Die Eigendynamik von Zusammenschlüssen
Unternehmensfusionen (Mergers) oder Zukäufe (Acquisitions) folgen idealerweise der Formel „1 + 1 = 3“. Doch längst nicht alle „Elefantenhochzeiten“ unter vermeintlich Gleichen gehen reibungslos über die Bühne – genau genommen ist es sogar eine Minderheit. Den mühsamen Prozess der Wertschöpfung in einem Unternehmen durch einen Zusammenschluss abzukürzen, klingt verlockend, birgt jedoch immense Risiken. Oft genug gehen die Verantwortlichen von Prämissen aus, die allein mit gesundem Menschenverstand als naiv entlarvt werden könnten. Mergers & Acquisitions (M&A) können ein Eigenleben entwickeln, dessen sich die Beteiligten erst bewusst werden, wenn es zu spät ist. Man muss sich nur vor Augen halten, was eine Großfusion für bis dato in scharfem Wettbewerb stehende Unternehmen bedeutet: Was bislang der Abgrenzung von der Konkurrenz diente, soll plötzlich Teil einer gemeinsamen Identität sein.
Fusionswellen kommen immer wieder
Der M&A-Markt wuchs in den Jahren bis zur Finanzkrise 2008 stark an. Das schiere Volumen der Transaktionen ist jedoch kein Hinweis auf deren Erfolg. Das Kalkül hinter einer Transaktion besteht in der Regel zum einen darin, die eigene Marktmacht zu vergrößern, zum anderen, möglichst hohe Synergieeffekte – meist auf der Kostenseite – zu erzielen. Der Versuch der Unternehmen, statt des kraftraubenden organischen Wachstums eine Abkürzung über externes Wachstum (Auf- und Zukäufe, „Value Capturing“) zu nehmen, ist altbekannt. Die jüngste Fusionswelle ist denn auch keineswegs die erste ihrer Art. Schon Ende des 19. Jahrhunderts versuchten Trusts, marktbeherrschende Monopolstellungen zu erlangen. Weitere Fusionswellen sind aus den 1920er Jahren sowie den 60ern und 70ern bekannt. In diese Zeit fiel etwa der Umbau des Automobilherstellers Mercedes-Benz zu einem weltweit agierenden Technologiekonzern, der selbst in die Bereiche Luftfahrt und Schienenverkehr vordrang. Stets folgte auf eine solche Welle eine Antwort durch zunehmende Regulierung – bis der Prozess wieder von Neuem begann.
Was gefährdet den Erfolg?
Misst man den Erfolg oder Misserfolg einer Fusion nur an Jahresabschlüssen, Wiederverkaufswerten oder anderen ökonomischen Kriterien, kommen die „weichen Faktoren“ zu kurz, etwa die Fluktuationsrate bei Leistungsträgern, die Motivation der Belegschaft, die Reputation bei Kunden und Zulieferern oder die Verwässerung der Marken. Bei allem Schönrechnen im Vorfeld vergessen die Verantwortlichen häufig diese Risiken im M&A-Prozess:
- Interessendivergenzen: Diese bestehen nicht nur zwischen den Unternehmenslenkern selbst, sondern auch zwischen Management und Aktionären sowie weiteren Interessenseignern.
- Kurzsichtigkeit: Das Topmanagement wird oft mit Aktienoptionen vergütet, was den Fokus auf kurzfristige Investitionen und schnellen Erfolg statt auf nachhaltiges Wirtschaften lenkt.
- Vernebelte Sicht: Das zu kaufende Unternehmen wird im Vorfeld oft nicht gut genug durchleuchtet. Es besteht die Gefahr, dass sich das Management selbst überschätzt. Überhöhte Kaufpreise rächen sich später.
- Planungslosigkeit: Die langwierige Integrationsphase und die damit einhergehenden Kosten werden regelmäßig unterschätzt.
- Psychische Dynamik: Stresskosten und Verlustängste sind häufige Begleiterscheinungen von Fusionen. Die Folgen: sinkende Produktivität und Mitarbeiterfluktuation bis hin zum gefürchteten „Braindrain“ (Leistungsträger verlassen die Firma).
