Schulden kurbeln die Wirtschaft an
Sind Sie auch mit Lehrspruch erzogen worden, dass man besser keine Schulden macht? Und glauben Sie, dass es klüger ist, zu sparen, bis man sich das leisten kann, was man haben möchte? Dann sind Sie mit dafür verantwortlich, dass die Wirtschaft einen Einbruch erlitten hat! Schulden sind nämlich nichts Schlimmes. Schließlich zahlt man in Form von Zinsen dafür, und man hat die Möglichkeit, sich in der Gegenwart etwas zu nehmen, was man sonst erst in der Zukunft bekäme. Unmoralisch ist das nicht, denn Moral und Geld haben sowieso nichts miteinander zu tun. Und Geld ist das Kernelement des Kapitalismus.
„Der Kredit ist der Wohlstandsmotor des Kapitalismus.“
Der Kapitalismus, dieses System des Einnehmens und Ausgebens von Geld, funktioniert so lange gut, bis einer der Beteiligten die Balance verliert. Zu vergleichen ist dieser Vorgang mit dem Geschehen auf einem Konzert der Rockgruppe The Who in den 60ern: Auf der Bühne geriet ein Musiker aus dem Gleichgewicht, und das hatte einen Dominoeffekt, der dazu führte, dass das Konzert in einer Schlägerei zwischen den Bandmitgliedern endete. So ähnlich war es während der Finanzkrise: Da u. a. die Deutschen zu viel sparten, die US-Amerikaner gar nicht und wieder andere zu wenig, kam es zu einem Ungleichgewicht. Die Folge: eine weltumspannende wirtschaftliche Krise.
„Jeder Kredit ist ein Pakt über die Zukunft: Das Morgen wird im Heute verfügbar gemacht.“
Bleiben wir bei den Gemeinsamkeiten zwischen Wirtschaft und Kultur: Die Musiker von The Who sollen unter Drogen gestanden haben, als sie aus dem Gleichgewicht kamen. Das gilt auch für die Finanzwelt. Deren Droge heißt jedoch nicht Alkohol oder Kokain, sondern Kredit. Drogeneinfluss in der Wirtschaft erkennen Sie übrigens recht schnell: Wenn alle glücklich sind, die Wirtschaft nur die Richtung aufwärts kennt, die Börsenkurse in den Himmel schießen und die Arbeitslosenquote sinkt, dann befinden sich Drogen im Finanzkreislauf. Auch das Wunderding Kredit macht süchtig, zumindest wenn es falsch dosiert wird. Das ist etwa dann der Fall, wenn Bankkunden einen Kredit bekommen, den sie nie zurückzahlen können. So geschehen mit den so genannten Subprime-Krediten. Subprime steht zwar für nicht optimal. Oder vielleicht sogar für ziemlich schlecht. Verkauft wurden die Kredite aber trotzdem.
Das Ungleichgewicht in der Finanzwelt
Da stellt sich einerseits die Frage, warum Menschen einen Kredit bekommen, die ihn nicht bedienen können. Und andererseits, warum es überhaupt Menschen gibt, die ein Darlehen nicht zurückzahlen können. Schließlich beträgt das Bruttosozialprodukt der gesamten Welt 48 Billionen Dollar. Verteilte man diese über 6,5 Milliarden Erdbewohner, hätte jeder im Jahr 7000 $ zum Leben.
„Gut möglich, dass wir soeben Zeugen der Geburt einer neuen Ära kapitalistischer Evolution wurden, in der Staat und Großkapital zusammenwachsen.“
Tatsache ist jedoch, dass 50 % der Erdbevölkerung täglich weniger als 2 $ zum Leben haben und dass 1 Milliarde Menschen sogar von weniger als 1 $ leben. Und dabei geht es nicht nur um den Unterschied zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern: Selbst in Staaten mit hoher Lebensqualität nimmt der Anteil der Armen zu. Das sollte auch denen zu denken geben, die auf der Seite der Wohlhabenden stehen: Denn wenn es irgendwann nur noch einige wenige Leute gibt, die genügend Geld haben, um einzukaufen, lohnt sich keine Marktwirtschaft mehr für sie. Möglicherweise hätten sie nicht einmal was davon, ihr Geld anzulegen. Denn damit man eine Rendite erzielen kann, muss es Investmentprodukte geben. Ob ein Unternehmer aber investiert und ob seine Bank ihn dabei unterstützt, hängt davon ab, was beide Parteien von der Zukunft erwarten. Die kann bekanntlich niemand voraussehen. Trotzdem spielt es für viele Beteiligte eine herausragende Rolle, wie die Notenbanker sich verhalten und welche Zukunftserwartungen sie äußern. Die Gefahr dabei ist, dass es aussieht, als ob sich Wirtschaft, Aufschwung und Krise steuern ließen. Dem ist jedoch nicht so.
