Die Erkenntnisse des Marriner Eccles
Die Weltwirtschaftskrise, die 2007 begann, weist einige Parallelen zur Großen Depression der 1930er Jahre auf. Unter der Regierung Franklin D. Roosevelts bekämpfte der Ökonom Marriner Eccles die Krise. Er war zunächst Berater des Finanzministeriums, später stand er dem amerikanischen Zentralbankrat vor. Seine Karriere als Banker machte ihn bereits im Alter von 24 zum Millionär. Mit 40 Jahren steuerte er ein Eisenbahn-, Hotel- und Versicherungsimperium. Die Krise überstand er unbeschadet, weil seine Banken ausreichend mit Kapital ausgestattet waren. Während führende Ökonomen damals dafür plädierten, lediglich den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen, und darauf bauten, dass sich die Wirtschaft von allein erholen werde, vertrat Eccles eine andere Meinung: Er bezweifelte, dass die Unternehmen investieren würden, solange die Kaufkraft der Bevölkerung so gering war. Die Menschen konnten sich nicht einmal mehr das Lebensnotwendigste kaufen. Eccles sah die Rezession nicht als ein gottgegebenes Phänomen an – im Unterschied zu anderen Experten, die mit Blick auf die Bibel von sieben mageren Jahren sprachen. Eccles setzte durch, dass der Staat mehr Kredite aufnahm, damit die mangelnden Ausgaben der Verbraucher ausgeglichen wurden. Er machte sich für ein umfassendes Reformpaket stark und plädierte für Arbeitslosenhilfe, öffentliche Bauprojekte, staatliche Hypothekenrefinanzierungen, Mindestlöhne, subventionierte Renten sowie höhere Steuern für die Reichen. So ebnete er den Weg aus der Krise. Seine wichtigste Erkenntnis war, dass die Hauptursache der Krise darin zu suchen ist, dass sich das Einkommen in den Händen weniger konzentrierte, während der übrigen Bevölkerung die nötige Kaufkraft fehlte.
Die Lehren aus den 1930er Jahren
Die Einkommensverteilung in der Bevölkerung darf nicht in eine Schieflage geraten. Es muss immer für ein Gleichgewicht gesorgt werden. Die breite Mittelschicht braucht genügend Kaufkraft, sonst bahnt sich rasch die nächste Krise an. Nach der jüngsten Rezession gilt es, besonders aufzupassen, dass die hohe Arbeitslosigkeit und die niedrigen Löhne nicht zum Dauerzustand werden. Sonst ist mit dem wachsenden Zorn der Menschen und einem sozialen Nachbeben zu rechnen. Problematisch ist, dass der Reallohn des Durchschnittsarbeiters seit drei Jahrzehnten kaum gestiegen ist. Ein Großteil der Produktivitätsgewinne floss stattdessen in die Taschen der Spitzenverdiener. Überall im Land haben sich die reichsten Bürger vom Rest des Volks distanziert. Sie wohnen abgeschieden in exklusiven Wohnvierteln und arbeiten in weiträumigen Bürokomplexen. Sie umgeben sich mit privaten Wachleuten, genießen luxuriöse Wellnessbäder und schicken ihre Kinder in Eliteschulen. Gleichzeitig muss sich die Mehrheit der Menschen mit einem mangelhaften Angebot an Parks, Bibliotheken und öffentlichen Schulen abfinden.
„Das grundlegende Problem ist, dass die Amerikaner nicht mehr genügend Kaufkraft besitzen, um das zu kaufen, was die eigene Volkswirtschaft produzieren kann.“
Von Marriner Eccles können wir lernen, wie wichtig die Sozialversicherung, eine gute Infrastruktur und der Ausbau der Schulen und Universitäten sind. Präsident Roosevelt finanzierte seine Maßnahmen zunächst mit staatlichen Mitteln. Deshalb ging es der Mittelschicht später besser, sie genoss mehr Sicherheit und Wohlstand. Zwar war Amerika hoch verschuldet, doch dank des Wirtschaftsbooms konnte die Regierung einen Großteil der Kredite zurückzahlen. Die Obama-Regierung hat zwar auch Liquidität ins Wirtschaftssystem gepumpt, um eine Verschärfung der Krise zu vermeiden. Doch wurde die Mittelschicht, abgesehen von der Krankenversicherungsreform, nicht gestärkt.
