Nachbeben

Buch Nachbeben

Amerika am Wendepunkt

Campus,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

In den USA werden die Reichen immer reicher und die Mit­telschicht wird immer ärmer. Das ist die Kernthese, von der der ehemalige US-Minister für Arbeit, Robert Reich, in seinem Buch ausgeht. Er vergleicht die heutigen Reformen in Amerika mit denjenigen zur Zeit der Großen Depression. Dabei kommt er zum Schluss, dass die Mit­telschicht mit weiteren Reformen finanziell gestärkt werden muss. Zugleich plädiert er dafür, die reiche Oberschicht höher zu besteuern. Nur durch eine Vermögen­sumverteilung könne die amerikanis­che Wirtschaft wieder auf die Beine kommen. Was der breiten Bevölkerung aus Reichs Sicht fehlt, ist die Kaufkraft – die Grund­vo­raus­set­zung für eine wirtschaftliche Erholung. Seine Forderungen begründet der Wirtschaftswis­senschaftler mit vielen Zahlen­beispie­len. Es ist ein in­ter­es­santes, in sich schlüssiges Werk, beileibe kein Buch mit lang­weiliger Theorie. Freilich kann man sich über den politischen Standpunkt streiten. BooksInShort empfiehlt das Buch allen, die sich für die amerikanis­che Wirtschaft und für Re­for­mvorschläge in­ter­essieren.

Take-aways

  • Die Haup­tur­sache der Großen Depression in den 1930er Jahren war die Konzen­tra­tion von Einkommen in den Händen weniger.
  • Der Mit­telschicht fehlte die Kaufkraft.
  • Nach Jahrzehnten des Wohlstands geriet die US-Wirtschaft in den 1970ern in eine Abwärtsspirale, weil die Gehälter der Mit­telschicht trotz flo­ri­eren­der Geschäfte stagnierten.
  • Um das Fam­i­lieneinkom­men aufzubessern, arbeiteten die Leute länger. Immer mehr übernahmen mehrere Jobs. Zudem brauchten sie ihre Ersparnisse auf.
  • Das Kernproblem ist, dass neu entstandene Arbeitsplätze in der Regel eine schlechtere Bezahlung mit sich bringen als frühere Jobs.
  • Die Menschen sind unzufrieden. Keine andere Klasse von Medika­menten geht in den USA so häufig über die Ladentheke wie An­ti­de­pres­siva.
  • Die reichsten Bürger dis­tanzieren sich vom Rest des Volks: mit exklusiven Wohn­vierteln, weiträumigen Bürokomplexen und Eliteschulen für ihre Kinder.
  • Das Paradoxe ist, dass die Reichen zu wenig ausgeben. Sie leben in Relation zu ihrem Einkommen bescheiden.
  • Der Staat muss für eine gerechte Einkom­mensverteilung sorgen.
  • Die Sozialver­sicherung, eine gute In­fra­struk­tur und der Ausbau der Schulen und Universitäten sind wichtig für das Funk­tion­ieren einer Gesellschaft.
 

Zusammenfassung

Die Erken­nt­nisse des Marriner Eccles

Die Weltwirtschaft­skrise, die 2007 begann, weist einige Parallelen zur Großen Depression der 1930er Jahre auf. Unter der Regierung Franklin D. Roosevelts bekämpfte der Ökonom Marriner Eccles die Krise. Er war zunächst Berater des Fi­nanzmin­is­teri­ums, später stand er dem amerikanis­chen Zen­tral­bankrat vor. Seine Karriere als Banker machte ihn bereits im Alter von 24 zum Millionär. Mit 40 Jahren steuerte er ein Eisenbahn-, Hotel- und Ver­sicherungsim­perium. Die Krise überstand er unbeschadet, weil seine Banken ausreichend mit Kapital aus­ges­tat­tet waren. Während führende Ökonomen damals dafür plädierten, lediglich den Staat­shaushalt in Ordnung zu bringen, und darauf bauten, dass sich die Wirtschaft von allein erholen werde, vertrat Eccles eine andere Meinung: Er bezweifelte, dass die Unternehmen investieren würden, solange die Kaufkraft der Bevölkerung so gering war. Die Menschen konnten sich nicht einmal mehr das Leben­snotwendig­ste kaufen. Eccles sah die Rezession nicht als ein gottgegebenes Phänomen an – im Unterschied zu anderen Experten, die mit Blick auf die Bibel von sieben mageren Jahren sprachen. Eccles setzte durch, dass der Staat mehr Kredite aufnahm, damit die mangelnden Ausgaben der Verbraucher aus­geglichen wurden. Er machte sich für ein umfassendes Reformpaket stark und plädierte für Ar­beit­slosen­hilfe, öffentliche Bauprojekte, staatliche Hy­potheken­re­fi­nanzierun­gen, Mindestlöhne, sub­ven­tion­ierte Renten sowie höhere Steuern für die Reichen. So ebnete er den Weg aus der Krise. Seine wichtigste Erkenntnis war, dass die Haup­tur­sache der Krise darin zu suchen ist, dass sich das Einkommen in den Händen weniger konzen­tri­erte, während der übrigen Bevölkerung die nötige Kaufkraft fehlte.

