Eine neue Story
Die Finanzkrise hat gezeigt: Die Welt hat dringend Bedarf nach einer neuen Story, einer neuen großen Geschichte. Die Finanzakrobaten, denen die realen Handelsgegenstände zu langweilig geworden waren, verfielen dem großen Rausch, dem Versprechen von Abenteuer und Nervenkitzel, und mutierten zu Verpackungskünstlern. Während TV-Geräte, Kleider und Lebensmittel für ihre Reise vom Hersteller zum Verbraucher Wochen benötigten, wurden die virtuellen Finanzpakete in Sekundenschnelle um die Welt geschickt.
„Wir werden nicht mitspielen können in einer neuen Story der Rächer und Regulierer, die alle Fantasie in Ketten legt und Risikolust zur Bändigung durch Bürokraten freigibt.“
Die Dummen waren die ahnungs- und arglosen Privatinvestoren, die auch vom vermeintlich endlosen Wachstum, der Blasenstory, profitieren wollten. Auch sie reklamierten einen Platz am Finanzpokertisch für sich. Wenn man neben den Geldeliten saß und deren Spiel spielte – auch ohne die Regeln zu verstehen –, fiel ja vielleicht ein wenig Glanz auf die Nebendarsteller.
„Der Respekt vor der vermuteten Intelligenz der Bankmanager und Börsenhändler war im Jahr null der Krise so groß, dass niemand auf den Gedanken kam, die allmächtigen Geldverteiler aus der Finanzindustrie könnten zu Freibeutern und Hochstaplern werden.“
Die Story ist leider schlecht ausgegangen. Die neue Geschichte muss darum von etwas anderem handeln. Doch wir können die Vergangenheit nicht hinter uns lassen, bevor wir nicht zugeben, dass wir diese „Highflyer“ der Finanzbranche bewundert haben. Und auf eine Zukunft, die von Rache und von der kurzen Leine der Regulierer gekennzeichnet ist, sollten wir uns nicht einlassen.
Geld, die neue Ware, Droge, Religion
Geld und materielles Gut schienen irgendwann nicht mehr aneinandergekoppelt zu sein. Der Status des Geldes als Tauschmittel begründete nicht mehr seine Daseinsberechtigung. Es war nur noch das Grundmaterial, aus dem sich noch mehr Geld zaubern ließ. Wer will seine Zahlungsmittel schon für Waren verschleudern, wenn die Rendite winkt?
„Das Geld ist nicht mehr Mediator, Mittler von Zielen, sondern das Geld selbst ist das Ziel.“
Der Investor legt sein Geld bei der Bank an, die Bank verleiht es weiter – dadurch wird Geld geschöpft, Geld geschaffen. Das geht so lange gut, bis die Sparer alle auf einmal ihre Investitionen zurückfordern. Geld ist die neue Ware, das neue Suchtmittel; ja es ist sogar eine neue Religion, die den Konsumgott abgelöst hat. Ehre, Anerkennung, Glück? Wozu danach streben, wenn sich all das doch mit Geld beschaffen lässt? Damit ist klar: Man kann die Mär von den rationalen Märkten vergessen. Der vernünftige Kunde ist gar nicht erwünscht. Nur einem irrationalen Menschen kann man die Verlustangst nehmen, indem man ihm das große Vermögen in greifbarer Nähe vorträumt.
Die neuen Abenteurer
Ein Leben voller Adrenalin. Der Handel als Droge. Die risikohungrigen Investmentbanker berauschten sich am schnellen Geld. Sie verkauften Produkte, die weder sie selbst noch die Kunden durchschauten. Aufpasser schienen nicht nötig, schließlich wurde Geld verdient.
„Die Politik sieht keine andere Möglichkeit zur Rettung der Finanzwirtschaft vor dem totalen Kollaps als die Wiederholung der Politik des billigen Geldes, die Auslöser der Krise war.“
Die Banker machten einen solch abgehobenen und respektablen Eindruck, dass Fragen einer Beleidigung gleichkamen. Sie waren die Erwählten. Die angestellten Finanzakrobaten klebten an den Computerschirmen, fuhren auf der emotionalen Achterbahn und wurden dabei vor der Öffentlichkeit verborgen. Dafür sorgten die PR-Maschinerie und das seriöse Auftreten der alteingesessenen grauen Eminenzen. Einer davon ist Lloyd Blankfein, der Chef der Königin der Wall Street, Goldman Sachs. Er beschwichtigt: Seiner Ansicht nach taten die Banker „Gottes Werk“, indem sie Arbeitsplätze und Wohlstand schufen.
„Die Finanzkrise wurde nur deshalb möglich, weil es eine weltweite Infektion mit dem Zockervirus gab, die eine Pandemie auslöste: Niemand kann sagen, wer ihn angesteckt hat, aber alle sind krank“.