Arbeitnehmer sind auch Verbraucher
Im Jahr 1914 begann Henry Ford, seinen Arbeitern pro Tag 5 $ zu zahlen – fast das Dreifache des durchschnittlichen Fabrikarbeiterlohns. Diese Maßnahme rechnete sich für das Unternehmen, weil die höheren Löhne die Mitarbeiter wiederum zu Kunden machten. Ford erkannte diesen Zusammenhang. Auch der britische Ökonom John Maynard Keynes kam zum Schluss, dass die Einkommenshöhe der Arbeiter und die Nachfrage der Kunden in Relation zueinander stehen. Während die meisten Experten in der Krise von einer Selbstheilung der Wirtschaft ausgingen, plädierte Keynes für eine Korrektur, wenn die Arbeitslosigkeit und die Verteilung des Volksvermögens aus dem Ruder liefen. Eccles und Keynes betrachteten übereinstimmend eine hohe Arbeitslosigkeit als eine Folge fehlender Nachfrage. Keynesʼ Rezept war makroökonomischer Natur: In Krisen ist die Geldmenge zu erhöhen, was wiederum die Zinssätze senkt, sodass Verbraucher und Unternehmer kostengünstiger Kredite aufnehmen können. Ferner soll die Regierung die Ausgaben erhöhen, um die mangelnde Nachfrage der Verbraucher zu kompensieren.
Warum die Vermögenskonzentration der Wirtschaft schadet
Ein Paradox unserer Zeit ist, dass die Reichen zu wenig ausgeben. Sie leben in Relation zu ihrem Einkommen bescheiden. Wer Geld ausgibt, löst einen Multiplikatoreffekt aus. Jeder Dollar, den jemand für eine Ware oder Dienstleistung ausgibt, fließt zunächst zum Produzenten oder Erbringer derselben, dann weiter zu dessen Zulieferern, die wiederum Güter einkaufen. Im 19. Jahrhundert vertrat der britische Philosoph Jeremy Bentham die Ansicht, jedes Gesetz müsse dazu führen, dass die Gesellschaft insgesamt glücklicher werde. Dabei gewichtete er das Glück jedes Einzelnen gleich. Nach Bentham würde die Besteuerung der Wohlhabenden zugunsten der Armen zu mehr Glück insgesamt führen. Betrachten Sie als Beispiel Kenneth Lewis, den früheren Chef der Bank of America: Lewis verdiente im Jahr 2007 annähernd 100 Millionen Dollar, obwohl er seine Bank fast in den Ruin trieb. Wäre das Gehalt statt an ihn an 2000 Familien geflossen, sodass jede 50 000 $ erhalten hätte, hätten diese das Geld vermutlich ausgegeben, und der Großteil dieser Ausgaben wäre wiederum dem Dienstleistungssektor zugutegekommen.
„Bezieht man die Inflation mit ein, dann ist das Lohnniveau in den USA in den drei Jahrzehnten vor dem Crash von 2008 kaum gestiegen.“
In den 1970er Jahren gerieten die USA in eine Abwärtsspirale, weil die Gehälter der Mittelschicht stagnierten, obwohl die Wirtschaft expandierte. Das setzte sich bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends fort. Der Clinton-Regierung gelang es mit kleinen Maßnahmen, die Symptome zu lindern, etwa indem der Mindestlohn angehoben oder ein Anspruch auf berufliche Auszeiten für die Familie eingeführt wurde. Die Reformen waren jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Alan Greenspan, Chef der Zentralbank, bestand auf einem geringeren Haushaltsdefizit, statt Clinton bei der Umsetzung seiner Wahlversprechen zu helfen. Im Gegenzug versprach Greenspan niedrigere Zinsen, was die Wirtschaft ankurbeln sollte.
„Ein immer größer werdender Teil des Volkseinkommens kommt nur noch einer kleinen Gruppe von Spitzenverdienern zugute.“
Entgegen der landläufigen Meinung haben nicht Automatisierung und Globalisierung massenhaft Jobs vernichtet. Das Kernproblem ist vielmehr, dass die neu entstandenen Arbeitsplätze in der Regel schlechter bezahlt sind als die früheren Jobs. Amerika hat in den vergangenen Jahrzehnten viel versäumt. Die USA hätten das Bildungssystem auf die frühkindliche Bildung ausrichten, staatliche Unis fördern, die Aus- und Weiterbildung besser finanzieren und ein gutes öffentliches Verkehrsnetz aufbauen müssen. Die Steuern für Reiche hätte man erhöhen müssen.
Die Strategien der Mittelschicht
Ab den späten 70er Jahren wandte die amerikanische Mittelschicht verschiedene Strategien an, um das Problem des schrumpfenden Einkommens zu kompensieren. Viele Frauen nahmen eine bezahlte Tätigkeit an und besserten so das Familieneinkommen auf. Viele Menschen arbeiteten länger. Sowohl Angestellte als auch Selbstständige steigerten ihre wöchentliche Arbeitszeit. Immer mehr Menschen übernahmen zwei, drei Jobs. Zudem brauchten die Amerikaner ihre Ersparnisse auf. Die Konsumenten reduzierten ihre Sparquote und nahmen mehr Kredite auf. Sie verschuldeten sich mitunter bis an die Halskrause. Als die Kreditblase platzte, rächte sich dieses Verhalten. Obwohl sich die Wirtschaft leicht erholt hat, besteht kein Anlass zur Hoffnung, denn es entstehen zu wenig neue Arbeitsplätze. Außerdem setzt sich der Trend sinkender Einkommen fort. Nur wer als Arbeitsloser bereit ist, für einen geringeren Lohn als früher zu arbeiten, findet eine Anstellung. Die hohen Schulden und die damit verbundenen steigenden Zinsen belasten die Haushalte nach wie vor. Viele Menschen müssen sogar ihren Renteneintritt hinausschieben.
