Woran scheitern Projekte?
Projektkrisen gehören zum Arbeitsalltag. Allein in der IT-Branche scheitern mehr als 50 % aller Projekte, so der einschlägig bekannte Chaos-Report. Die Ursachen liegen in hoher Komplexität, starkem Innovationsdruck und interdisziplinärer Zusammenarbeit, gepaart mit sich dynamisch ändernden Bedingungen. Betrachten wir das Projekt zur Eroberung des Südpols vor rund 100 Jahren. Der Vergleich der beiden konkurrierenden Expeditionsteams zeigt exemplarisch, warum Roald Amundsen Erfolg hatte, während Robert Falcon Scott scheiterte. Amundsen war von ganzem Herzen Polarforscher, Scott eher zufällig. Amundsen hatte ein kälteerprobtes Team, Scotts Truppe dagegen keinerlei Erfahrung im Eis. Amundsen hatte mehr als genug Reserven eingeplant und sich an die örtlichen Gegebenheiten angepasst. Scott hingegen ignorierte Tipps und verwendete nur ihm bekanntes, aber untaugliches Material. Am Ende überstand Scott einen Kälteeinbruch nicht. Er verlor das Rennen – und sein Leben.
„Eine Krise im Projekt ist sicher nicht der geplante Normalzustand, aber zumindest ein zu erwartendes Phänomen.“
Projekte in Unternehmen kränkeln an ähnlichen Ursachen: zu hoch gesteckte Ziele, menschliche Schwächen und zu spätes Eingreifen in Notlagen. Das Beispiel der Südpolexpedition zeigt, welche Variablen den Projekterfolg elementar beeinflussen:
- Personen (Stakeholder),
- Prozesse (Organisationsstrukturen und technische Abläufe),
- Umweltbedingungen (physisches und politisches Klima) und
- Ziele der Handelnden (Motivation).
„Ein Projekt ist an sich meist ein Himmelfahrtskommando.“
Im Projektverlauf kann es spontan oder sukzessiv zu einer Krise kommen – wobei die erste Variante wesentlich gefährlicher ist. Eine handfeste Krise erkennen Sie daran, dass es unmöglich geworden ist, das Projektziel aus eigener Kraft zu erreichen. In dieser Situation benötigen Sie Hilfe von außen, um neue Lösungsmuster zu finden und die Notlage zu überwinden. Denn mit unseren eigenen, beschränkten Mustern und Vorstellungen kommen wir bei Bedrohungen häufig nicht weiter.
Ein erprobtes Modell fürs Krisenmanagement
Verstehen Sie die Sanierung eines aus der Bahn geratenen Projekts immer als ein eigenes Projekt. Als Sanierer folgen Sie einem klassischen Lösungsmuster. Ihre Aufgabe besteht darin, eine Analyse durchzuführen, Befunde zu bewerten und Maßnahmen zu empfehlen. Deren Umsetzung erfolgt durch den eigentlichen Projektleiter. Das Krisenmanagement-Modell basiert auf folgenden Annahmen:
- Projekte sind komplexe Systeme: Auch für Projekte gilt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Durch gegenseitige Beeinflussung der Faktoren entsteht Neues. Einfache Muster nach Schema X greifen nicht, Flexibilität im Denken und im Handeln ist zwingend erforderlich. Der Faktor Mensch spielt dabei eine wesentliche Rolle. Dieser muss sich in kritischen Zeiten laufend neuen Gegebenheiten anpassen. Versuchen Sie nicht, ein komplexes Problem zu stark zu vereinfachen. Anstatt linear zu denken, spielen Sie lieber ganzheitlich mit allen Aspekten.
- Lösungen müssen pragmatisch sein und Rückfälle verhindern: Lassen Sie die Finger von „quick fixes“, sonst stürzt Ihr Projekt bald ein wie ein Kartenhaus beim nächsten Windstoß. Wenn Führungs- oder Managementfehler für Projektschieflagen verantwortlich sind (und das ist oft der Fall), sind dauerhafte Verhaltensänderungen nötig. Das hohe Ziel stabiler Projektgesundheit erreichen Sie am besten durch die Implementierung von Lernprozessen. Erwiesenermaßen verhindert Stress, dass neues Wissen dauerhaft gefestigt wird.
- Beratung muss neutral erfolgen: Als Projekttherapeut müssen Sie emotionalen Abstand zum Geschehen halten, um unabhängig urteilen zu können. Bleiben Sie sachlich und verwenden Sie etablierte Methoden aus dem Change-Management. Zeigen Sie jedoch Einfühlungsvermögen und Respekt und nehmen Sie sich der Sorgen der Mitarbeiter an. Bauen Sie durch ehrliches und faires Vorgehen Vertrauen auf.