Die Finanzkrise hat die Banker nur temporär von der Droge Geld weggeholt. Der Entzug ist nicht gelungen. Paradoxerweise wollen immer mehr Studienabgänger dieselbe Luft wie die erlauchten Investmentbanker schnuppern. In keiner anderen Branche lässt sich der Studentenkredit so rasch tilgen. Statt einer Banklehre ist Erfahrung im Pokerspiel gefragt. 14-Stunden-Arbeitstage, Handel rund um die Uhr, Kokain – da geht der Realitätssinn zwar verloren, doch dieser Rausch! Kein Wunder, dass die Suizidrate im Finanzsektor besonders hoch ist. Wer sich nur über die Arbeit definiert und diese dann verliert, hat im Leben ausgespielt.
Die Banken nach der Krise
Eine Täuschungsabsicht kann den Bankern meist nicht nachgewiesen werden. Man habe selbst nichts von dem hohen Risiko gewusst, so die Finanzfachleute. Damit geben sie auch zu, dass sie von ihrem Geschäft nichts verstehen. Ob ihnen das bewusst ist? Als Ablass für die Sünden dienen nun Spenden in großem Umfang, die den guten Ruf wiederherstellen sollen. Kein Problem für Giganten wie Goldman Sachs: Die Bank berichtete im Krisenjahr 2009 von einem Gewinn von mehr als 13 Milliarden Dollar. Es wird nicht lange dauern, und die verbliebenen Institute stehen auf festeren Beinen als je zuvor.
„Moralische Empörung ist ein Reflex zum Selbstschutz, der das Versteckspiel fortsetzt.“
Die Auswüchse der Krise waren z. T. kurios: Deutschland etwa opferte sein Allerheiligstes, das Auto, auf dem Altar des Geldgottes. Um den Konsum anzutreiben, zahlte der Staat Prämien für die Verschrottung von Autos, wenn ein Neuwagen gekauft wurde. Was für eine Verschwendung, Funktionstüchtiges zu verschrotten. Doch kaum einer schien sich daran zu stören.
Bestrafen und regulieren
Der Staat trägt eine Mitschuld an der Finanzkrise. Billiges Geld, verbunden mit dem Versprechen schier unendlichen Wachstums bei gleichzeitiger Risikolosigkeit, das war die alte Story. Billiges Geld bleibt aber die Antwort der Staaten auf die Krise – mit dem Unterschied, dass nun all diejenigen, die Geld verdienen, unter Generalverdacht stehen. Schließlich wird ein Sündenbock gesucht. Wer eignet sich da besser als die Experten, die Gurus, denen wir blindlings vertraut haben? Wer sich empört, braucht seinen eigenen Anteil am Versagen nicht zuzugeben. Schuldig gesprochen werden die gierigen Banker, die Manager, die mit hohen Bonuszahlungen falsche Anreize erfahren haben, und die Ratingagenturen, die unbesehen ihre Gütesiegel auf die undurchsichtigen Produkte gerade jener Firmen gedrückt haben, die sie für diese Bewertungsdienste bezahlt hatten.
„Banker bändigen, Manager strafen, Boni verbieten: Texte aus Fensterreden, die das zornige Publikum ,draußen‘ beschwichtigen sollen.“
2010 fehlen weiterhin Institutionen, die unabhängig neue Finanzprodukte analysieren, und die Verpackungskünstler sind bereits wieder am Werk. Regulierungsbefürworter verdammen pauschal jedes Risiko. Doch ohne Risiko kann kein Unternehmertum existieren. Es braucht eine balancierte Risikopolitik, die niemals von der Rendite abhängig sein darf. Gleichzeitig muss die Politik einsehen, dass der moralische Zeigefinger fehl am Platz ist. Er ist genauso falsch wie die Hexenjagd auf die Abgänger der Eliteuniversitäten, die in der Finanzbranche unterwegs sind. Statt generell zu verurteilen, sollten die Politiker diese Talente um Hilfe bei der Aufarbeitung des Finanzchaos bitten. Sie sind auf Täterwissen angewiesen.
Die Fehler der Politik
Die Politiker haben vermutlich wenig Motivation, an der Aufklärung mitzuwirken. Denn auch sie sind Komplizen und kennen sich mit Beschaffungskriminalität aus: Man denke an den Handel, den die deutschen Steuerfahnder mit den Dieben der Steuersünderdaten eingegangen sind: eine CD mit den Namen der Bösewichte, die dem Staat das höchste aller Güter, das Geld, vorenthalten haben, im Tausch gegen – wieder einmal – Geld und eine neue Identität. Außerdem ist es so viel einfacher, Feindbilder aufzubauen, als detailliert zu analysieren. Das bringt Pluspunkte bei den Wählern.
