertvolle Hilfe. Walter bittet ver­schiedene Personen, vom Fam­i­lien­an­walt der Fairlies bis hin zur Leichenwäscherin, um Aussagen und Berichte. Der Kompagnon des mit­tler­weile in den Ruhestand getretenen Anwalts der Fairlies nimmt sich wohlwollend der Sache an und schenkt Walters Bericht Glauben. Doch nach seiner ju­ris­tis­chen Beurteilung fehlt der schlüssige Tat­sachen­be­weis, da es keine präzisen Unterlagen oder zweifels­freie Zeu­ge­naus­sagen darüber gibt, wann Laura in London bei den Foscos ankam. Zwar ist sicher, wann Anne Catherick starb, und es lässt sich rekon­stru­ieren, dass Laura erst am Tag danach in London ankam. Aber dafür fehlt ein klarer Beweis.

Sir Percivals Geheimnis

Walter weiß mit­tler­weile, dass er im Auftrag von Sir Percival beschattet wird. Da dieser das Geheimnis, das Walter aufdecken will, am besten kennt, sind seine Agenten immer schon da, wo Walter bei seinen Er­mit­tlun­gen auftaucht. Anne Catherick hat immer behauptet, ihre Mutter Mrs. Catherick kenne das Geheimnis, das Sir Percival ruinieren würde. Deshalb besucht Walter diese Dame an ihrem Wohnort Welmingham in Hampshire. Der Empfang ist un­fre­undlich, aber Walter findet im Gespräch heraus, dass eine lange zurückliegende kom­pro­mit­tierende Szene zwischen Mrs. Catherick und Sir Percival bei einer Sakristei in Welmingham Mrs. Cathericks Ruf in der Ortschaft ruiniert hat. Mrs. Catherick wusste schon damals, dass Sir Percival ein uneheliches Kind war und damit keinen Anspruch auf den Titel eines Baronet Glyde und den Besitz von Blackwater Park hatte, obwohl alle Welt dies glaubte. Walter findet die Bestätigung dafür in einem gefälschten Trau­ung­sein­trag im Kirchenbuch von Welmingham. Doch bevor er den Beweis sichern kann, brennt die Sakristei wegen eines von Sir Percival verur­sachten Feuers ab, in dem dieser selbst ums Leben kommt.

„Aber die Ver­schleierte hatte mich ganz in ihren Bann gezogen, hielt meinen Leib und meine Seele fest. Sie blieb mir gegenüber vor dem Grab stehen, nur die Mar­mor­platte lag zwischen uns (...) Da hob die Frau den Schleier. ,Zum Gedenken an Laura, Lady Glyde –‘ Doch Laura, Lady Glyde, stand neben der Inschrift und blickte mich über das Grab hinweg an.“ (Walter Hartright, S. 425)

Mrs. Catherick war als junge Frau Zofe im Haus eines adligen Majors in Hampshire. Der Major war mit Lauras Vater, dem ver­stor­be­nen Philip Fairlie, befreundet. Dieser war dort oft zu Besuch. Er galt als einer der at­trak­tivsten Männer Englands und Mrs. Catherick ließ sich auf eine Affäre mit ihm ein. Als sie entdeckte, dass sie schwanger war, gelang es ihr noch rechtzeitig, den Küster von Welmingham zu heiraten, sodass ihr Kind als Anne Catherick auf die Welt kam. Anne war also Mr. Fairlies Kind und somit eine Halb­schwester von Laura. Daher rührte auch die Ähnlichkeit zwischen den beiden fast gle­ichal­tri­gen jungen Frauen. Als Anne einmal in einem Streit Sir Percival mit der Aufdeckung von dessen Geheimnis drohte, veranlasste dieser ihre Einweisung in die Ir­re­nanstalt.

„In diesem Moment erkannte Miss Halcombe die eigene Schwester – erkannte die lebende Tote.“ (Walter Hartright über Marian und Laura, S. 435)

Nun ist das Geheimnis gelüftet, aber da das Kirchenbuch verbrannt ist, fehlt der Beweis. Walter Hartright und Laura können sich endlich offen ihre Liebe gestehen und heiraten. Trotz dieser glücklichen Wendung gibt Walter sein Vorhaben, Laura ihren Namen und ihre Stellung zurückzugeben, nicht auf. Als letztes Mittel beschließt er, Graf Fosco direkt mit seinem Wissen zu kon­fron­tieren.

