Auf Umwegen zum Ziel
Je einfacher eine Fragestellung ist, desto leichter findet sich eine Lösung dafür. Und umgekehrt gilt: Ist ein Sachverhalt sehr komplex, kann es keinen direkten Weg zum Ziel geben. Denn niemand kann von Anfang an alle Begleitumstände so einschätzen, dass am Ende nur ein Weg übrig bleibt. Die Wissenschaft kennt zwar ein Vorgehen der Entscheidungsfindung, das genau auf dieser Annahme beruht. Sie wird Root-Methode genannt und geht davon aus, dass alle Möglichkeiten auf einen Schlag rational erfasst und bewertet werden können. Das lässt sich aber häufig nicht in die Praxis umsetzen.
„Glücklich zu sein ist eher eine Frage persönlicher Erfüllung als objektiver Umstände.“
Ein Beispiel: Das Zahlenrätsel Sudoku entzückt viele Menschen. Hier gibt es nur eine einzige Lösung, es gibt keine Begleitumstände oder Reaktionen anderer, die das Ergebnis beeinflussen könnten. Auch wie sich die Weltgeschichte in Zukunft entwickeln wird, hat keinen Einfluss auf die Lösung des Problems. Mithilfe einer passenden Software ließe sich jedes Sudoku in Sekundenschnelle per Knopfdruck lösen. Doch das entspricht nicht dem menschlichen Vorgehen: Wir knobeln lieber, wählen indirekte Wege und gelangen über Zwischenziele zur Lösung. Umso mehr Sinn machen solche Umwege bei einem vielschichtigen Problem. Dieses indirekte, schrittweise Vorgehen nennt man Obliquity.
Wege zum Glück
Für den Bergsteiger Reinhold Messner ist es vermutlich ein Moment des Glücks, auf dem Gipfel eines Achttausenders zu stehen. Der Weg dorthin jedoch, die ständige Gefahr, abzustürzen, zu erfrieren oder nicht genügend Luft zum Atmen zu bekommen, wird ihn wahrscheinlich nicht glücklich machen. Ähnlich ist es bei Eltern: Viele klagen über durchwachte Nächte, finanzielle Engpässe oder zu wenig Zeit für sich selbst. Doch gleichzeitig ist die Zeit mit den Kindern rückblickend gesehen für viele die glücklichste ihres Lebens. Dieser scheinbare Widerspruch wird aufgelöst, wenn Sie sich die Vielschichtigkeit der Situation vor Augen halten: Im Alltag sind Eltern oft frustriert und Bergsteiger leiden bei ihrem Hobby. Auf einer anderen Ebene kann der Erfolg, den Berg bezwungen bzw. die Kinder zu guten Menschen erzogen zu haben, jedoch Wohlbefinden und Zufriedenheit auslösen.
„Das Glück ist nicht dort, wo man es sucht, sondern da, wo man es findet.“
Aus einer übergeordneten Sichtweise betrachtet, ist jede Situation ein Teilchen eines größeren Ganzen. Alle Teile zusammen können Glück bedeuten. Damit geht einher, dass man auf der Suche nach Glück dieses zwar an vielen Orten und auf vielfältige Weise vermutet, es aber dort und so nicht findet. Denn eine Anleitung von der Stange, um glücklich zu sein, die auch noch für alle gilt, gibt es genauso wenig wie den einen Weg, ein komplexes Problem zu lösen. Eines ist jedenfalls ziemlich sicher: Wohlstand und Glück gehen nicht Hand in Hand. Das zeigen Erhebungen aus den Industrieländern, in denen die Zahl der glücklichen Einwohner nicht steigt, obwohl das Einkommen zunimmt. Das wird etwa auch dadurch untermauert, dass in einem armen Land wie Nigeria die Leute auf einem ähnlichen Glücksniveau sind wie in Westeuropa.
Geld allein macht nicht glücklich
Firmen streben nicht nach Glück, aber nach Profit. Wer jedoch als Leitmotiv in der Unternehmenskultur „Schafft so viel Profit wie möglich“ nennt, wird damit vermutlich nicht weit kommen. Denn erweist sich eine Firma als überaus gierig, färbt das auch auf die Mitarbeiter ab. Das kann nur ins Auge gehen, wie die Beispiele Citigroup oder Lehman zeigen. Dort ging es nicht um langfristige Wettbewerbsvorteile, sondern um Wertpapieroptionen und Bonusprogramme für die Mitarbeiter.
