Obliquity

Buch Obliquity

Die Kunst des Umwegs oder wie man am besten sein Ziel erreicht

dtv,


Rezension

„Durch­wursteln“ ist eigentlich ein negativ besetzter Begriff. Übersetzt man ihn mit „obliquity“ ins Englische, klingt er gleich viel besser. Mit Fakten und Beispielen unterlegt, wird er sogar zum Er­fol­gsrezept für Manager und Unternehmen, die bislang noch dachten, dass der kürzeste Weg zum Ziel auch der beste sei. Dass dem nicht so ist, legt dieses Buch überzeugend dar. Dem Autor gelingt es, das Thema über den Bereich der Wirtschaft hinaus auf das gesamte Leben und dessen vielfältige Her­aus­forderun­gen auszudehnen. Mit flottem Schreibstil und einigen Grafiken vermittelt er das Wissen, das man braucht, um beim nächsten schier unüberwindlichen Problem nicht zu verzweifeln: Statt den erstbesten Weg einzuschla­gen, gilt es, sich langsam und vorsichtig vo­ranzu­tas­ten, Ergebnisse immer wieder zu justieren und den Weg anzupassen – ganz im Sinne von Obliquity. BooksInShort empfiehlt das Buch allen Führungskräften und auch sonst jedem, der sich in die Kunst des Durch­wurstelns einweihen lassen will.

Take-aways

  • Das Konzept Obliquity besagt, dass man Umwege gehen und sich immer wieder anpassen muss, um zum Ziel zu gelangen.
  • Je komplexer ein Sachverhalt ist, desto kom­plizierter muss sich die Lösungs­find­ung gestalten.
  • Rationalität oder Intuition allein sind bei komplexen Entschei­dung­sprozessen schlechte Ratgeber.
  • Glück erfährt man häufig auf indirekten und nur selten auf direkten Wegen.
  • Das reine Streben nach Profit macht ein Unternehmen noch lange nicht erfolgreich.
  • Langfristig erfolgreich ist, wer die Bedürfnisse der Kunden, der Mitarbeiter, der Investoren und der Gesellschaft in Einklang bringt.
  • Nur wer sein Ziel kennt, kann auch den Weg dorthin finden.
  • Die relevanten In­for­ma­tio­nen, Fakten und Quellen ermöglichen es, eine richtige Entschei­dung zu treffen – und diese immer neuen Gegeben­heiten anzupassen.
  • Erfolgreich sind Unternehmen, die sich im Lauf der Zeit mit der Gesellschaft wandeln.
  • Vieles, was geplant zu sein scheint, wurde in Wahrheit durch Zufall und Im­pro­vi­sa­tion geformt.
 

Zusammenfassung

Auf Umwegen zum Ziel

Je einfacher eine Fragestel­lung ist, desto leichter findet sich eine Lösung dafür. Und umgekehrt gilt: Ist ein Sachverhalt sehr komplex, kann es keinen direkten Weg zum Ziel geben. Denn niemand kann von Anfang an alle Begleitumstände so einschätzen, dass am Ende nur ein Weg übrig bleibt. Die Wis­senschaft kennt zwar ein Vorgehen der Entschei­dungs­find­ung, das genau auf dieser Annahme beruht. Sie wird Root-Meth­ode genannt und geht davon aus, dass alle Möglichkeiten auf einen Schlag rational erfasst und bewertet werden können. Das lässt sich aber häufig nicht in die Praxis umsetzen.

„Glücklich zu sein ist eher eine Frage persönlicher Erfüllung als objektiver Umstände.“

Ein Beispiel: Das Zahlenrätsel Sudoku entzückt viele Menschen. Hier gibt es nur eine einzige Lösung, es gibt keine Begleitumstände oder Reaktionen anderer, die das Ergebnis bee­in­flussen könnten. Auch wie sich die Welt­geschichte in Zukunft entwickeln wird, hat keinen Einfluss auf die Lösung des Problems. Mithilfe einer passenden Software ließe sich jedes Sudoku in Sekun­den­schnelle per Knopfdruck lösen. Doch das entspricht nicht dem men­schlichen Vorgehen: Wir knobeln lieber, wählen indirekte Wege und gelangen über Zwis­chen­ziele zur Lösung. Umso mehr Sinn machen solche Umwege bei einem vielschichti­gen Problem. Dieses indirekte, schrit­tweise Vorgehen nennt man Obliquity.