Die Geschichte des Kredits
Kredite sind nichts Neues. Es gab sie schon im zweiten Jahrtausend v. Chr. in Babylonien. Die Zinssätze für geliehenes Geld lagen bei happigen 20–33 %. Die Folge: Schuldenkrisen. Schon damals sprang in schwierigen Zeiten der Staat ein. Im Jahr 1788 v. Chr. beschloss z. B. der König Rim-Sin, dass alle Schulden hinfällig werden sollten. Damit brachte er die von der Finanzlast befreite Wirtschaft wieder in Schwung. Nur einige Geldverleiher gingen durch dieses Manöver insolvent. Der römische Kaiser Tiberius wählte seinerzeit ein Instrument, das heute als Rettungsschirm bekannt ist: Er stellte 100 Millionen Sesterzen zur Verfügung, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
„Schulden sind die Droge der Ökonomie.“
Die moderne Finanzwelt spezialisierte sich später auf Kredite und Investmentbanken. Man hatte erkannt, welches Potenzial im Finanzmarkt steckt. Aber nicht überall: In Deutschland etwa wurden Großprojekte wie Staudämme oder die Verlegung von Eisenbahngleisen lange Zeit nur verwirklicht, wenn jemand das Geld dafür aufbrachte. Heute ist das natürlich anders: Banken geben auch in Deutschland gern Kredite, denn damit verdienen sie Geld in Form von Zinsen. Für die Wirtschaft ist das schlicht notwendig, denn ohne Kredite gibt es weder Investitionen noch einen Aufschwung. In Wirtschaftskrisen allerdings sind Banken mit Darlehen weniger freigiebig, weil sie sich darum sorgen, ob sie das geliehene Geld zurückbekommen. Alternativ verdienen sie ihr Geld mit Anlagen. Das Problem dabei ist, dass man mit Krediten Arbeitsplätze und Einkommen sichert, mit Anlagen jedoch nicht. Außerdem sind Letztere auch nicht immer sicher, wie die Geschichte gezeigt hat.
Das Auf und Ab der Finanzgeschichte
Aktienbanken gibt es seit 1826. Schnell waren sie sehr erfolgreich. Um 1850 gab es in Großbritannien doppelt so viele dieser Spezialbanken wie in London Privatbanken. 80 Jahre später stürzte die Finanzwelt in eine Krise, welcher der Zweite Weltkrieg folgte. Danach hatten die Staaten hohe Schulden – und eine ebensolche Bonität. Jetzt florierte die Wirtschaft wieder. Nach und nach wurde der Finanzmarkt immer fragmentierter und immer mehr riskante Geldanlageprodukte wurden aufgelegt. Aber auch das war nichts völlig Neues: Schon in den 1920er Jahren hatte beispielsweise Charles Ponzi mit einem Schneeballsystem für Furore unter den anlagewilligen Investoren gesorgt. Doch gelernt haben die Anleger nichts aus solchen Geschichten. Auch im frühen 21. Jahrhundert wurde in Produkte investiert, die man teilweise nicht mehr durchschauen konnte, gemacht von Leuten, die so viel Geld verdienen wie einige Superfußballer. Ein wichtiger Name in diesem Zusammenhang ist Bernhard L. Madoff, der von Anlegern 65 Milliarden Dollar bekam, um sie zu verwalten. Im Fall Ponzi waren es nach heutigem Geldwert lediglich 150 Millionen Dollar. Dies sind jedoch nicht die einzigen Namen, die für Geldvernichtung stehen. Zu Zeiten der New Economy waren es Firmen wie Enron und Worldcom. Und zuletzt stand das Wort „Subprime“ für Weltwirtschaftskrise. Wieder einmal musste der Staat einspringen.
Der Staat und die Krise
Im Prinzip war das genau richtig, denn wenn eine Krise dazu führt, dass die Wirtschaft immer mehr in die Knie geht, kommt es zu einem Fall des Preisniveaus, zu einer Deflation. Vorher aufgenommene Kreditsummen müssen dann weiterhin getilgt werden, obwohl die Einnahmen immer weiter schrumpfen. Die Folge: Ein Großteil der Wirtschaft stirbt, Arbeitnehmer werden entlassen, im schlimmsten Fall kommt es zu Unruhen. Darum lobte etwa der Ökonom John Maynard Keynes das Eingreifen des Staates in der Krise. Denn wenn dieser in schwierigen Zeiten kein Geld in die Hand nimmt, macht es niemand. Es ist übrigens keine Lösung, zur Entlastung der betroffenen Unternehmen die Löhne zu senken: Denn dann haben die Konsumenten weniger Geld, das sie ausgeben, also in den Wirtschaftskreislauf stecken können. Schließlich ist jeder Nehmer und Geber zugleich: Der Lohn, der aufs Girokonto geht, wird im Supermarkt oder beim Immobilienkauf wieder ausgegeben.