„Die reichsten Leute sind nicht die geldgierigsten.“
Entgegen der Annahme, dass der Shareholder-Value der wichtigste Wert für ein Unternehmen ist, ist es vor allem von Bedeutung, dass eine Firma langfristig plant. Ein Unternehmen, das nicht nur auf eine kurzfristige Gewinnmaximierung aus ist, bietet sowohl den Mitarbeitern als auch den Kunden eine gewisse Sicherheit. Erstere sorgen sich so nicht ständig um ihre Arbeitsplätze und sind darum im Regelfall produktiver, und Letztere wissen, dass sie auf Qualität bauen können. Das wiederum bringt zufriedene Aktionäre – langfristig und nicht nur einmalig. Schließlich fördert ein gesundes Unternehmen auch die Gemeinschaft in einer Stadt. Kommt nur einer dieser Bausteine ins Wanken, bricht das ganze Unternehmen zusammen: Beschäftigt eine Firma nicht genügend Leute, leiden die Angestellten unter zu viel Arbeit und leisten schlechtere Arbeit. Das schafft unzufriedene Kunden und wirkt sich auf die Investoren aus. Springen diese ab, ist die Firma vielleicht nicht mehr liquide und muss Mitarbeiter entlassen, was wiederum die Gemeinschaft vor Ort belastet.
„Eine Geschäftskultur, die vor allem die Gier preist, ist letztendlich nicht mehr in der Lage, sich vor der Gier der eigenen Angestellten zu schützen.“
Allein wegen dieses Zusammenspiels der einzelnen Faktoren sollten auch Investoren mehr Interesse an guten Geschäften als am schnellen Geld haben.
Warum Durchwursteln gar nicht so schlecht ist
Häufig ist es so, dass diejenige Lösung für ein Problem umgesetzt wird, die den meisten Beteiligten zusagt. Dabei vergisst man oft, nach objektiven und rationalen Gesichtspunkten zu überprüfen, ob dieser Weg tatsächlich optimal ist. Vielmehr wird eine Abschätzung der Folgen und Kosten erst dann gemacht, wenn bereits eine Entscheidung gefallen ist. Eine solche Vorgehensweise ist eher intuitiv. Eine Alternative dafür könnte das Durchwursteln sein. Das klingt zwar wenig professionell, gemeint ist damit jedoch, dass der Weg zum Ziel immer wieder neu bewertet wird, und zwar anhand von Erfolgen und Misserfolgen. Was am Ende herauskommt, ist zwar kein gerader Weg, aber möglicherweise der beste, obwohl er durch Umwege zustande gekommen ist.
„Gute Entscheidungsprozesse sind indirekt, weil sie sich der Wiederholung und des Experiments bedienen: Sie passen sich laufend an, da ständig neue Informationen verschiedener Art hinzukommen.“
Allerdings muss hier beachtet werden, ob es wirklich nur ein Ziel gibt oder doch mehrere. Beim Sudoku etwa steht fest, dass es nur ein einziges Ziel gibt, und wer das Rätsel gelöst hat, hat ein Erfolgserlebnis. Das Leben mit seinen Herausforderungen ist jedoch selten so klar strukturiert. Das zeigt sich beispielsweise an dem Wort „Gewinn“. Was ist damit gemeint? Die Kapitalrendite, der Shareholder-Value oder ein Gewinn, wie ihn das Rechnungswesen anhand vorgeschriebener Formeln ermittelt? Je nachdem, von welchem Gewinn man spricht, wird man einen anderen Weg einschlagen. Damit ist klar: Wer sein Ziel oder seinen eigentlichen Auftrag nicht genau kennt, kann auch den Weg dorthin kaum finden.
Das Franklin-Gambit
Die erste Aufgabe bei der Lösung eines Problems besteht darin, zu entscheiden, welche Informationen bedacht werden sollen und welche nicht. Hier helfen der gesunde Menschenverstand und eine ordentliche Portion Urteilsvermögen. Beides hat man entweder von Geburt an oder durch Erfahrung erworben. Gesunden Menschenverstand und Urteilsvermögen benötigen Sie beispielsweise, wenn Sie eine Anthologie der besten Autoren zusammenstellen sollen. Wen würden Sie in eine solche Sammlung aufnehmen, wen nicht und aus welchen Gründen? Vermutlich würden Sie zuerst Ihre Auswahl treffen und nachträglich Gründe suchen, weswegen der eine Autor zu Wort kommen soll, der andere aber nicht. Dieses Vorgehen, zunächst eine Entscheidung zu treffen und erst danach nach den passenden Gründen zu suchen, nennt man Franklin-Gambit. Der Begriff Gambit kommt aus dem Schachspiel, der erste Teil des Wortes bezieht sich auf Benjamin Franklin. Auch heute noch wenden viele Manager dieses zweifelhafte Verfahren an, um Entscheidungen zu treffen.
Die richtige Quelle finden
Eine weitere wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung spielt die Quelle, aus der man seine Informationen bezieht. Ein Beispiel: Ein U-Bahn-Plan sagt nichts darüber aus, in welchen Entfernungen zueinander die Stationen sich tatsächlich befinden. Wer den U-Bahn-Plan nicht in Zusammenhang mit einem Stadtplan sieht, fährt ggf. einen weiten Umweg, obwohl er zu Fuß nur eine kurze Distanz hätte überbrücken müssen. Wer also nur den U-Bahn-Plan als Quelle nutzt, wird eine andere Entscheidung treffen als jemand, der sich die U-Bahn-Stationen eingebettet in einen Stadtplan ansieht. Ohne die richtige Quelle findet man also auch nicht zur richtigen Entscheidung.