Graf Foscos Geheimnis

Walter beschattet Graf Fosco von dessen Londoner Wohnsitz aus. Eines Abends will Graf Fosco eine Opernaufführung besuchen. Walter vermutet, sein alter Freund, der ital­ienis­che Emigrant Pesca, könnte Graf Fosco kennen, und nimmt ihn deshalb mit in die Oper. Pesca erkennt Fosco zwar nicht, aber überraschen­der­weise scheint der Graf den Kun­st­pro­fes­sor zu kennen – und flieht Hals über Kopf während der Pause. Die beiden Italiener gehören einer Geheimverbindung an. Fosco wurde vor einiger Zeit als Verräter entlarvt und war deswegen in England un­ter­ge­taucht. Denn Verräter werden von der Brud­er­schaft gnadenlos exekutiert. Fosco glaubt sich entdeckt und weiß, dass er noch in dieser Nacht aus England fliehen muss. Pesca trennt sich aufgewühlt von Walter. Dieser schickt ihm in aller Eile per Boten einen Brief hinterher, in dem er Foscos Adresse angibt; er fügt hinzu, dass der Brief erst am nächsten Morgen zu öffnen sei. Dann stellt Walter Fosco in dessen Haus beim Packen. Mit dem Hinweis, dass Pesca den Brief am nächsten Morgen öffnen werde, falls Walter das nicht verhindere, nötigt er Graf Fosco ein umfassendes schriftliches Geständnis seines Komplotts ab, einschließlich der Angabe genauer Daten von Annes Tod und Lauras Ankunft in London. Am folgenden Morgen kann Fosco entkommen, wird aber bereits von Häschern der Brud­er­schaft beschattet und später in Paris exekutiert.

„Ohne die verhängnisvolle Ähnlichkeit zwischen den zwei Töchtern eines Vaters hätte der ver­brecherische Anschlag, bei dem Anne das unschuldige Werkzeug und Laura das unschuldige Opfer war, nie geplant werden können.“ (Walter Hartright, S. 573)

Walter, Laura und Marian kehren mit den Beweisen von Lauras Identität nach Limmeridge zurück. Mr. Fairlie erkennt seine Nichte an, und die Inschrift auf dem Grab wird geändert. Im da­rauf­fol­gen­den Jahr kommt Lauras und Walters Sohn zur Welt. Mr. Fairlie stirbt ein halbes Jahr später an einem Schla­gan­fall.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der äußeren Form nach setzt sich Die Frau in Weiß aus einer ganzen Reihe von Berichten ver­schiedener Personen zusammen. Das ergibt in­ter­es­sante Per­spek­tiven­wech­sel. Die Berichte sind nach Zeitab­schnit­ten gruppiert. Der erste reicht bis zur Abfahrt von Laura und Sir Percival zu ihrer Hochzeit­sreise. Der zweite umfasst die Ereignisse in Blackwater Park bis zu Lauras ver­meintlichem Tod. Der dritte Abschnitt schildert Walters Er­mit­tlun­gen von London aus. Die wesentlichen erzählerischen Passagen stammen von Walter Hartright und Marian Halcombe. Trotz der Aufteilung auf ver­schiedene erzählerische Stimmen folgt der Leser leicht der Handlung, weil Collins sich an den chro­nol­o­gis­chen Ablauf der Ereignisse hält. Meisterhaft und mit großem psy­chol­o­gis­chem Einfühlungsvermögen gelingen Collins charak­ter­is­tis­che Schilderun­gen von Personen, Orten und Atmosphäre. Seine Dialoge geben sowohl den geschlif­f­e­nen Ton der Oberschicht als auch die Sprechweise der einfachen Leute treffend wieder.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Frau in Weiß ist ein stark durchkom­poniertes Werk. Alle Figuren, Motive und Ereignisse, alle krim­i­nal­is­tis­chen und ju­ris­tis­chen Details haben eine dra­matur­gis­che Funktion bei der Auflösung der raf­finierten Ver­flech­tun­gen und der rationalen Erklärung des Komplotts.
  • Die Hauptfigur, Walter Hartright, ist kein pro­fes­sioneller Detektiv wie etwa Conan Doyles Sherlock Holmes, aber er ermittelt die Hintergründe des Komplotts genauso methodisch wie die späteren Detektive und Kommissare.
  • Collins’ Werk ist auch ein Gesellschaft­sro­man. Die Vorstel­lun­gen und Kon­ven­tio­nen der vik­to­ri­an­is­chen Gesellschaft, das Mit- und Nebeneinan­der der sozialen Schichten sind nicht nur Hintergrund, sondern ein bewusst gestaltetes Element des Romans mit gesellschaft­skri­tis­chen Tönen.
  • Besonderes Augenmerk gilt in diesem Zusam­men­hang den Frauen, die Collins facetten­re­ich vorführt: vom un­schuldig-naiven Mädchentyp der Laura über die verhärmte, fast bösartige Mrs. Catherick bis zur beherzten und klugen Marian Holcombe. In ihrer beinahe emanzip­ierten Art ist Marian bewusst ganz entgegen dem tra­di­tionellen vik­to­ri­an­is­chen Frauenbild gestaltet. Der geniale Strip­pen­zieher und Bösewicht des Buches, Graf Fosco, zollt ihr dafür ausdrücklich Anerkennung.
  • Die männlichen Haupt­fig­uren sind allesamt ambivalent gezeichnet. Sir Percival ist ebenso höflich wie brutal, Graf Fosco sehr zwielichtig und exzentrisch. Der brave Walter Hartright wächst als edler Ritter im Kampf um den Namen seiner Geliebten weit über seine bürgerlichen Grun­dan­la­gen hinaus.
  • Dezent durchzieht vor allem in den Dialogen ein ironischer Unterton den gesamten Roman. Auch dies ist ein Mittel von Collins’ Kritik, der dem gesellschaftlichen Treiben distanziert gegenüberstand.
  • Vollends deutlich wird Collins’ Gesellschaft­skri­tik an der Art und Weise, wie Laura durch Bevor­mundung und Gewalt zum Opfer der pa­tri­ar­chalis­chen Verhältnisse im Vik­to­ri­an­is­mus wird – bis hin zu ihrem gesellschaftlichen Tod.