„Was dem Konsul Johann Buddenbrook zeit seines Lebens verborgen blieb, stellt für uns kein Mysterium mehr dar: Investitionen auf Kredit sind der Motor des kapitalistischen Wohlstandswachstums.“
Sind die Zeiten so schlecht, dass keiner investieren will, springt also oft der Staat ein. Er lässt dann beispielsweise, wie im Osten Deutschlands, unnötige Straßen und Brücken bauen. Die bringen Arbeitsplätze, und dadurch kommt Geld ins Portemonnaie der Konsumenten. Auch in der letzten Finanzkrise ist der deutsche Staat eingesprungen, z. B. mit der Abwrackprämie. Diese Subvention einer Branche senkte im Prinzip das Preisniveau von Autos, sodass mehr Leute Neuwagen kauften. Allerdings sei dahingestellt, ob Deutschland wirklich gestärkt aus der Krise hervorgeht, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel immerzu betont. Möglicherweise gilt das für große Firmen, die davon profitieren, dass ihre Konkurrenz in Form kleiner und mittelständischer Unternehmen in der Krise aufgegeben hat. Interessant ist überdies, in welchem Tempo Entscheidungen in Bezug auf die Krise getroffen wurden. Geht es beispielsweise um Klimafragen, sind sich die Regierungen der Welt selten so einig.
Wo kommt eigentlich der Gewinn her?
Zum Glück gibt es nicht nur Krisenzeiten, sondern auch gute Jahre, in denen Unternehmer und Privatanleger gleichermaßen Gewinn machen. Wenn Sie allerdings etwas genauer hinschauen, werden Sie sehen, dass alles, was einer gewonnen hat, einem anderen fehlt. Nicht nur Karl Marx fragte sich darum, wo eigentlich der Gewinn herkommt. Ein stark vereinfachtes Beispiel: Eine Firma produziert Lebensmittel. Sie bezahlt ihre Arbeitskräfte für deren Arbeit. Die gehen mit dem Geld in den Supermarkt und kaufen die Lebensmittel, die sie selbst täglich herstellen. Sie helfen also, ihren Lohn und den Umsatz ihres Arbeitgebers zu sichern. Wie aber kann der Arbeitgeber Gewinn machen, wenn doch nur das Geld an ihn zurückfließt, das er als Lohn ausgezahlt hat? Den entscheidenden Unterschied macht der Kredit, das Schuldenmachen: Dadurch, dass jemand in Vorleistung tritt, wird quasi Geld geschöpft, werden Investitionen möglich, und es gelangt ein Mehr in den Kreislauf des Gebens und Nehmens.
„Damit Gewinnerzielung auf gesamtwirtschaftlicher Ebene möglich wird, muss irgendwer per Kredit in Vorleistung gehen.“
Als Nächstes kommt der Export ins Spiel. Geld aus dem Ausland wird beispielsweise für deutsche Produkte ausgegeben. Das freut die deutschen Unternehmer – auch wenn dieses Geld den ausländischen Firmen, deren Produkte dann nicht gekauft werden, fehlt. Ist ein Land stark auf Export fokussiert, ist es besonders betroffen, wenn ein anderes Land seine Produkte nicht mehr abnimmt. Nach dem Ersten Weltkrieg etwa ergab sich folgende schwierige Situation: Die Sieger wollten keine deutschen Importwaren, während Deutschland seine Schulden nur mithilfe von Exporten abbauen konnte.
„Wenn nur genügend Leute daran glauben, dass es aufwärts (oder abwärts) geht, und sich entsprechend verhalten, dann dreht sich der konjunkturelle Wind in diese Richtung.“
In den letzten Jahren war Deutschland immer wieder Exportweltmeister und profitierte beispielsweise vom Wirtschaftsboom in China. Die Maschinen, auf denen chinesische Produkte hergestellt werden, kommen größtenteils aus Deutschland. So schön das ist: Der Binnenmarkt in Deutschland wurde dabei vergessen, die Löhne der Arbeitnehmer wurden nicht angepasst. Sollte der Export für Deutschland wegbrechen, hat das Land ein Problem. Zuletzt geschah dies, als deutsche Autos im Ausland nicht mehr verkauft wurden. Die Folge: Der Staat sprang ein und begeisterte die Bürger mit der Abwrackprämie für neue Autos.
Was bringt die Zukunft?
Was in einigen Jahren oder Jahrzehnten sein wird, lässt sich nicht voraussehen. Ansonsten ließen sich im Vorfeld einer Krise bereits die Weichen so stellen, dass es gar nicht zum Schlimmsten kommt. Trotzdem: Ob es den Kapitalismus in seiner heutigen Form immer geben wird, ist fraglich. John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter, Ökonom aus Österreich, hielten zu ihrer Zeit den Sozialismus als Folgemodell des Kapitalismus für möglich.
„Die aktuelle Krise liefert einen deutlichen Hinweis darauf, wie die mittelfristige Zukunft aussehen wird: Die Wirtschaft wird weiterhin unter finanzieller Instabilität leiden und schwere Krisen durchleben, und der Staat wird zur Unterstützung eilen.“
Bedenkt man allerdings, dass die meisten der wenigen sozialistischen Länder immer kapitalistischer werden, scheinen die Ökonomen sich zu irren. Auf der anderen Seite nimmt die Zahl der Krisen im Kapitalismus ständig zu. Vermutlich wird auch das nächste Mal wieder der Staat einspringen, wenn die Wirtschaft zusammenbricht. Oder möglicherweise sogar eine neue, internationale Institution, die in mehreren Ländern gleichzeitig das Eisen aus dem Feuer holt.