Die Lehren aus den 1930er Jahren

Die Einkom­mensverteilung in der Bevölkerung darf nicht in eine Schieflage geraten. Es muss immer für ein Gle­ichgewicht gesorgt werden. Die breite Mit­telschicht braucht genügend Kaufkraft, sonst bahnt sich rasch die nächste Krise an. Nach der jüngsten Rezession gilt es, besonders aufzupassen, dass die hohe Ar­beit­slosigkeit und die niedrigen Löhne nicht zum Dauerzu­s­tand werden. Sonst ist mit dem wachsenden Zorn der Menschen und einem sozialen Nachbeben zu rechnen. Prob­lema­tisch ist, dass der Reallohn des Durch­schnittsar­beit­ers seit drei Jahrzehnten kaum gestiegen ist. Ein Großteil der Produktivitätsgewinne floss stattdessen in die Taschen der Spitzen­ver­di­ener. Überall im Land haben sich die reichsten Bürger vom Rest des Volks distanziert. Sie wohnen abgeschieden in exklusiven Wohn­vierteln und arbeiten in weiträumigen Bürokomplexen. Sie umgeben sich mit privaten Wachleuten, genießen luxuriöse Wellnessbäder und schicken ihre Kinder in Eliteschulen. Gle­ichzeitig muss sich die Mehrheit der Menschen mit einem man­gel­haften Angebot an Parks, Bib­lio­theken und öffentlichen Schulen abfinden.

„Das grundle­gende Problem ist, dass die Amerikaner nicht mehr genügend Kaufkraft besitzen, um das zu kaufen, was die eigene Volk­swirtschaft produzieren kann.“

Von Marriner Eccles können wir lernen, wie wichtig die Sozialver­sicherung, eine gute In­fra­struk­tur und der Ausbau der Schulen und Universitäten sind. Präsident Roosevelt finanzierte seine Maßnahmen zunächst mit staatlichen Mitteln. Deshalb ging es der Mit­telschicht später besser, sie genoss mehr Sicherheit und Wohlstand. Zwar war Amerika hoch verschuldet, doch dank des Wirtschafts­booms konnte die Regierung einen Großteil der Kredite zurückzahlen. Die Obama-Regierung hat zwar auch Liquidität ins Wirtschaftssys­tem gepumpt, um eine Verschärfung der Krise zu vermeiden. Doch wurde die Mit­telschicht, abgesehen von der Kranken­ver­sicherungsre­form, nicht gestärkt.

Ar­beit­nehmer sind auch Verbraucher

Im Jahr 1914 begann Henry Ford, seinen Arbeitern pro Tag 5 $ zu zahlen – fast das Dreifache des durch­schnit­tlichen Fab­rikar­beit­er­lohns. Diese Maßnahme rechnete sich für das Unternehmen, weil die höheren Löhne die Mitarbeiter wiederum zu Kunden machten. Ford erkannte diesen Zusam­men­hang. Auch der britische Ökonom John Maynard Keynes kam zum Schluss, dass die Einkommenshöhe der Arbeiter und die Nachfrage der Kunden in Relation zueinander stehen. Während die meisten Experten in der Krise von einer Selb­s­theilung der Wirtschaft ausgingen, plädierte Keynes für eine Korrektur, wenn die Ar­beit­slosigkeit und die Verteilung des Volksvermögens aus dem Ruder liefen. Eccles und Keynes be­tra­chteten übere­in­stim­mend eine hohe Ar­beit­slosigkeit als eine Folge fehlender Nachfrage. Keynesʼ Rezept war makroökonomischer Natur: In Krisen ist die Geldmenge zu erhöhen, was wiederum die Zinssätze senkt, sodass Verbraucher und Unternehmer kostengünstiger Kredite aufnehmen können. Ferner soll die Regierung die Ausgaben erhöhen, um die mangelnde Nachfrage der Verbraucher zu kom­pen­sieren.

