Der Weg in die Krise
Lange Zeit floss zu viel Geld in den US-Immobilienmarkt. Selbst so genannte Ninjas – Menschen ohne Einkommen, Arbeit und Vermögen („no income, no job, no assets“) – erhielten Kredite für den Hauskauf. Die US-Regierung unter Bill Clinton hatte staatlich geförderte Institute wie Fannie Mae regelrecht dazu ermutigt. Die Spirale aus steigenden Häuserpreisen und sinkenden Kreditkosten kumulierte, angeheizt durch Finanzinnovationen wie die Verbriefung von Forderungen, im Jahr 2005; die Verluste der Banken auf dem Subprime-Markt waren in den Folgejahren verheerend. Nach dem Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 stand die Wirtschaft kurz vor dem Kollaps: Milliarden von Dollars wurden innerhalb kurzer Zeit aus dem US-Geldmarkt abgezogen. Indem Regierung und US-Zentralbank Fed beherzt eingriffen und Garantien aussprachen, bewahrten sie das Finanzsystem vor dem Totalversagen. Diese Eingriffe verhinderten allerdings nicht, dass die Krise immer weitere Kreise zog: Die Rohstoffpreise, die Aktienkurse und die Konjunktur brachen nacheinander ein. Es kam zu drastischen Zinssenkungen, dennoch liehen sich die Menschen kein weiteres Geld mehr. Der Grund: Kaum jemand nimmt einen Kredit auf und investiert, wenn er ängstlich in die Zukunft blickt. Da können die Zinsen noch so niedrig sein. Um diese Nachfragelücke zu füllen, begann man weltweit, eine Idee von John Maynard Keynes umzusetzen und Konjunkturprogramme aufzulegen, so wie zur Blütezeit des Keynesianismus nach dem Zweiten Weltkrieg.
Wer ist schuld?
Die Banker hatten viel zu lange viel zu großzügig Kredite ausgegeben – zunächst aufgrund der Intransparenz der Finanzinstrumente, aber auch, um ihre kurzfristigen Boni und Gewinne zu maximieren. Dennoch weisen die Banker die Verantwortung für das Desaster von sich und verteidigen ihre Instrumente und deren gesamtwirtschaftlichen Nutzen bis aufs Messer. Doch in der Zeit keynesianischer Wirtschaftspolitik von 1951 bis zur Ölkrise 1973 lag das Weltwirtschaftswachstum über dem der Folgejahre – auch ohne solche Finanzinstrumente. Die Kritik an den Banken trägt allerdings Züge einer Hexenjagd: Es ist unsinnig, die Banker einerseits wegen leichtfertiger Kreditvergabe zu beschimpfen und sie andererseits aufzufordern, durch Kreditvergabe die Wirtschaft anzukurbeln. Ebenso wenig wie sich die Krise allein den Banken anlasten lässt, kann man die Ratingagenturen, Hedgefonds oder Finanzaufseher dafür verantwortlich machen. Falsch waren vielmehr die ökonomischen Theorien, denen sie alle folgten. Es handelt sich um ein intellektuelles Versagen.
Rationale Erwartungen und effiziente Märkte
Die zeitgenössische Wirtschaftswissenschaft hat versagt. Sie hat die Jahrhundertkrise, die wir erlebt haben, weder kommen sehen, noch kennt sie ein Rezept, das uns vor künftigen Krisen schützen könnte. Ihr Kern ist eine verrückte Idee, die „Theorie der rationalen Erwartungen“, an die die meisten Mainstream-Ökonomen glauben. Demnach machen alle Marktteilnehmer im Durchschnitt zutreffende Vorhersagen über künftige Preise. Seit Jahrzehnten verbreiten Ökonomen die Schlussfolgerung, dass alle Marktergebnisse effizient seien. Krisen sind demnach die Ausnahme, und jedes Mal folgt ihnen eine adäquate Anpassung – fertig. Diese Lehre hat die aktuelle Krise letztlich verursacht. Die Debatte darüber, warum es zum weltweiten Debakel gekommen ist, ist eine Neuauflage des Streits, der sich nach der Großen Depression entwickelte. Konservative Ökonomen weisen die Schuld – genau wie damals – der allzu laxen Geldpolitik der Fed zu: Zu niedrige Zinsen hätten zu einer Geldschwemme geführt. Dagegen betrachten Ökonomen, die den Ansichten von Keynes folgen, den weltweiten Anstieg der Ersparnisse als Ursache der Krise.
