Die Ursachen der Wachstumskritik
Die weitverbreitete Skepsis gegenüber dem Wirtschaftswachstum beruht auf folgenden Hauptursachen: der Finanzkrise, den begrenzten natürlichen Ressourcen, der Bedrohung durch den Klimawandel und dem Wunsch nach Gerechtigkeit. Das Wirtschaftswachstum wird für die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich verantwortlich gemacht. Aber auch andere Thesen und Ideen schüren eine wachstumskritische Stimmung. Etwa, dass der Mensch in den modernen Gesellschaften kulturell verkomme und trotz Wachstum und Fortschritt kein bisschen glücklicher geworden sei. Die Globalisierung führe zu weltweit standardisierten Produkten, einschließlich Kleidung und Fast Food. Auch die Tatsache, dass immer weniger jüngere und leistungsfähige Arbeitnehmer die Versorgung von immer mehr Älteren sicherstellen müssen, legt den Kritikern zufolge einen Expansionsstopp nahe.
„Wachstum erlaubt überhaupt erst, den Sozialstaat in seinen verschiedenen Dimensionen finanzierbar zu machen.“
Jedem Expansionsgegner sollte aber klar sein, dass ein Verzicht auf Wirtschaftswachstum keinen Stillstand, sondern bald auch einen erheblichen Rückstand im Vergleich zu anderen, weiterhin wachsenden Nationen bedeuten würde. Fehlt das Wirtschaftswachstum, würden auch Kultur, Künste und andere gesellschaftliche Errungenschaften erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Denn Wachstum ist nicht rein quantitativ zu sehen: Die Menschen konsumieren nicht einfach immer mehr Autos, Kühlschränke, Fernseher usw., sondern sobald der Grundbedarf einmal gestillt ist, nimmt das Wachstum eine qualitative Dimension an. Es werden dann nicht immer mehr, dafür aber immer bessere und schönere Autos, Kühlschränke und Fernseher hergestellt.
Arm und Reich
Die Kritik, dass Wachstum die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden lasse, kann man so undifferenziert nicht stehen lassen. Die Armutsquote ist seit dem 19. Jahrhundert weltweit stetig zurückgegangen. In einigen Ländern öffnet sich die Schere zwischen niedrigen und höheren Einkommensschichten zwar tatsächlich. Der Grund dafür ist jedoch nicht eindeutig klar. Die einen sehen ihn in der technischen Entwicklung: Einfache Tätigkeiten werden immer häufiger durch Maschinen ausgeführt, wodurch ihr Wert sinkt. Die anderen machen die Ursache im internationalen Handel mit Schwellenländern fest, deren Produkte mit den unsrigen konkurrieren und so Arbeitsplätze hierzulande gefährden. Wie soll man mit diesen negativen Wirkungen des Wachstums umgehen? Die einen wollen die nationale Wirtschaft abschotten und den grenzüberschreitenden Handel eindämmen. Die anderen sind bestrebt, die positiven Wirkungen der Globalisierung zu fördern und die negativen zu minimieren. Diese zweite Möglichkeit beinhaltet die Chance, dass wirtschaftliche Dynamik entsteht, die ihrerseits Wohlstand und Wissen fördert.
Bevölkerung und Ernährung
Die Weltbevölkerung wird bis Mitte dieses Jahrhunderts weiter ansteigen, doch dann ist mit einem leichten, aber kontinuierlichen Rückgang zu rechnen. Der Grund dafür ist in der Wohlstandsentwicklung der meisten Länder zu suchen. Die Familien benötigen Kinder nicht mehr als Arbeitskräfte und Versorger im Alter. Gebildete Frauen verhüten häufiger und bekommen ihr erstes Kind später. Sie verwirklichen sich gern im Beruf und beschränken sich daher meist auf ein bis zwei Kinder, die bildungsmäßig gut gefördert werden.
„Wachstum der Wirtschaft heißt vor allem Wachstum des Wissens.“
Die Frage bleibt indes, ob die Nahrungsmittel für den erwarteten Höchststand der Bevölkerung (9–10 Milliarden Menschen) ausreichen werden. Die Problematik verschärft sich durch die seit einigen Jahren steigenden Lebensmittelpreise. Das liegt z. T. daran, dass die Bewohner ehemals armer Länder sich jetzt ebenfalls eine Vielfalt an Lebensmitteln gönnen, darunter Fleisch. Statt dass also wie früher Getreide oder Reis unmittelbar verzehrt werden, verfüttert man die Körner an Zuchttiere, wodurch die insgesamt verfügbare Nahrungsmittelmenge schrumpft. Ein weiterer Grund für steigende Lebensmittelpreise ist, dass einstige Anbauflächen von Weizen und Soja nun zum Anbau von Mais und Ölpflanzen genutzt werden, um Biotreibstoffe herzustellen. Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, müssen die Nahrungsmittelerträge durch qualitativ hochwertiges Saatgut, das an die Umgebung angepasst ist, sowie durch die Vergabe von (Mikro-)Krediten an die Landwirte in den Schwellenländern gesteigert werden.