„Das zentrale Merger-Thema ist und bleibt die durch den radikalen Wandel der bisher gültigen Handlungsprämissen ausgelöste Irritation der eigenen Identität.“
Beobachter kommen zur ernüchternden Erkenntnis, dass rund zwei Drittel bis drei Viertel aller Zusammenschlüsse als gescheitert gelten müssen. Eine Untersuchung unter börsennotierten amerikanischen Firmen zeigte, dass 61 % der fusionierten Unternehmen nach fünf Jahren wieder aufgelöst wurden. Bei 250 europäischen Fusionen wiederum ergab sich nur bei weniger als einem Drittel eine Wertsteigerung. Und tatsächlich nennen die Beteiligten als zentralen Faktor den „cultural clash“, das Aufeinandertreffen verschiedener Unternehmenskulturen – und das müssen nicht einmal unterschiedliche Nationalitäten sein.
Die entscheidenden Bereiche
Die entscheidende Phase der M&A-Aktivitäten ist die Post-Merger-Integration, also all das, was im Anschluss an die Vertragsunterzeichnung abläuft und unter dem Motto „Zusammenwachsen“ steht. Die wichtigsten und potenziell problematischsten Punkte sind:
- Strategie: Die beiden bisherigen Strategien sollten sich ergänzen und in eine neue münden.
- Administration: Doppelbesetzungen müssen geklärt, Planungs- und Kontrollabläufe harmonisiert, IT-Systeme integriert werden.
- Personal: Es braucht Einigkeit über Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen, Führungsstile sowie Anreiz- und Vergütungssysteme.
- Kultur: Nationale und unternehmensspezifische Kulturen bergen ein hohes Konfliktpotenzial. Viele Selbstverständlichkeiten sollten hinterfragt werden, z. B. durch Besuche im jeweils anderen Unternehmen.
- Geschäftsprozesse: Es gilt, Produktlinien, Forschungsprojekte und Standorte zu konsolidieren und Kostensynergien bei Einkauf und Vertrieb zu prüfen.
- Externes Umfeld: Die Kommunikation mit Kunden, Lieferanten, Beratern, Analysten usw. muss geregelt werden.
Grünes Licht für Alcatel und Lucent
Als lehrreiches Beispiel einer Suche nach „Value Capturing“ gilt der Zusammenschluss der beiden großen Telekommunikationsunternehmen Alcatel und Lucent im Jahr 2006. Die Fusion zwischen dem französischen und dem amerikanischen Big Player erweist sich im Nachhinein als Modellfall in Sachen Lern- und Veränderungsfähigkeit.
„Anstatt als Unternehmen organisch zu wachsen, sucht man sowohl auf der Ertrags- als auch auf der Kostenseite nach ‚Abkürzungen‘, die es erlauben, den Unternehmenswert rasch zu steigern.“
Alcatel mit Stammsitz in Paris hatte zu der Zeit einen Jahresumsatz von 13 Milliarden Euro, Lucent (New Jersey) erzielte jährliche Erlöse von rund 9 Milliarden US-Dollar. Sinkende Margen im Kerngeschäft, anhaltender Innovationsdruck und starke Konkurrenz aus Fernost brachten Alcatel und Lucent unter Zugzwang – und damit zusammen. Die formelle Vertragsunterzeichnung fand am 2. April 2006 statt. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Megafusion vielen Beobachtern und Beteiligten durchaus plausibel erschien, sollten erste Probleme nicht lange auf sich warten lassen.
„Eine Kultur – und sei sie nach außen scheinbar noch so homogen – ist unweigerlich von Differenzen bestimmt.“
Als Schlüsselbereich kristallisierte sich schon bald die Abteilung Human Resources (HR) heraus. Kein anderer Unternehmensbereich ist derart stark mit kulturellen Fragen konfrontiert. Die Schwierigkeit für das Personalmanagement lag nicht zuletzt darin, etwas aktiv zu gestalten, während man selbst Gegenstand des Gestaltungsprozesses war – schließlich ging es, ganz natürlich bei Fusionen, auch um einen beträchtlichen Stellenabbau. Im Konfliktfeld aller bestehenden und immer neu auftauchenden Ansprüche bei einer Fusion ist der Bereich HR für folgende Punkte verantwortlich:
- Rollenprofile: Die Strategie muss in konkrete Anforderungen an die Mitarbeiter übersetzt werden.
- Arbeitseffizienz: Es müssen Systeme, Prozesse und Werkzeuge bereitgestellt werden, damit eine einheitliche Steuerung und damit Arbeitseffizienz überhaupt möglich ist.
- Steuerung: Die Dynamik von Konflikten muss frühzeitig erkannt und kontrolliert werden.