Warum die Vermögen­skonzen­tra­tion der Wirtschaft schadet

Ein Paradox unserer Zeit ist, dass die Reichen zu wenig ausgeben. Sie leben in Relation zu ihrem Einkommen bescheiden. Wer Geld ausgibt, löst einen Mul­ti­p­lika­tor­ef­fekt aus. Jeder Dollar, den jemand für eine Ware oder Di­en­stleis­tung ausgibt, fließt zunächst zum Produzenten oder Erbringer derselben, dann weiter zu dessen Zulieferern, die wiederum Güter einkaufen. Im 19. Jahrhundert vertrat der britische Philosoph Jeremy Bentham die Ansicht, jedes Gesetz müsse dazu führen, dass die Gesellschaft insgesamt glücklicher werde. Dabei gewichtete er das Glück jedes Einzelnen gleich. Nach Bentham würde die Besteuerung der Wohlhaben­den zugunsten der Armen zu mehr Glück insgesamt führen. Betrachten Sie als Beispiel Kenneth Lewis, den früheren Chef der Bank of America: Lewis verdiente im Jahr 2007 annähernd 100 Millionen Dollar, obwohl er seine Bank fast in den Ruin trieb. Wäre das Gehalt statt an ihn an 2000 Familien geflossen, sodass jede 50 000 $ erhalten hätte, hätten diese das Geld vermutlich ausgegeben, und der Großteil dieser Ausgaben wäre wiederum dem Di­en­stleis­tungssek­tor zugutegekom­men.

„Bezieht man die Inflation mit ein, dann ist das Lohnniveau in den USA in den drei Jahrzehnten vor dem Crash von 2008 kaum gestiegen.“

In den 1970er Jahren gerieten die USA in eine Abwärtsspirale, weil die Gehälter der Mit­telschicht stagnierten, obwohl die Wirtschaft expandierte. Das setzte sich bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends fort. Der Clin­ton-Regierung gelang es mit kleinen Maßnahmen, die Symptome zu lindern, etwa indem der Mindestlohn angehoben oder ein Anspruch auf berufliche Auszeiten für die Familie eingeführt wurde. Die Reformen waren jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Alan Greenspan, Chef der Zentralbank, bestand auf einem geringeren Haushalts­de­fizit, statt Clinton bei der Umsetzung seiner Wahlver­sprechen zu helfen. Im Gegenzug versprach Greenspan niedrigere Zinsen, was die Wirtschaft ankurbeln sollte.

„Ein immer größer werdender Teil des Volk­seinkom­mens kommt nur noch einer kleinen Gruppe von Spitzen­ver­di­enern zugute.“

Entgegen der landläufigen Meinung haben nicht Au­toma­tisierung und Glob­al­isierung massenhaft Jobs vernichtet. Das Kernproblem ist vielmehr, dass die neu ent­stande­nen Arbeitsplätze in der Regel schlechter bezahlt sind als die früheren Jobs. Amerika hat in den vergangenen Jahrzehnten viel versäumt. Die USA hätten das Bil­dungssys­tem auf die frühkindliche Bildung ausrichten, staatliche Unis fördern, die Aus- und Weit­er­bil­dung besser finanzieren und ein gutes öffentliches Verkehrsnetz aufbauen müssen. Die Steuern für Reiche hätte man erhöhen müssen.

Die Strategien der Mit­telschicht

Ab den späten 70er Jahren wandte die amerikanis­che Mit­telschicht ver­schiedene Strategien an, um das Problem des schrumpfenden Einkommens zu kom­pen­sieren. Viele Frauen nahmen eine bezahlte Tätigkeit an und besserten so das Fam­i­lieneinkom­men auf. Viele Menschen arbeiteten länger. Sowohl Angestellte als auch Selbstständige steigerten ihre wöchentliche Arbeitszeit. Immer mehr Menschen übernahmen zwei, drei Jobs. Zudem brauchten die Amerikaner ihre Ersparnisse auf. Die Konsumenten reduzierten ihre Sparquote und nahmen mehr Kredite auf. Sie ver­schulde­ten sich mitunter bis an die Halskrause. Als die Kreditblase platzte, rächte sich dieses Verhalten. Obwohl sich die Wirtschaft leicht erholt hat, besteht kein Anlass zur Hoffnung, denn es entstehen zu wenig neue Arbeitsplätze. Außerdem setzt sich der Trend sinkender Einkommen fort. Nur wer als Ar­beit­sloser bereit ist, für einen geringeren Lohn als früher zu arbeiten, findet eine Anstellung. Die hohen Schulden und die damit verbundenen steigenden Zinsen belasten die Haushalte nach wie vor. Viele Menschen müssen sogar ihren Rentenein­tritt hin­auss­chieben.