China kann nicht helfen
Chinesische Verbraucher sind sparsam. Nur 35 % der Wirtschaftsleistung entfällt in China auf den Konsum. Dagegen steigt die Investitionsquote kontinuierlich. Die dortigen Firmen reinvestieren ihre Gewinne in die eigene Produktion. Ausländische Firmen, die ihre Waren an chinesische Konsumenten verkaufen wollen, müssen vor Ort produzieren – häufig mit einem chinesischen Kooperationspartner. Insofern wird Amerika nur begrenzt vom chinesischen Konsum profitieren können.
„Das Vermögen der amerikanischen Mittelschicht beruht größtenteils auf Wohneigentum, dessen Marktwert im Abschwung steil abstürzte und in den meisten Gebieten der USA noch jahrelang unter seinem Niveau von 2007 verharren wird.“
In den USA ist die Hauptursache für ein mögliches soziales Nachbeben, dass die breite Bevölkerungsschicht zu wenig Kaufkraft besitzt. Die von Präsident Obama initiierte Gesundheitsreform ist ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings nur ein winziger. Keine andere Klasse von Medikamenten geht in den USA so häufig über die Ladentheke wie Antidepressiva. Zwischen den Jahren 1997 und 2007 hat sich die Zahl der damit behandelten Patienten verdoppelt.
Schmerzliche Einbußen und was getan werden muss
Wenn Sie einen wertvollen Gegenstand verlieren, bedauern Sie das natürlich. Je wichtiger er Ihnen war, desto mehr leiden Sie unter dem Verlust. Verhaltensforscher haben gezeigt, dass wir Verluste immer stärker empfinden als Gewinne. Sinkt der Lebensstandard, nimmt gleichzeitig der Stress zu. Unter Langzeitarbeitslosen ist daher die Selbstmordrate sehr hoch. Am schlimmsten dürfte es für die Mittelschicht werden, wenn sie herausfindet, dass es nicht mehr weiter aufwärtsgeht. Für Verärgerung in der Bevölkerung sorgt bereits jetzt, dass die Spitzenverdiener schon kurz nach der Krise wieder gut verdienten, ja sogar mehr einstrichen als je zuvor.
„Anfang 2010, kaum ein Jahr nach dem Crash, kehrte man an der Wall Street schon wieder zur ‚Normalität‘ zurück und zahlte Gehälter und Sondervergütungen, als habe es nie einen Crash gegeben.“
Um die Mittelschicht zu stärken und den Wohlstand in den USA fairer zu verteilen, sind folgende Reformen umzusetzen:
- Negative Einkommensteuer: Es handelt sich um staatliche Transferleistungen mit dem Ziel, das Einkommen der Mittelschicht zu erhöhen. Anstatt Steuern zu zahlen, erhalten einkommensschwache Bürger umgekehrt Geld vom Staat.
- Kohlenstoffsteuer: Fossile Brennstoffe müssen besteuert werden, und zwar abhängig vom freigesetzten Kohlendioxid.
- Höhere Grenzsteuersätze für die Reichen: Bei Personen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 410 000 $ soll ein Grenzsteuersatz von 55 % zur Anwendung kommen.
- Eingliederung in Arbeit statt Verwaltung der Arbeitslosigkeit: Eine Lohnausfallversicherung soll dann einspringen, wenn ein Arbeitsloser einen schlechter bezahlten Arbeitsplatz annimmt. Arbeitsuchende mit Qualifizierungsbedarf sollen finanziell unterstützt werden.
- Bildungsgutscheine: Bildungsgutscheine für öffentliche Schulen sollen nach Familieneinkommen gestaffelt ausgegeben werden. Familien mit geringem Einkommen erhalten somit mehr Kaufkraft auf dem Bildungsmarkt.
- Studienkredite: Die Rückzahlung muss einkommensabhängig organsiert sein.
- Staatliche Krankenversicherung für alle: Die beschlossene Reform ist nur ein erster Schritt, dem weitere folgen müssen.
- Öffentliche Einrichtungen: Das Angebot an Verkehrsmitteln, Parks, Bibliotheken und Museen muss ausgebaut werden.
- Geld und Politik sind zu entflechten: Finanzstarke Interessengruppen haben in Amerika zu viel zu sagen; dieser grundlegende Mangel der Demokratie muss beseitigt werden.