Energie, Klima- und Wertewandel
Der Club of Rome sah 1972 die Grenzen des Wachstums, so der Titel seines einflussreichen Buches, im Energieverbrauch: Erdöl und andere Rohstoffe sind endlich und irgendwann aufgebraucht. Aber Beschränkungen und Engpässe können die Industrie zu kreativen und innovativen Lösungen anregen – so geschehen infolge der Ölkrisen Anfang der 70er und 80er Jahre. Der Anstieg des Ölpreises führte zur Entwicklung energiesparender Maschinen – ein Fortschritt, der uns noch heute zugutekommt. Zudem war in der Zwischenzeit die Suche nach weiteren Ölquellen erfolgreich. Die Industrienationen tragen zweifellos am stärksten zum Klimawandel bei, doch findet in den aufstrebenden Schwellenländern eine deutliche Zunahme des CO2-Ausstoßes statt. Diese Länder werden momentan am wenigsten davon zu überzeugen sein, ihr Wachstum zu drosseln.
„Eine Abschottung vom Weltmarkt gleich welcher Art ist ein untaugliches Mittel, um den Herausforderungen der Globalisierung zu begegnen.“
Denkbar ist eine weltweite Besteuerung der Schadstoffemissionen oder eine Limitierung der Ausstoßmenge. Dies könnte durch eine Versteigerung von Emissionslizenzen geregelt werden. Es ist gut denkbar, dass sich in der nächsten Generation das ökologische Bewusstsein auch in den Schwellenländern manifestiert. Aber haben wir noch so viel Zeit? Darüber, ob wir sofort handeln müssen oder ob wir uns noch Jahrzehnte Zeit lassen können, gehen die Expertenmeinungen auseinander. Da die CO2-Emissionen sehr lange in der Atmosphäre verweilen, ist es aus langfristiger Perspektive weniger wichtig, ob wir sie jetzt oder erst in 30 Jahren drosseln. Warten wir noch, hat dies den Vorteil, dass wir ökonomische Kosten sparen, Wohlstand produzieren und Technologien verbessern und erforschen können. Diesem letzten Gesichtspunkt gilt die höchste Priorität.
Alter
Die Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten weiter altern, aus zwei Gründen: Die Lebenserwartung steigt aufgrund besserer Umwelt- und medizinischer Bedingungen sowie einer gesünderen und bewussteren Lebensweise. Zudem sinkt die Geburtenrate aufgrund veränderter Wertvorstellungen und Lebensausrichtungen von Familien und insbesondere Frauen. Diese Entwicklung ist – auch aus ethischen Gründen – politisch nur sehr begrenzt zu beeinflussen. Aus herkömmlicher volkswirtschaftlicher Perspektive belasten die älteren Menschen die sozialen Systeme, weil sie nicht mehr arbeiten und durchschnittlich häufiger krank sind. Dass sich zudem durch die höhere Lebenserwartung die Rentenbezugsdauer verlängert, lässt sich auf drei miteinander kombinierbaren Wegen angehen: Die Rentenbeiträge werden angehoben, die Renten werden gesenkt oder das Renteneintrittsalter wird erhöht. Rechnerisch ist die letzte Möglichkeit am vorteilhaftesten, weil sie potenzielle Leistungsempfänger noch für ein paar Jahre in Leistungserbringer verwandelt.
„Europa hat bis heute eine weit stärkere Produktvielfalt als die Vereinigten Staaten und dies in fast allen Branchen.“
Aber lässt nicht im Alter die Produktivität nach? In der Tat sind ältere Menschen körperlich weniger belastbar, aber hinsichtlich der geistigen Arbeit muss man zwischen zwei Aspekten differenzieren, nämlich der kognitiven Flexibilität, dem kreativen, innovativen, „fluiden“ Denken auf der einen Seite und so genannten „kristallinen Fähigkeiten“ wie Erfassung des Wesentlichen, sprachliche Versiertheit oder Breite des Wissens auf der anderen. Die Fähigkeiten der letzten Kategorie bleiben im Alter erhalten oder nehmen sogar zu. Junge Arbeitskräfte, die das fluide Denken repräsentieren, werden zunehmend rar, deshalb wird sich in den Unternehmen ein Strukturwandel vollziehen. Es wird in den Unternehmen darum gehen, junge geeignete Menschen anzuziehen, zu halten und idealerweise ausschließlich mit fluiden kognitiven Aufgaben zu betrauen, wodurch die kristallinen Fähigkeiten automatisch zur Domäne der älteren Mitarbeiter werden.