Wege zum Glück

Für den Bergsteiger Reinhold Messner ist es vermutlich ein Moment des Glücks, auf dem Gipfel eines Acht­tausenders zu stehen. Der Weg dorthin jedoch, die ständige Gefahr, abzustürzen, zu erfrieren oder nicht genügend Luft zum Atmen zu bekommen, wird ihn wahrschein­lich nicht glücklich machen. Ähnlich ist es bei Eltern: Viele klagen über durchwachte Nächte, finanzielle Engpässe oder zu wenig Zeit für sich selbst. Doch gle­ichzeitig ist die Zeit mit den Kindern rückblickend gesehen für viele die glücklichste ihres Lebens. Dieser scheinbare Widerspruch wird aufgelöst, wenn Sie sich die Vielschichtigkeit der Situation vor Augen halten: Im Alltag sind Eltern oft frustriert und Bergsteiger leiden bei ihrem Hobby. Auf einer anderen Ebene kann der Erfolg, den Berg bezwungen bzw. die Kinder zu guten Menschen erzogen zu haben, jedoch Wohlbefinden und Zufrieden­heit auslösen.

„Das Glück ist nicht dort, wo man es sucht, sondern da, wo man es findet.“

Aus einer überge­ord­neten Sichtweise betrachtet, ist jede Situation ein Teilchen eines größeren Ganzen. Alle Teile zusammen können Glück bedeuten. Damit geht einher, dass man auf der Suche nach Glück dieses zwar an vielen Orten und auf vielfältige Weise vermutet, es aber dort und so nicht findet. Denn eine Anleitung von der Stange, um glücklich zu sein, die auch noch für alle gilt, gibt es genauso wenig wie den einen Weg, ein komplexes Problem zu lösen. Eines ist jedenfalls ziemlich sicher: Wohlstand und Glück gehen nicht Hand in Hand. Das zeigen Erhebungen aus den Industrieländern, in denen die Zahl der glücklichen Einwohner nicht steigt, obwohl das Einkommen zunimmt. Das wird etwa auch dadurch untermauert, dass in einem armen Land wie Nigeria die Leute auf einem ähnlichen Glücksniveau sind wie in Westeuropa.

Geld allein macht nicht glücklich

Firmen streben nicht nach Glück, aber nach Profit. Wer jedoch als Leitmotiv in der Un­ternehmen­skul­tur „Schafft so viel Profit wie möglich“ nennt, wird damit vermutlich nicht weit kommen. Denn erweist sich eine Firma als überaus gierig, färbt das auch auf die Mitarbeiter ab. Das kann nur ins Auge gehen, wie die Beispiele Citigroup oder Lehman zeigen. Dort ging es nicht um langfristige Wet­tbe­werb­svorteile, sondern um Wert­pa­pierop­tio­nen und Bonus­pro­gramme für die Mitarbeiter.

„Die reichsten Leute sind nicht die geldgierig­sten.“

Entgegen der Annahme, dass der Share­holder-Value der wichtigste Wert für ein Unternehmen ist, ist es vor allem von Bedeutung, dass eine Firma langfristig plant. Ein Unternehmen, das nicht nur auf eine kurzfristige Gewin­n­max­imierung aus ist, bietet sowohl den Mi­tar­beit­ern als auch den Kunden eine gewisse Sicherheit. Erstere sorgen sich so nicht ständig um ihre Arbeitsplätze und sind darum im Regelfall produktiver, und Letztere wissen, dass sie auf Qualität bauen können. Das wiederum bringt zufriedene Aktionäre – langfristig und nicht nur einmalig. Schließlich fördert ein gesundes Unternehmen auch die Gemein­schaft in einer Stadt. Kommt nur einer dieser Bausteine ins Wanken, bricht das ganze Unternehmen zusammen: Beschäftigt eine Firma nicht genügend Leute, leiden die Angestell­ten unter zu viel Arbeit und leisten schlechtere Arbeit. Das schafft un­zufriedene Kunden und wirkt sich auf die Investoren aus. Springen diese ab, ist die Firma vielleicht nicht mehr liquide und muss Mitarbeiter entlassen, was wiederum die Gemein­schaft vor Ort belastet.

„Eine Geschäftskultur, die vor allem die Gier preist, ist let­z­tendlich nicht mehr in der Lage, sich vor der Gier der eigenen Angestell­ten zu schützen.“

Allein wegen dieses Zusam­men­spiels der einzelnen Faktoren sollten auch Investoren mehr Interesse an guten Geschäften als am schnellen Geld haben.