„Keynes gibt uns die richtige Art von Theorie zur Hand, auch wenn sie naturgemäß nicht das letzte Wort zu Ereignissen Jahrzehnte nach seinem Tod sein kann.“
Die zeitgenössischen Ökonomen lassen sich zwei Denkschulen zuordnen. Die Neoklassiker vertreten hauptsächlich die Theorie der rationalen Erwartungen. Sie arbeiten häufig mit mathematischen Modellen. In der Annahme, dass Märkte effizient sind, entwarfen sie Risikomanagementmodelle, die die Finanzindustrie auf immer neue Felder ausweitete. Kreditrisiken, Marktrisiken, Katastrophenrisiken – alles wurde versichert. Viele dieser Risiken sind aber schlicht nicht berechenbar. So ignoriert z. B. die Theorie der statistischen Normalverteilung, die von vielen Banken angewendet wird, dass Risiken miteinander verflochten sind. Zudem sind Wahlausgänge oder andere so genannte politische Risiken nicht vorhersehbar. Das erklärt die Überraschung neoklassischer Ökonomen angesichts der Krise und ihre Unfähigkeit, sie zu erklären.
„Die Wirtschaftswissenschaft – die wissenschaftliche Untersuchung des wirtschaftlichen Lebens – hat sich als im höchsten Grad unfähig erwiesen, diese Jahrhundertkrise zu erklären.“
Dieses Schicksal teilen die Neoklassiker mit den Neukeynesianern. Zwar berücksichtigen letztere in ihren Modellen politische Interventionen, sie unterscheiden zwischen kurz- und langfristiger Sicht und führen Abweichungen vom rationalen Ideal auf Informationsprobleme zurück. Doch auch sie folgen zu einem großen Teil dem neoklassischen Denkgebäude: Sie gehen grundsätzlich von rationalen Erwartungen aus und überschätzen die Logik im menschlichen Verhalten. Darum erleben derzeit nicht die Neukeynesianer ein Comeback, sondern Keynes’ Theorien.
Keynes – damals modern, heute modern
Der Abschied von der neoklassischen Lehre ist überfällig. Die Idee der freien Marktwirtschaft, der Politiker wie Reagan und Thatcher folgten, steht für eine veraltete wirtschaftswissenschaftliche Lehrmeinung, die schon früher einmal von einer modernen abgelöst wurde: dem Keynesianismus. Keynes wies bereits vor 70 Jahren darauf hin, dass die Menschen sich in einer Krise nicht einfach den neuen Koordinaten anpassen. Sie sind verunsichert, fürchten mögliche Zukunftsszenarien, und warten schlicht ab. Diese Starre lähmt das Wirtschaftsleben. Keynes bot zwei zusammengehörende Lösungen für dieses Problem. Erstens sollte die Wirtschaft in dieser Situation vom Staat stimuliert werden. Diesen Rat haben die Länder in der derzeitigen Krise beherzigt. Zweitens sollte der Staat durch Regulierung dafür sorgen, dass sich derartige Krisen künftig nicht mehr oder zumindest nur noch in abgeschwächter Form ereignen. Und dieser Aufgabe sind die Staaten – wie man an den halbherzigen Reformen in den USA und der EU sieht – noch nicht nachgekommen.