Gesundheit
Die Gesundheitskosten haben in den letzten 15 Jahren überproportional zugenommen. Dies liegt nicht allein an der höheren Lebenserwartung und den damit verbundenen Notwendigkeiten in den Bereichen der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Die Medizin macht auch große Fortschritte, z. B. in Chirurgie, Zahnmedizin und Orthopädie, und die Pharmazie entwickelt neuartige Medikamente. Anders als in anderen Branchen wie etwa der Automobilindustrie, wo alte und neue Modelle parallel hergestellt werden, um die verschiedenen Einkommensschichten anzusprechen, beschränkt man sich in der Medizin aus ethischen Gründen auf die neuen Lösungen; die alten, günstigeren verschwinden vom Markt. Um die Gesundheitsausgaben, die in den kommenden Jahren noch weiter steigen werden, bewältigen zu können, ist wiederum Wachstum nötig. Es ist problematisch, wenn Politiker den Wählern suggerieren, man könne der Gesundheitsbranche Ausgabengrenzen diktieren.
Arbeit und Bildung
Mancher Theorie zum Trotz zeigt die Praxis, dass das Wirtschaftswachstum die Arbeitslosenquote minimiert. Das gilt allerdings für nachhaltiges Wachstum und nicht für kurzfristige Booms, die tatsächlich Einbrüche nach sich ziehen. Das Wachstum wird seinerseits mitgetragen durch die Bildung und Qualifizierung der Arbeitskräfte. Es ist klar, dass Unternehmen zuerst hoch qualifizierte Mitarbeiter einstellen. Da diese aber rar sind, kommen anschließend bildungsärmere Bewerber zum Zuge. Wirtschaftswachstum erhöht die Steuereinnahmen und minimiert gleichzeitig die Sozialausgaben.
Aussichten des Kapitalismus
Viele Kapitalismus- und Globalisierungskritiker werfen der Wirtschaft vor, dass sie in Niedriglohnländern produzieren lässt oder dort zukauft. Doch diese „Basarökonomie“, wie etwa Hans-Werner Sinn diesen Prozess kritisch benennt, ist eine natürliche Weiterentwicklung der Arbeitsteilung, die früher auch innerhalb eines Landes üblich war. Diese Entwicklung ist nicht mehr umzukehren, denn kein Land will als Wirtschaftsstandort anderen nachstehen. Und sie wird von einer anderen Entwicklung umrahmt, nämlich der, dass immer häufiger in den Zentren Innovationen entwickelt und in der Peripherie diese angewendet werden. Viele Länder und Regionen sind seit langer Zeit auf bestimmte Industrien und Fähigkeiten spezialisiert, die in der globalen Wirtschaft genutzt werden können. Daher wiegen Argumente und Befürchtungen, dass ein Land zu einseitig qualifiziert sei und deswegen den wirtschaftlichen Anschluss verpassen könnte, aus globaler Sicht weniger schwer.
„Europa bleibt zweifellos ein Kontinent der Qualität und Vielfalt, und das ist gut so.“
Amerika etwa ist Spitzenreiter in Sachen Spezialisierung. Dort gibt es lokale Zentren, in denen beispielsweise die Autoindustrie angesiedelt ist. Die Massentrends – von den Jeans über Popmusik bis hin zu Fast Food – wurden ebenfalls in den USA kreiert. In Europa haben die Verbraucher differenziertere Bedürfnisse, und die Industrie ist insgesamt vielfältiger und auf verschiedene Standorte verteilt. Dies ist sicher auch ein Grund dafür, warum die Wirtschaftskrise Europa weniger hart traf als die USA. Die Stärken der US-Wirtschaft wiederum liegen in ihrer schnellen Regenerationsfähigkeit und dem Innovationspotenzial moderner Branchen wie etwa der Informations- und Biotechnologie.
Fortschritt durch Wachstum
Die Zweifel an der Wachstumslehre bedingen mittelbar auch den Verlust des Glaubens an den gesellschaftlichen Fortschritt. Ohne Wachstum gerät die Politik zu einem Nullsummenspiel, bei dem jeder nur auf Kosten eines anderen etwas gewinnen kann. Dadurch spitzt sich der Verteilungskonflikt zu. Die Alternative bestünde in einem freiwilligen Verzicht, wie ihn etwa Meinhard Miegel propagiert. Doch wie realistisch ist diese Alternative? Die meisten Menschen hierzulande wollen nicht zum Lebensstandard der Vergangenheit zurückkehren oder im Bezug auf die Lebensverhältnisse mit Indern oder Chinesen tauschen. Auf globaler Ebene werden die armen Länder nicht bereit sein, ihre Aufholbemühungen schlicht einzustellen. In ein bis zwei Generationen könnten die Voraussetzungen für freiwilligen Verzicht besser stehen.