Schritt 1: Analyse vorbereiten
Das Ziel dieser Phase ist es, einen eindeutigen Auftrag als Krisenmanager zu erhalten. Sind Sie der Auserwählte, steht die Absicherung Ihrer Person an erster Stelle. Fixieren Sie das Mandat unbedingt schriftlich, indem Sie Ihre Aufgaben dokumentieren, Kompetenzen definieren, den Zeitrahmen festlegen und sich Zugriff auf die Daten sichern. Im Erstgespräch mit dem Leiter des havarierten Projekts versuchen Sie, seine Sichtweise kennen zu lernen und das weitere Vorgehen abzusprechen. Führen Sie danach mit allen Beteiligten offene Gespräche, anstatt sie schematisch auszufragen. So erhalten Sie ein erstes Bild, das sich im Laufe der Analyse noch verändern, verdichten und differenzieren wird. Identifizieren Sie Personen, auf die Sie sich verlassen können. Fragen Sie sich, wo es Blockaden gibt, die Ihnen im Weg stehen könnten. Der erste Schritt ist erst dann ganz getan, wenn ein Zeitplan erstellt und der Umfang der Analyse festgelegt ist. Sprechen Sie beides mit Projektleiter und Auftraggeber ab. Der Zeitrahmen für Vorbereitung und Analyse ist in der Regel knapp und beträgt maximal zwei Wochen.
Schritt 2: Analyse durchführen
Das Ergebnis der Analysephase soll eine fundierte Diagnose sein, aus der Sie eine Therapie ableiten. Die Analyse selbst erfolgt rational und neutral. Sie klärt, wo das Projekt steht, woran es krankt und wie sich die Probleme verstehen lassen. Mittels ganzheitlicher Betrachtung gelingt es Ihnen, Ursachen und Symptome der Störungen zu erkennen. Dazu müssen Sie Fakten sammeln, Dokumente sichten, Gespräche führen und das Geschehen live beobachten. Verstehen Sie die Analyse als eine Art Audit, mit dem Sie einen Rundumblick auf harte und weiche Faktoren des ganzen Projekts werfen. Mithilfe eines Strukturbaums können Sie das Problem in kleinere Handlungsfelder zerlegen und diese priorisieren. Verwenden Sie zur Problembeschreibung Leitfragen wie „Was ist vom Problem betroffen?“, „Wann trat das Problem auf?“ und „Welche Folgen sind entstanden?“. Betrachten Sie den Ist-Zustand kritisch und vergleichen Sie ihn mit dem Soll-Zustand.
„Ob ein Projekt gerettet werden kann, ist letztendlich eine Frage der Einstellung und des Verhaltens der beteiligten Stakeholder.“
Vorsicht: Bei der Beurteilung der Situation fehlen oft Maßstäbe für die Frage, was noch gesund und was schon krank ist. Sie sollten jedoch wesentliche Stellschrauben identifizieren können, die das Projekt beeinflussen. Anschließend müssen Sie die einzelnen Aspekte bewerten, z. B. mit einem Ampelsystem, das von „unkritisch“ bis „katastrophal“ reicht. Abschließend formulieren Sie Ihre Befunde in Thesenform.
Schritt 3: Therapieplan aufstellen
Ist der Patient noch zu retten? Welche Medizin hilft? Was ist zeitlich machbar? Diese Fragen stellen Sie in der Therapieplanungsphase. Aus den zusammen mit einem Expertenteam erarbeiteten Antworten leiten Sie Therapievorschläge ab. Aus diesen wiederum wählen die Projektverantwortlichen Lösungen aus.
„Vertrauen entsteht durch Verhalten.“
Manchmal liegt die beste Lösung nicht in einer Therapie, sondern im Ende des Projekts – was allerdings nicht für Kundenprojekte gilt, die eine vertragliche Erfüllung erfordern. Leider existieren keine universellen Kennzeichen dafür, wann sich ein Abbruch empfiehlt. Sie können z. B. den Kostenfaktor als Entscheidungsbasis nehmen. Fällt die Wahl auf die Therapie, stabilisieren Sie zuerst den Patienten Projekt. Damit gewinnen Sie Zeit vor der eigentlichen Sanierung und sorgen im Projektteam für vernünftige Arbeitsbedingungen. Eine sinnvolle Lösung entwickeln Sie mit folgendem Ablaufplan: Definieren Sie den Therapieansatz (Abbruch, Stabilisierung, Sanierung), legen Sie geeignete Maßnahmen fest, berücksichtigen Sie deren Zusammenspiel und Nebenwirkungen und begutachten Sie realistisch die Kosten und die Umsetzbarkeit. Vergessen Sie dabei nicht die im Projekt herrschende Dynamik.