Verbreitete Vorurteile gegen Keynes
Viele Leute haben ein Zerrbild der keynesianischen Lehren in ihrem Kopf. Haben Sie auch den Eindruck, Keynes sei Sozialist gewesen? Glauben Sie, er habe für hohe Staatsschulden, Steuern und Staatsausgaben plädiert? Und haben Sie auch gehört, dass Keynes ein Befürworter der Inflation war? All das ist nicht korrekt. Wovon er vielmehr überzeugt war, ist die Neigung des Marktes zu starken Schwankungen. Seine wirtschaftspolitischen Absichten zielten darauf, diese Pendelausschläge zu minimieren. Seine moralischen Überzeugungen hatten individualistische Wurzeln, nicht kollektivistische. Er befürchtete, dass politische Extremisten die Verlierer des Marktsystems instrumentalisieren könnten, um der Zivilisation – darunter verstand er den Frieden, die Freiheit und die Märkte – ein Ende zu bereiten. Darum ordnete er der Politik die Aufgabe zu, Vollbeschäftigung anzustreben.
Interdisziplinäre Ökonomie
Philosophie, Geschichte, Psychologie: Keynes integrierte Erkenntnisse mehrerer geisteswissenschaftlicher Disziplinen in die Volkswirtschaftslehre. Letztlich war er kein typischer Ökonom: Er bewegte sich außerhalb der Denkmuster damaliger wie heutiger Ökonomen. Er konnte überzeugen, sein Ausdruck war brillant. Dabei kam ihm der Kontakt mit Künstlern und Schriftstellern zugute. Deren Geld war sein Startkapital, das er für Spekulationsgeschäfte nutzte. Nach mehreren Krisen und damit verbundenen Vermögensverlusten stellte er fest, welch wichtige Rolle Erwartungen an der Börse und im Geschäftsleben spielen. Dieses Wissen münzte er in eine Theorie um. Zockte er anfangs noch, schwenkte er schließlich um auf das Prinzip „kaufen und halten“. Dem entsprach seine Überzeugung, dass in Volkswirtschaften stabile Investitionen nötig sind.
Keynes’ Theorie
Nach Keynes werden die Menschen nicht von der „unsichtbaren Hand“ des Marktes (Adam Smith) und damit von den jeweiligen Knappheiten gesteuert, sondern von Konventionen. Damit sind Annahmen über die Zukunft, sozusagen Faustregeln, gemeint, von denen die Menschen überzeugt sind. Sie setzen den Rahmen für das menschliche Verhalten und sorgen, falls die Annahmen weit verbreitet sind, für massenhaft gleichgerichtetes Verhalten – was z. B. steigende oder fallende Aktienkurse zur Folge haben kann.
„Keynes war kein Verstaatlicher, er war noch nicht einmal ein sonderlich großer Regulierer.“
Nicht der Rationalität, sondern der Unsicherheit räumte Keynes einen wichtigen Platz in seinem Theoriegebäude ein. Dem gängigen Argument, jedes Angebot schaffe sich seine eigene Nachfrage, widersprach er ebenso wie der Annahme, dass jeder Markt zum Gleichgewicht und damit letztlich zur Vollbeschäftigung tendiere. Es stimmt nämlich nicht, dass alles, was gespart wird, für Investitionen zur Verfügung steht. Dies ist z. B. dann nicht der Fall, wenn die Menschen aus Zukunftsangst Geld horten. Für die Weltwirtschaftskrise ergibt sich somit folgende Erklärung: Verunsicherte Menschen konsumieren weniger und sparen mehr, doch die Ersparnisse werden nicht investiert, sondern dem Kreislauf entzogen. Daraus folgt, dass die Investitionen stark schwanken. An dieser Stelle sollte Staat gemäß Keynes als Nachfrager auftreten und so den Schwankungen entgegensteuern.