Warum Durch­wursteln gar nicht so schlecht ist

Häufig ist es so, dass diejenige Lösung für ein Problem umgesetzt wird, die den meisten Beteiligten zusagt. Dabei vergisst man oft, nach objektiven und rationalen Gesicht­spunk­ten zu überprüfen, ob dieser Weg tatsächlich optimal ist. Vielmehr wird eine Abschätzung der Folgen und Kosten erst dann gemacht, wenn bereits eine Entschei­dung gefallen ist. Eine solche Vorge­hensweise ist eher intuitiv. Eine Alternative dafür könnte das Durch­wursteln sein. Das klingt zwar wenig pro­fes­sionell, gemeint ist damit jedoch, dass der Weg zum Ziel immer wieder neu bewertet wird, und zwar anhand von Erfolgen und Mis­ser­fol­gen. Was am Ende herauskommt, ist zwar kein gerader Weg, aber möglicher­weise der beste, obwohl er durch Umwege zustande gekommen ist.

„Gute Entschei­dung­sprozesse sind indirekt, weil sie sich der Wieder­hol­ung und des Experiments bedienen: Sie passen sich laufend an, da ständig neue In­for­ma­tio­nen ver­schiedener Art hinzukommen.“

Allerdings muss hier beachtet werden, ob es wirklich nur ein Ziel gibt oder doch mehrere. Beim Sudoku etwa steht fest, dass es nur ein einziges Ziel gibt, und wer das Rätsel gelöst hat, hat ein Er­fol­gser­leb­nis. Das Leben mit seinen Her­aus­forderun­gen ist jedoch selten so klar struk­turi­ert. Das zeigt sich beispiel­sweise an dem Wort „Gewinn“. Was ist damit gemeint? Die Kap­i­tal­ren­dite, der Share­holder-Value oder ein Gewinn, wie ihn das Rech­nungswe­sen anhand vorgeschriebener Formeln ermittelt? Je nachdem, von welchem Gewinn man spricht, wird man einen anderen Weg einschlagen. Damit ist klar: Wer sein Ziel oder seinen eigentlichen Auftrag nicht genau kennt, kann auch den Weg dorthin kaum finden.

Das Franklin-Gam­bit

Die erste Aufgabe bei der Lösung eines Problems besteht darin, zu entscheiden, welche In­for­ma­tio­nen bedacht werden sollen und welche nicht. Hier helfen der gesunde Men­schen­ver­stand und eine ordentliche Portion Urteilsvermögen. Beides hat man entweder von Geburt an oder durch Erfahrung erworben. Gesunden Men­schen­ver­stand und Urteilsvermögen benötigen Sie beispiel­sweise, wenn Sie eine Anthologie der besten Autoren zusam­men­stellen sollen. Wen würden Sie in eine solche Sammlung aufnehmen, wen nicht und aus welchen Gründen? Vermutlich würden Sie zuerst Ihre Auswahl treffen und nachträglich Gründe suchen, weswegen der eine Autor zu Wort kommen soll, der andere aber nicht. Dieses Vorgehen, zunächst eine Entschei­dung zu treffen und erst danach nach den passenden Gründen zu suchen, nennt man Franklin-Gam­bit. Der Begriff Gambit kommt aus dem Schachspiel, der erste Teil des Wortes bezieht sich auf Benjamin Franklin. Auch heute noch wenden viele Manager dieses zweifel­hafte Verfahren an, um Entschei­dun­gen zu treffen.

Die richtige Quelle finden

Eine weitere wichtige Rolle bei der Entschei­dungs­find­ung spielt die Quelle, aus der man seine In­for­ma­tio­nen bezieht. Ein Beispiel: Ein U-Bahn-Plan sagt nichts darüber aus, in welchen Ent­fer­nun­gen zueinander die Stationen sich tatsächlich befinden. Wer den U-Bahn-Plan nicht in Zusam­men­hang mit einem Stadtplan sieht, fährt ggf. einen weiten Umweg, obwohl er zu Fuß nur eine kurze Distanz hätte überbrücken müssen. Wer also nur den U-Bahn-Plan als Quelle nutzt, wird eine andere Entschei­dung treffen als jemand, der sich die U-Bahn-Sta­tio­nen eingebettet in einen Stadtplan ansieht. Ohne die richtige Quelle findet man also auch nicht zur richtigen Entschei­dung.

Ist Erfolg gleich Strategie?

Häufig ist es im Un­ternehmen­skon­text so, dass das Ziel ständig nachgebessert und angepasst wird. Nehmen wir das Beispiel Steve Jobs. Er hat Apple zu einem enorm er­fol­gre­ichen Unternehmen gemacht. Das Besondere daran ist, dass die Firma viel Geld mit Produkten verdient, von denen früher niemand gedacht hätte, dass er sie je benötigen würde. Apple ist ein gutes Beispiel dafür, wie Erfolg im Lauf der Zeit entstehen kann, wenn Profis her­vor­ra­gende Produkte immer weit­er­en­twick­eln und sie den gesellschaftlichen Gegeben­heiten anpassen. Schließlich befindet sich ein Unternehmen genauso wie die gesamte Welt in ständiger Entwicklung. Lernen und Nachmachen gehören zu den wichtigsten In­stru­menten der wirtschaftlichen und sozialen Anpassung. Einem Un­ternehmenser­folg muss also nicht zwangsläufig eine bestimmte Strategie zugrunde liegen – es kann sich auch einfach um Durch­wursteln handeln.