„Die Wirklichkeit um das Projekt herum ist von wesentlicher Bedeutung und darf nicht vergessen werden.“
Um passende Lösungen für die aufgedeckten Problemursachen zu finden, setzen Sie auf Kreativität. Entwickeln Sie Maßnahmen immer im Team. Sind die ursprünglichen Projektmitarbeiter motiviert und kompetent, ist ein Workshop nützlich. Sprechen Sie die Ergebnisse mit dem Projektleiter ab. Alternativ zum kreativen, intuitiven Vorgehen können Sie alle Vorschläge gezielt mit einer Matrix bewerten und die besten auswählen. Dabei verwenden Sie Variablen wie Aufwand und Teamstärke und deren Effekte aufeinander. Beachten Sie besonders die Auswirkungen hinsichtlich Zielgerichtetheit, Nebenwirkungen, Aufwand und Entwicklung über einen längeren Zeitraum. Wird gar keine Lösung gefunden, entwerfen Sie Szenarien, die zumindest die Symptome lindern. Wie das Ergebnis auch aussieht, präsentieren Sie den Entscheidern Ihren Befund am besten anhand der erfolgskritischen Faktoren und behalten Sie weitere Details in der Hinterhand. Und nicht vergessen: Für die Umsetzung der Therapie benötigen Sie ein neues Mandat.
Schritt 4: Therapie durchführen
Eine Therapie ist so individuell wie das Projekt, auf das sie angewendet wird. Die zentrale Stellschraube sind die handelnden Personen, die Stakeholder. Eine ganzheitliche Therapie berücksichtigt die menschlichen Bedürfnisse und bezieht die Psyche mit ein. Im Stress, der mit dem drohenden Scheitern des Projekts verbunden ist, wird zwar oft Verantwortung verweigert. Doch grundsätzlich ist es dem Menschen möglich, neue Handlungsalternativen zu entwerfen und eine passende zu wählen. Das zu erkennen bedeutet einzusehen, dass nicht die Umstände schuld sind, sondern wir selbst und unser Denken. Reaktives Verhalten zeigt sich in Sätzen wie „Das wurde schon immer so gemacht“, proaktives in Vorschlägen und Aktionen. Wie sieht die Situation Ihrer Stakeholder aus? Um sich ein schlüssiges Bild zu machen, müssen Sie die Stakeholder zuallererst identifizieren. Als Nächstes erfassen Sie ihre Bedürfnisse (z. B. strategische Ziele), analysieren ihren Einfluss und bewerten ihre Motivation. Unterschiedliche Interessenlagen von Beteiligten sind Störfaktoren, die Sie vor der Therapie beseitigen müssen. Damit das kranke Projekt noch zu einem befriedigenden Ergebnis geführt werden kann, müssen außerdem die Erfolgskriterien neu definiert und von allen Schlüsselfiguren abgesegnet werden; andernfalls sind die Heilungschancen gleich null. Ein weiterer Schlüsselfaktor der Therapie ist die richtige Kommunikation. Wie können Sie die Kommunikationskultur verbessern? Menschen haben unterschiedliche Lernstile und bevorzugen verschiedene Informationskanäle. Am meisten Erfolg haben Sie, wenn Sie einen Menschen in der Art und Weise ansprechen, die seinem Persönlichkeitstyp entspricht.
„Therapie ist immer auch Arbeit an der Psyche.“
Trotz all dieser weichen Faktoren, die eine Therapie umfasst, benötigen Sie einen Plan. Dieser beschreibt detailliert das neu definierte Projektziel sowie alle Phasen und die einzelnen Arbeitspakete. Der Plan des Rettungsprojekts beinhaltet alle offenen Aufgaben aus dem Krisenprojekt sowie therapeutische und unterstützende Maßnahmen. Planen Sie den Zeitrahmen realistisch anhand des geschätzten Aufwands und beziehen Sie die beteiligten Personen ein. Vermeiden Sie bei der Aufgabenverteilung Multitasking: Überforderung und andauernde Arbeitsüberlastung führen zu Leistungsabfall. Um Reserven zu planen, skizzieren Sie zuerst ein Schlechtwetter-Szenario. Stellen Sie diesem dann ein normales Szenario gegenüber. Definieren Sie für jedes Arbeitspaket ein Ziel, das idealerweise am Ende einer Arbeitswoche erreicht wird, um die nötige Kontrolle über den Projektverlauf zu haben. Ihre Planung ist immer hypothetisch – schließlich möchten Sie den Mitarbeitern Optionen zur Gestaltung geben und müssen sich jeweils der aktuellen Situation anpassen. Während der Therapie prüfen Sie die durchgeführten Maßnahmen laufend und überarbeiten Sie sie bei Bedarf. Um den Projektverlauf zu beurteilen, genügen in der Regel fünf bis zehn Indikatoren, z. B. Aufwand, Kundenzufriedenheit und Termintreue. Der Abgleich von Soll- und Ist-Zustand der Arbeitspakete am Ende der Woche sichert nicht nur die weitere Planung, sondern erlaubt auch eine Einschätzung der Produktivität.
„Gehen Sie davon aus, dass Sie falsch verstanden werden, dann liegen Sie in den meisten Fällen wohl mit dieser Annahme richtig.“
Zu guter Letzt: Künftige Krisen lassen sich nur durch kollektives Lernen vermeiden. Als Mittel der Wahl hat sich die ausführliche Ergebnisdokumentation inkl. „lessons learned“ bewährt. Langfristige Prävention erfordert darüber hinaus eine Verankerung des neuen Wissens im gesamten Unternehmen und einen rechtzeitigen Einsatz des Krisenmanagements.