Bilanz der keynesianischen Praxis
Das Vierteljahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg gilt als Goldenes Zeitalter des Keynesianismus. Rund um den Globus fühlten sich Regierungen für Wachstum und Beschäftigung verantwortlich. Viele Märkte wurden reguliert und Institutionen wie der Internationale Währungsfonds und das Währungssystem von Bretton Woods, die wirtschaftliche Depressionen verhindern sollten, wurden ins Leben gerufen. Den Erfolg erlebte Keynes nicht mehr mit, er starb 1946.
„Die Neukeynesianer stellen den gesunden Menschenverstand über die Logik, während die neoklassischen Ökonomen die Logik über den gesunden Menschenverstand stellen. Damit stehen die Politiker vor einer wenig beneidenswerten Wahl.“
Dass seine Lehre von vielen fehlerhaft interpretiert wurde, war ihm allerdings bewusst. In den USA beispielsweise etablierte sich ein „Bastard-Keynesianismus“. Dessen Vertreter befürworteten Keynes’ Handlungsempfehlungen, nicht aber sein theoretisches Gebäude. Solche Vereinnahmungen hat Keynes geduldet: Ihm lag mehr daran, die Politik zu beeinflussen als die Theorie.
„In der Hauptrichtung der heutigen ökonomischen Theorie spielt die Mathematik eine noch größere und der gesunde Menschenverstand praktisch keine Rolle mehr, und damit ist sie weiter von der keynesianischen Ökonomie entfernt als je.“
Das Goldene Zeitalter ging in den 1970er Jahren zu Ende, als sich durch Niedrigzinspolitik und Budgetdefizite das Problem der Inflation einstellte. Darauf reagierte die ökonomische Zunft mit Theorien, die in wesentlichen Punkten eine Abkehr von keynesianischen Lehren darstellten. Dass die Politik diesem Wandel folgte, lag auch an der Lobbyarbeit der Profiteure von Steuersenkungen. Bei allen Fehlern und aller Selbstüberschätzung, die die keynesianische Praxis zuweilen kennzeichneten: Die Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten ist heute höher, die weltweite Wachstumsrate niedriger als damals.
Keynes’ Comeback
Die aktuelle Krise hat nicht nur ein intellektuelles Versagen marktgläubiger Ökonomen und Zentralbanker an den Tag gebracht, sondern auch ein moralisches. Statt Keynes’ ethischem Ziel, dem „guten Leben“, zu folgen, ist für sie das Geld der einzige Wert, der zählt. Nötig ist darum auch eine Reform des Wirtschaftsstudiums. Künftige Ökonomen sollten sich – so wie Keynes – nicht als Mathematiker, sondern als Geisteswissenschaftler begreifen und Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie und Geschichte einbeziehen.
„Es wäre großartig, wenn Dozenten und Studenten der Wirtschaftswissenschaften gezwungen wären, sich mit Dozenten und Studenten der Philosophie oder Geschichte auszutauschen.“
Keynes würde heute vermutlich folgende Maßnahmen vorschlagen: Im Finanzsektor muss das risikoreiche Investmentbankgeschäft strikt von anderen Geschäften getrennt werden. Investmentbanken dürfen z. B. nicht von einer staatlichen Einlagensicherung profitieren. Staatsschulden sind im Krisenfall durchaus ein hilfreiches Instrument, solange die Politiker sich von der Illusion verabschieden, die Konjunktur bis ins Detail steuern zu können. Wechselkurse sollten staatlich kontrolliert werden. Dann wären Ungleichgewichte wie das durch den Überkonsum der USA und die Sparwut Chinas ausgelöste nicht mehr möglich.
„Keynes wäre kein glühender Befürworter der Globalisierung gewesen, und das nicht nur aus Gründen der Vorsicht.“
Sofern es nicht gelingt, Arbeitslosigkeit mit anderen Mitteln abzubauen, ist laut Keynes sogar Protektionismus erlaubt: Etwas unrentabel zu produzieren ist besser, als gar nichts zu produzieren. Vollbeschäftigung ist das oberste Ziel, dem alle anderen unterzuordnen sind.