Alle kochen nur mit Wasser

Die Beispiele machen klar: Es ist deutlich kom­plizierter, in der Wirtschaft oder in der Politik durch die richtigen Entschei­dun­gen ans Ziel zu kommen, als man allgemein denkt. Und wer genau hinschaut, wird erkennen, dass überall nur mit Wasser gekocht wird. Wo es Ihnen schw­er­fallen würde, sich richtig zu entscheiden, wird es auch jemand anderem schw­er­fallen. Es wird viel mehr durch Zufall und Im­pro­vi­sa­tion gesteuert, als Sie möglicher­weise glauben. Das zeigt übrigens auch die Entwicklung am Aktienmarkt: Mag ein Kurs in den vergangenen Jahren noch so prächtig gestiegen sein – er kann ganz schnell einbrechen, wenn ein un­vorherse­hbares Ereignis eintritt. Da kein Börsenmakler hellsehen kann, müssen sich diese Fi­nanz­ex­perten auf das stützen, was in der Ver­gan­gen­heit erreicht wurde. Doch damit lässt sich keine sichere Zukunft planen. Ansonsten wären Börsenmakler innerhalb kurzer Zeit so reich, dass sie sich zur Ruhe setzen könnten.

„Nur ein überhe­blicher Mensch wird von sich glauben, eine komplette Stadt planen zu können, und nur ein fan­tasieloser Mensch würde das auch tun wollen.“

Ähnlich ist es bei Fußballern: Sie können zwar viel trainieren, aber ob der Ball schließlich ins Tor fliegt, hängt auch von einem Quäntchen Glück im richtigen Moment und von der geg­ner­ischen Mannschaft ab. Dafür kann es keine Garantie geben, egal wie gut der Sportler ist. Warum sollte es also in anderen Berufen anders sein? Sollten Sie einmal die Möglichkeit haben, einen berühmten Geschäftsmann nach dem Geheimnis seines Erfolgs zu fragen, wird er Ihnen vermutlich viele schöne Gründe angeben. Wenn Sie aber genau hinhören, stellen Sie wahrschein­lich fest, dass Sie keine wirkliche Antwort bekommen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Vermutlich weiß er es selbst nicht.

Recht haben kann gefährlich sein

Wer sich all dessen bewusst ist, kann das Beste daraus machen. Dazu gehört, sich nicht sklavisch an einem Weg und einem Ziel festzubeißen, aus Erfahrungen und Fehlern zu lernen und sich und sein Handeln anzupassen. Wer die Regeln kennt, kann von ihnen abweichen und bessere Wege suchen, vielleicht sogar ex­per­i­men­tieren. Das führt langfristig gesehen zu einem er­fol­gre­ichen Un­ternehmensman­age­ment.

„Wenn glückliche Menschen aus ihrem Leben berichten, wohlhabende Personen von ihrer Karriere oder er­fol­gre­iche Manager über ihr Unternehmen erzählen, dann ist von den un­ter­schiedlich­sten Aspekten die Rede, selten jedoch vom Streben nach Glück, Reichtum oder Profit.“

Aber Vorsicht! Selbst wenn Sie es schaffen, aus allen In­for­ma­tio­nen und Optionen die beste Lösung auszuwählen, heißt das noch lange nicht, dass sie auch jemand hören möchte. So wurden beispiel­sweise Mitarbeiter des Geheim­di­en­stes entlassen, die vorherge­sagt hatten, dass es einen Anschlag auf das World Trade Center in New York geben könnte. Gefeuert wurden auch Mitarbeiter bei Banken, die vor einem Zusam­men­bruch in der Fi­nanzbranche gewarnt hatten. Zwar mag es sich als kleine Genugtuung erweisen, Recht gehabt zu haben, aber den Betroffenen wäre es vermutlich lieber, im Unrecht gewesen zu sein und dafür noch ihren Job zu haben. Obliquity schützt leider nicht vor der Inkompetenz der anderen.

Über den Autor

John Kay ist Gast­pro­fes­sor an der London School of Economics und Direktor des Institute for Fiscal Studies. Er lehrte als Professor für Management in Oxford und führte eine eigene Un­ternehmens­ber­atung. Er ist auch Autor des Buches Why Firms Succeed.