Ist Erfolg gleich Strategie?
Häufig ist es im Unternehmenskontext so, dass das Ziel ständig nachgebessert und angepasst wird. Nehmen wir das Beispiel Steve Jobs. Er hat Apple zu einem enorm erfolgreichen Unternehmen gemacht. Das Besondere daran ist, dass die Firma viel Geld mit Produkten verdient, von denen früher niemand gedacht hätte, dass er sie je benötigen würde. Apple ist ein gutes Beispiel dafür, wie Erfolg im Lauf der Zeit entstehen kann, wenn Profis hervorragende Produkte immer weiterentwickeln und sie den gesellschaftlichen Gegebenheiten anpassen. Schließlich befindet sich ein Unternehmen genauso wie die gesamte Welt in ständiger Entwicklung. Lernen und Nachmachen gehören zu den wichtigsten Instrumenten der wirtschaftlichen und sozialen Anpassung. Einem Unternehmenserfolg muss also nicht zwangsläufig eine bestimmte Strategie zugrunde liegen – es kann sich auch einfach um Durchwursteln handeln.
Alle kochen nur mit Wasser
Die Beispiele machen klar: Es ist deutlich komplizierter, in der Wirtschaft oder in der Politik durch die richtigen Entscheidungen ans Ziel zu kommen, als man allgemein denkt. Und wer genau hinschaut, wird erkennen, dass überall nur mit Wasser gekocht wird. Wo es Ihnen schwerfallen würde, sich richtig zu entscheiden, wird es auch jemand anderem schwerfallen. Es wird viel mehr durch Zufall und Improvisation gesteuert, als Sie möglicherweise glauben. Das zeigt übrigens auch die Entwicklung am Aktienmarkt: Mag ein Kurs in den vergangenen Jahren noch so prächtig gestiegen sein – er kann ganz schnell einbrechen, wenn ein unvorhersehbares Ereignis eintritt. Da kein Börsenmakler hellsehen kann, müssen sich diese Finanzexperten auf das stützen, was in der Vergangenheit erreicht wurde. Doch damit lässt sich keine sichere Zukunft planen. Ansonsten wären Börsenmakler innerhalb kurzer Zeit so reich, dass sie sich zur Ruhe setzen könnten.
„Nur ein überheblicher Mensch wird von sich glauben, eine komplette Stadt planen zu können, und nur ein fantasieloser Mensch würde das auch tun wollen.“
Ähnlich ist es bei Fußballern: Sie können zwar viel trainieren, aber ob der Ball schließlich ins Tor fliegt, hängt auch von einem Quäntchen Glück im richtigen Moment und von der gegnerischen Mannschaft ab. Dafür kann es keine Garantie geben, egal wie gut der Sportler ist. Warum sollte es also in anderen Berufen anders sein? Sollten Sie einmal die Möglichkeit haben, einen berühmten Geschäftsmann nach dem Geheimnis seines Erfolgs zu fragen, wird er Ihnen vermutlich viele schöne Gründe angeben. Wenn Sie aber genau hinhören, stellen Sie wahrscheinlich fest, dass Sie keine wirkliche Antwort bekommen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Vermutlich weiß er es selbst nicht.
Recht haben kann gefährlich sein
Wer sich all dessen bewusst ist, kann das Beste daraus machen. Dazu gehört, sich nicht sklavisch an einem Weg und einem Ziel festzubeißen, aus Erfahrungen und Fehlern zu lernen und sich und sein Handeln anzupassen. Wer die Regeln kennt, kann von ihnen abweichen und bessere Wege suchen, vielleicht sogar experimentieren. Das führt langfristig gesehen zu einem erfolgreichen Unternehmensmanagement.
„Wenn glückliche Menschen aus ihrem Leben berichten, wohlhabende Personen von ihrer Karriere oder erfolgreiche Manager über ihr Unternehmen erzählen, dann ist von den unterschiedlichsten Aspekten die Rede, selten jedoch vom Streben nach Glück, Reichtum oder Profit.“
Aber Vorsicht! Selbst wenn Sie es schaffen, aus allen Informationen und Optionen die beste Lösung auszuwählen, heißt das noch lange nicht, dass sie auch jemand hören möchte. So wurden beispielsweise Mitarbeiter des Geheimdienstes entlassen, die vorhergesagt hatten, dass es einen Anschlag auf das World Trade Center in New York geben könnte. Gefeuert wurden auch Mitarbeiter bei Banken, die vor einem Zusammenbruch in der Finanzbranche gewarnt hatten. Zwar mag es sich als kleine Genugtuung erweisen, Recht gehabt zu haben, aber den Betroffenen wäre es vermutlich lieber, im Unrecht gewesen zu sein und dafür noch ihren Job zu haben. Obliquity schützt leider nicht vor der Inkompetenz der anderen.