- Lernen: Die Einsatzbereitschaft und der Leistungswille aller Mitarbeiter müssen durch regelmäßige Schulung gefördert werden.
Abgrenzen und bewahren
Die ersten „Immunreaktionen“ blieben auch bei Alcatel-Lucent nicht aus. Unterschiedliche Rollenverständnisse führten schon bald zu einer Pattsituation; beide Partner wollten ihre Positionen verteidigen. Das merkte auch die HR-Abteilung: Zu einem Workshop in der Frühphase der Integration erschienen sämtliche 80 HR-Mitarbeiter von Alcatel, während nur ganze zehn von Lucent auftauchten. Eine erste Beruhigung der Lage wurde durch immer neue Ankündigungen von Personalabbaumaßnahmen konterkariert.
„Orientiert am ‚best of both‘ entstand am Ende eine Organisation aus ‚best of compromises‘.“
Unter diesem Bombardement unvorteilhafter Nachrichten war an Change-Management und Post-Merger-Programme nicht zu denken. Aufseiten der ehemaligen Lucent-Mitarbeiter kam bald das Gefühl der „Assimilation“ auf; die halbwegs symmetrisch veranschlagten Personalbesetzungsrichtlinien ließen sich auf den unteren Ebenen aufgrund verschiedener Startbedingungen nicht durchhalten. Die ersten Mitglieder des regionalen HR-Führungsteams in Deutschland – zunächst Ex-Lucent, später auch Ex-Alcatel – gingen nach wenigen Monaten frustriert von Bord; sogar diejenigen, deren eigentliche Aufgabe es war, einem solchen Experten-Exodus zuvorzukommen.
Nach zwei Jahren zurück zum Start
Eine nach rund einem Jahr durchgeführte unternehmensinterne Umfrage im neuen Riesenkonzern brachte es schmerzhaft an den Tag: „Wir treten auf der Stelle“ war das vorherrschende Gefühl. Es kam zur Restrukturierung der Restrukturierung. Das Managementteam wurde von zuvor 22 auf nur noch acht Personen zusammengestutzt. Was die Zentrifugalkräfte ohnehin ans Tageslicht gebracht hatten, wurde jetzt offiziell: „Think global – act local“ setzte sich im gesamten Konzern durch, eine Art Rückkehr zum Schutz der internen Subkulturen.
„Im laufenden Spiel der Kräfte leuchtete die Einsicht auf, dass man mit Risiken und unerwarteten Nebenwirkungen rechnen muss, wenn man Integration verordnet.“
Die Lektion: Auf von oben verursachte Probleme mit ebenso von oben verschriebenen Maßnahmen zu reagieren, hätte die Immunabwehr nur weiter stimuliert und die Spaltung beschleunigt. Zu allem Überfluss leistete auch noch die Finanz- und Wirtschaftskrise ihren Beitrag zum Misserfolg; die Alcatel-Lucent-Aktie erlitt einen Kursverlust von 90 %. Als Pat Russo (ehemals CEO von Lucent) und Serge Tchuruk (ehemals CEO von Alcatel), die beiden Protagonisten des Mergers, im Sommer 2008 ihren Hut nahmen, wunderte dies niemanden mehr. Der Einzug des neuen CEOs Ben Verwaayen – ein Externer, der zuletzt sechs Jahre bei British Telecom war – bedeutete schließlich die dritte Restrukturierung seit dem Zusammenschluss.
Lessons learned
Die Lehren aus diesem Fusionsprozess scheinen fast trivial – doch selbstverständlich ist in der Praxis einer Großfusion rein gar nichts:
- Jeder Mitarbeiter muss die kommunizierte Vision und Ausrichtung wirklich verstehen.
- Das Management muss das Führungsvakuum entschlossen besetzen.
- Je mehr Mitarbeiter sich als Teil der Veränderung begreifen, desto besser sind die Erfolgsaussichten.
- Aktionismus und Feuerwehrmentalität sind gefährlich; es braucht Auszeiten, in denen sich das Erreichte setzen kann.
- Gerade bei Großkonzernen muss die Strategie mehrfach nachgebessert werden. Sofern dies gut kommuniziert wird, besteht kein Anlass zur Sorge.
- Aktives Mitmachen hilft: Wo immer neu designt oder optimiert wird, anstatt Prozesse aus einem der Alt-Unternehmen zu übernehmen, wächst die Wahrscheinlichkeit für eine Beteiligung der dafür zuständigen Mitarbeiter.