His­torischer Hintergrund

Die Entwicklung des Krimis aus dem Geiste des Schauer­ro­mans

Eine Vorliebe für Grusel- und Schauer­ef­fekte in Literatur und Kunst gibt es erst seit der Romantik. Das vo­r­ange­hende Barock- und Aufklärungszeital­ter hatte für so etwas keinen Sinn. Für diese Epoche galten Verbrecher und Außenseiter der Gesellschaft, ja selbst das einfache Volk nicht als literaturwürdig. Gleichwohl las man auch schon im Rokoko mit Schaudern die Sammlung berühmter und in­ter­es­san­ter Rechtsfälle des französischen Juristen François Gayot de Pitaval, die er ursprünglich als Fall­samm­lung für Juristen her­aus­ge­bracht hatte. Das Buch wurde zu einem Bestseller seiner Zeit; Friedrich Schiller sorgte für eine deutsche Ausgabe. Mit Pitavals Sammlung ist auch die erste deutschsprachige Krim­i­nal­nov­elle verknüpft, Das Fräulein von Scuderi von E. T. A. Hoffmann, der von Haus aus ebenfalls Jurist war. Eine der bekan­ntesten Bühnenszenen mit bewusst konzip­ierten Gruse­l­ef­fek­ten ist die nächtliche Wolf­ss­chlucht-Szene in der Oper Der Freischütz von Carl Maria von Weber. Das Schaurige, Nächtliche, Abgründige faszinierte die Romantiker. Es findet sich auch in den Werken des Kreises um Lord Byron. Franken­stein von Mary Shelley, einer Freundin Byrons, entsprang einer ähnlichen Vorliebe und begründete das Genre des Hor­ror­ro­mans mit.

In der en­glis­chsprachi­gen Literatur gelten drei Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe als die ersten Geschichten mit einem Detektiv. Poes Held Dupin ist noch kein pro­fes­sioneller Ermittler, sondern ein Gen­tle­man-De­tek­tiv, der seine Fälle durch logische Deduktion löst. Poes übriges Gesamtwerk ist deutlich mit Schauer- und Hor­ror­ef­fek­ten durchsetzt. In Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts wurden Verbrechen und Verbrecher dann immer mehr zu einem literaturwürdigen Thema, etwa bei Fjodor M. Dostojewski (Schuld und Sühne, Die Brüder Karamasow), auch wenn es hier in erster Linie um grundle­gende moralische Fragen geht und nicht um Ver­brechen­saufklärung.

Von allen schau­rig-grus­li­gen Schlacken befreit erscheint der Ver­brechenser­mit­tler schließlich im Werk von Wilkie Collins. Erst hier wird die Ermittlung zentraler Gegenstand des Romans. Hergang und Motive des Komplotts werden restlos und völlig rational aufgeklärt. Arthur Conan Doyle schuf dann mit Sherlock Holmes den ersten De­tek­tiv-Se­rien­helden.

Entstehung//

//Eine Anregung zu dem Werk erhielt Wilkie Collins von einem seinerzeit berühmten Krim­i­nal­fall in Frankreich. Und die Eröff­nungsszene hat Collins angeblich selbst so ähnlich erlebt, als er eines Nachts nach London zurückkehrte und in der Nähe des Regent’s Park auf eine aus einem nahe gelegenen Sanatorium entflohene Frau traf. Collins machte sich vor der Nieder­schrift seiner Romane stets einen genauen Plan des Hand­lungsablaufs. Er war auch dafür bekannt, dass er Texte intensiv übe­rar­beit­ete, um den Sätzen angesichts der ver­schlun­genen Handlung möglichst viel Klarheit zu geben.