China kann nicht helfen

Chinesische Verbraucher sind sparsam. Nur 35 % der Wirtschaft­sleis­tung entfällt in China auf den Konsum. Dagegen steigt die In­vesti­tion­squote kon­tinuier­lich. Die dortigen Firmen rein­vestieren ihre Gewinne in die eigene Produktion. Ausländische Firmen, die ihre Waren an chinesische Konsumenten verkaufen wollen, müssen vor Ort produzieren – häufig mit einem chi­ne­sis­chen Ko­op­er­a­tionspart­ner. Insofern wird Amerika nur begrenzt vom chi­ne­sis­chen Konsum profitieren können.

„Das Vermögen der amerikanis­chen Mit­telschicht beruht größtenteils auf Wohneigen­tum, dessen Marktwert im Abschwung steil abstürzte und in den meisten Gebieten der USA noch jahrelang unter seinem Niveau von 2007 verharren wird.“

In den USA ist die Haup­tur­sache für ein mögliches soziales Nachbeben, dass die breite Bevölkerungss­chicht zu wenig Kaufkraft besitzt. Die von Präsident Obama initiierte Gesund­heit­sre­form ist ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings nur ein winziger. Keine andere Klasse von Medika­menten geht in den USA so häufig über die Ladentheke wie An­ti­de­pres­siva. Zwischen den Jahren 1997 und 2007 hat sich die Zahl der damit behandelten Patienten verdoppelt.

Schmer­zliche Einbußen und was getan werden muss

Wenn Sie einen wertvollen Gegenstand verlieren, bedauern Sie das natürlich. Je wichtiger er Ihnen war, desto mehr leiden Sie unter dem Verlust. Ver­hal­tens­forscher haben gezeigt, dass wir Verluste immer stärker empfinden als Gewinne. Sinkt der Lebens­stan­dard, nimmt gle­ichzeitig der Stress zu. Unter Langzeitar­beit­slosen ist daher die Selb­st­mor­drate sehr hoch. Am schlimmsten dürfte es für die Mit­telschicht werden, wenn sie her­aus­findet, dass es nicht mehr weiter aufwärtsgeht. Für Verärgerung in der Bevölkerung sorgt bereits jetzt, dass die Spitzen­ver­di­ener schon kurz nach der Krise wieder gut verdienten, ja sogar mehr einstrichen als je zuvor.

„Anfang 2010, kaum ein Jahr nach dem Crash, kehrte man an der Wall Street schon wieder zur ‚Normalität‘ zurück und zahlte Gehälter und Sondervergütungen, als habe es nie einen Crash gegeben.“

Um die Mit­telschicht zu stärken und den Wohlstand in den USA fairer zu verteilen, sind folgende Reformen umzusetzen:

  1. Negative Einkom­men­steuer: Es handelt sich um staatliche Trans­fer­leis­tun­gen mit dem Ziel, das Einkommen der Mit­telschicht zu erhöhen. Anstatt Steuern zu zahlen, erhalten einkom­menss­chwache Bürger umgekehrt Geld vom Staat.
  2. Kohlen­stoff­s­teuer: Fossile Brennstoffe müssen besteuert werden, und zwar abhängig vom freige­set­zten Kohlen­dioxid.
  3. Höhere Gren­zs­teuersätze für die Reichen: Bei Personen mit einem Jahre­seinkom­men von mehr als 410 000 $ soll ein Gren­zs­teuer­satz von 55 % zur Anwendung kommen.
  4. Eingliederung in Arbeit statt Verwaltung der Ar­beit­slosigkeit: Eine Lohnaus­fal­lver­sicherung soll dann einspringen, wenn ein Ar­beit­sloser einen schlechter bezahlten Ar­beit­splatz annimmt. Ar­beit­suchende mit Qual­i­fizierungs­be­darf sollen finanziell unterstützt werden.
  5. Bil­dungsgutscheine: Bil­dungsgutscheine für öffentliche Schulen sollen nach Fam­i­lieneinkom­men gestaffelt ausgegeben werden. Familien mit geringem Einkommen erhalten somit mehr Kaufkraft auf dem Bil­dungs­markt.
  6. Stu­di­enkred­ite: Die Rückzahlung muss einkom­mens­abhängig organsiert sein.
  7. Staatliche Kranken­ver­sicherung für alle: Die beschlossene Reform ist nur ein erster Schritt, dem weitere folgen müssen.
  8. Öffentliche Ein­rich­tun­gen: Das Angebot an Verkehrsmit­teln, Parks, Bib­lio­theken und Museen muss ausgebaut werden.
  9. Geld und Politik sind zu entflechten: Fi­nanzs­tarke In­ter­es­sen­grup­pen haben in Amerika zu viel zu sagen; dieser grundle­gende Mangel der Demokratie muss beseitigt werden.

Über den Autor

Robert Reich war unter Präsident Bill Clinton Minister für Arbeit. Derzeit lehrt er als Professor an der University of California. Er ist auch Autor des Buches Su­perkap­i­tal­is­mus.