„Die Deutschen opferten ihr Lieblingsspielzeug, sie zerstörten es unwiderruflich vor den Augen der Gelddämonen, um sich einen Neuanfang zu verdienen.“
Natürlich muss die Politik auf die Sünden der Finanzbranche reagieren, d. h. sie muss regulieren. Die Manager bringen aber bereits einen großen Teil ihres Tages damit zu, die staatliche Bürokratie zufriedenzustellen. Die Politiker wollen in die Bankenwelt eingreifen, mitreden, Bonuszahlungen und Gehälter der Banker bestimmen, obwohl sie offenbar nichts von Finanzen verstehen. Darin kann man eine Entgleisung unter dem Vorwand der Finanzkrise sehen. Die beiden Lager sind Galaxien voneinander entfernt: Die einen jagen noch den alten Bösen hinterher, während die anderen bereits wieder riskante Finanzpakete mit hohen Renditeversprechen schnüren. Man misstraut einander und schürt die Vorbehalte mit Racheaktionen und Schadenfreude.
„Der Kern der krisenbedingten Therapiekonflikte zwischen Finanzwirtschaft und Politik liegt im hohen Geldbedarf der Staaten nach der Krise und im gleichzeitig gestarteten Versuch der Politik, die Geldmacher zu bändigen.“
Die Strategie der Politik ist gefährlich: Regulierung, Bürokratie und Eingriffe in die Entlohnungspolitik der Banken dämpfen die Motivation der Manager. Wer will schon Entscheidungen mittragen und managen, wenn jederzeit die Strafverfolgung droht? Was die Welt wirklich braucht, ist ein neuer Wertekodex.
Bilanz zweier alter Hasen
Der ehemalige US-Notenbank-Chef Alan Greenspan sagt offen, dass er die versagende Politik für die treibende Kraft hinter der Spekulationsblase an den Finanzmärkten hält. Zudem seien die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts so sehr durch Stabilität gekennzeichnet gewesen, dass die Banken ihr Risikomanagement wenig beachtet hätten. Als man dann versuchte, das Risiko mit komplizierten Methoden zu messen, und sich gleichzeitig auf den Einblick der Ratingagenturen verließ – ein Fehler, wie wir heute wissen –, war das Ergebnis vorgezeichnet. Dennoch muss das Risiko im Banking immer eine Rolle spielen, sagt Greenspan. Es kommt eben auf die Dosis an.
„Ethik stört. Sie ist die Spielverderberin, und sie hat die falschen Freunde.“
Der berühmte Anleger George Soros versammelte im April 2010 rund 200 Wissenschaftler in Cambridge. Sie sollten darüber diskutieren, wie man das Paradigma der rationalen Märkte hinter sich lassen und in Zukunft mit einer neuen Sichtweise wirtschaften könne. Das Fazit: Der Mensch und sein Wissen sind nicht perfekt. Auch diese klügsten Köpfe der Welt schlugen daraufhin Kontrollen und Zwang vor, um die Menschen vor sich selbst und weiteren Fehlern zu schützen.
Eine neue Werteordnung
Die Zukunftsvision, die neue Story, baut auf der Erkenntnis auf, dass Verstand und Emotion stets zusammenspielen. Menschen behalten nicht immer einen kühlen Kopf, erst recht nicht, wenn das Geld winkt. Emotion ist aber nicht nur die Wurzel des Übels, sondern auch der Keim von Innovationen und neuen Ideen für zukünftiges Wirtschaften. Kontrolle vonseiten der Aufsichtsbehörden ist daher nicht die Lösung. In die Bonus- und Gehaltssysteme der Banken sollte nicht eingegriffen werden, solange die Entlohnung positiv mit dem Unternehmenserfolg korreliert. Die Banken sollen ruhig Gewinne machen und ein vertretbares Risiko eingehen dürfen, all das aber unter Berücksichtigung einer professionellen Ethik.
„Die Finanzkrise ist die Krise unseres Ethos.“
Daher sind nun die Topbanker und die Politiker gefordert, die Geschichte neu zu schreiben. Ethik ist leider ziemlich unglamourös. Sie versteckt sich oft hinter leeren Phrasen in Vorträgen von Führungskräften. Gleichwohl hat sie die Macht, den Status quo zu ändern, was vielen ungelegen kommt. Deren Strategie lautet daher: Ethik undefiniert lassen, dann wird sie auch nicht Realität. Geschürt werden lieber die Vorurteile gegen sie, wie z. B. das des Ethikers als besserwisserischer Moralapostel.
„Ethik ist strategischer Erfolgsfaktor. Ethik ist Chefsache.“
Was viele nicht einsehen: Ethisches Handeln bringt Wettbewerbsvorteile. Es verbessert das Verhältnis zu Kunden und Lieferanten. Es macht den Unternehmer weniger angreifbar. Ethische Verfehlungen schaden dagegen dem Image und verringern den Gewinn. Manager sollten deshalb ethisches Verhalten ihrer Mitarbeiter honorieren. Vonseiten der Regierung ist offenbar kein Vorstoß zu erwarten. Die neue Agenda muss von den Verdammten selbst kommen. Und zwar direkt aus der Chefetage.