Wie im 19. Jahrhundert üblich, erschien Die Frau in Weiß zunächst als Fort­set­zungsro­man, und zwar in der von Charles Dickens her­aus­gegebe­nen, wöchentlich er­scheinen­den Fam­i­lien­zeitschrift All The Year Round, und 1860 dann auch als Buch. Die Kunst, Span­nungs­bo­gen zu bauen, die die Leser bis zur nächsten Fortsetzung in Atem halten, beherrschte Collins meisterhaft. Dickens war nicht nur der lit­er­arische Mentor von Collins, sondern sie wurden auch enge Freunde.

Wirkungs­geschichte

Die britischen Leser waren von der Frau in Weiß sogleich vollauf begeistert. Collins wurde zu einem der best­bezahlten Autoren seiner Epoche. Diese Art von Romanen wurde damals „Sen­sa­tion-Novel“ genannt. Als Sensation galten der vik­to­ri­an­is­chen Gesellschaft skandalöse Verbrechen wie Verführung, Ehebruch, Kindesentführung, Urkundenfälschung, Erpressung und natürlich Mord – also alles, was den Mitgliedern der ehrbaren bürg­er­lich-aris­tokratis­chen Gesellschaft einfach undenkbar erschien.

T. S. Eliot war derjenige, der Collins als den Erfinder des Krim­i­nal­ro­mans bezeichnete und ausdrücklich hinzufügte: „und nicht Poe.“ Die Schrift­stel­lerin Dorothy L. Sayers beurteilte Die Frau in Weiß als „den vermutlich besten Krim­i­nal­ro­man, der jemals geschrieben wurde“. Eine deutsche Übersetzung der Frau in Weiß stammt von Arno Schmidt.

Bereits in der Stumm­filmzeit gab es mehrere Ver­fil­mungen des Romans. Auch das Hol­ly­wood­kino nahm sich des Stoffs an, und sogar im Russland der Sowjetzeit wurde das Buch verfilmt. Ferner gab es zwei Mehrteiler in der BBC und einen sehr er­fol­gre­ichen WDR-Dre­it­eiler mit Heidelinde Weis, Christoph Bantzer und Pinkas Braun als Laura, Walter und Sir Percival. Andrew Lloyd Webber machte 2005 ein Musical aus dem Stoff.

Über den Autor

Wilkie Collins wird am 8. Januar 1824 in London geboren. Sein Vater ist ein anerkannter Land­schafts­maler. Einen Teil seiner Jugend verbringt Collins mit seinen Eltern in Italien. Im Alter von 17 Jahren beginnt er auf Wunsch des Vaters eine kaufmännische Ausbildung in einer Tee­han­dels­firma, darauf folgen ein Jurastudium und die Zulassung zum Anwalt. Lange schwankt der aus­ge­sprochen in­tel­li­gente und vielseitig begabte Collins zwischen der Berufung zum Maler und jener zum Schrift­steller, bis er sich 1850 mit der Veröffentlichung seines ersten Romans Antonia endgültig für das Schreiben entscheidet. Seinen für ihn fortan sehr wichtigen lit­er­arischen Mentor Charles Dickens lernt Collins 1851 kennen. Die beiden werden Freunde und schrift­stel­lerische Kollegen, die eng zusam­me­nar­beiten. Collins ist als Autor sehr produktiv: Er verfasst 25 Romane und 50 Erzählungen, die allerdings nicht alle das gleiche Echo beim Publikum finden. 1860 und 1868 gelingen ihm mit Die Frau in Weiß (The Woman in White) und Der Monddiamant (The Moonstone) zwei Meis­ter­w­erke, die von den Zeitgenossen sofort anerkannt werden und Collins’ Marktwert als Autor in die Höhe treiben. Der etwas verwachsene Collins leidet zeitlebens an Rheuma­tismus. Als Schmerzmit­tel nimmt er das im 19. Jahrhundert allgegenwärtige Laudanum, eine Opi­umtink­tur, regelmäßig zu sich. Die Rauschgift­sucht verstärkt sich nach Dickens’ Tod. Hal­luz­i­na­torische Effekte bleiben nicht aus, die geistigen Kräfte schwinden. Collins bleibt zeit seines Lebens un­ver­heiratet, unterhält aber ab den 1860er-Jahren gle­ichzeitig Beziehungen zu zwei Frauen. Mit der 20 Jahre jüngeren Martha Rudd hat er drei Kinder. Die ältere Caroline Graves heiratet zwar einen anderen Mann, kehrt jedoch nach dessen Tod zu Wilkie Collins zurück. Die Dreiecks­beziehung bleibt bis zu seinem Lebensende bestehen. Wilkie Collins stirbt nach einem Herzinfarkt am 23. September 1889 und wird auf dem Friedhof Kensal Green in London begraben.