Die Intelligenz der Masse
Ein Lebensmittelhersteller bringt auf Wunsch der Kunden bestimmte Geflügelprodukte auf den Markt. Eine Non-Profit-Organisation findet Konzepte und Partner, um Schulen und Gesundheitsstationen in Ruanda unabhängig vom Stromnetz zu betreiben.
Und die katholische Kirche erfährt, was junge Gläubige sich von ihr wünschen. So unterschiedlich die Motivationen sind, der Weg zur Lösung war in allen drei Beispielen der gleiche: Crowdsourcing, die Kunst, die Ideen aller möglichen Internetnutzer für sich fruchtbar zu machen. Fünf verschiedene Arten lassen sich unterscheiden:
- Intermediäre Plattformen sind ein Bindeglied zwischen Fragestellern und Problemlösern. Für erfolgreiche Lösungen und Designs sowie das Erstellen oder Übersetzen von Inhalten werden Preise und Honorare bezahlt.
- Das Modell „Gemeinsam eine freie Lösung“ stellt der Allgemeinheit kostenlos Leistungen zur Verfügung. Beispiele sind Wikipedia oder Open-Source-Software.
- Auf unternehmenseigenen Plattformen werden Kunden direkt nach Produktideen und Designvorschlägen gefragt.
- Marktplätze für Ideen sind Verkaufsplätze für Kreative, die z. B. T-Shirts, Geschenkideen oder Tattoo-Designs an den Kunden bringen wollen.
- Öffentliche Initiativen, etwa von Universitäten oder philanthropischen Organisationen, suchen innovative Ideen, die dem Gemeinwohl dienen.
„Es gilt das bekannte GIGO-Prinzip (garbage in, garbage out), wer dumme Fragen stellt, bekommt auch dumme Antworten.“
Egal in welcher Form, Crowdsourcing ist alles andere als ein Selbstläufer. Der Erfolg steht und fällt mit der Fragestellung. Sie müssen auf Anhieb den richtigen Ton treffen und die richtigen Leute ansprechen, denn Nachbessern ist schwierig. Auch die Aus- und Verwertung der Vorschläge ist genau zu überlegen: Nichts ruiniert Ihren Ruf innerhalb der Innovatoren-Community schneller, als Ideen einfach in der Schublade verschwinden zu lassen. Nur wenn Sie dafür ausreichend Ressourcen zur Verfügung stellen, können Sie die Vorteile des Crowdsourcings nutzen: Es ist effizienter als die firmeninterne Entwicklung, da es nur erfolgreiche Lösungen eines Problems honoriert und nicht den gesamten Prozess der Lösungsfindung. Zudem machen Sie Werbung in eigener Sache und beugen Betriebsblindheit vor. Innovative Unternehmen werden sich spätestens dann an die „Creative Crowd“ wenden müssen, wenn sich der neue Beruf des Crowdsourcers etabliert hat – damit sind unabhängige Wissensarbeiter gemeint, die selbstbestimmt an Lösungen arbeiten und sie dann verschiedenen Unternehmen anbieten. Anreize wie die globale Interaktion machen diesen Beruf gerade für die Topleute attraktiv.
Die fünf Schritte des Crowdsourcings
Hier eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie Sie Crowdsourcing richtig nutzen:
- Gehen Sie Ihr Projekt vom Ergebnis her an: Welches Problem soll der User für Sie lösen? Möchten Sie Ideen oder ein patentierbares Produkt? Starke Marken können ihre Fangemeinde direkt auf der Unternehmensseite ansprechen. Intermediäre Plattformen sind für Firmen geeignet, die keine aktive Markencommunity haben.
- Die Aufgabe soll nicht zu allgemein, aber auch nicht zu eng formuliert werden. Platzieren Sie den Link zum Wettbewerb gezielt in den passenden Foren: So holen Sie die idealen Ideengeber am richtigen Ort ab.
- Verfolgen Sie die Ideenfindung auf der Plattform und greifen sie lenkend ein, wenn sie in eine falsche Richtung geht. Sortieren Sie die Ideen und Kommentare nach Themen.
- Bleiben Sie bei der Bewertung fair, halten Sie sich an zuvor festgelegte Kriterien. Eine Alternative ist das Community-Voting: Innovatoren wählen selbst die beste Idee.
- Bei der Umsetzung entstehen natürlich die meisten Kosten. Gestalten Sie den Verwertungsprozess so transparent wie möglich und halten Sie Ihre Versprechen.
„Wer den Kampf um die Aufmerksamkeit im Internet gewinnt, der wird auch den anstehenden Kampf um die Talente für sich entscheiden können.“
Crowdsourcer mögen es nicht, wenn Unternehmen ihren Namen bei serienmäßiger Produktion unterschlagen. Sie ziehen eine Umsatzbeteiligung der einmaligen Prämie vor, selbst wenn sie neben den Chancen auch das unternehmerische Risiko mittragen. Und sie schätzen es, wenn sie die Rechte an ihrer Idee nach einer bestimmten Frist zurückerhalten. Kurz: Qualität und Quantität der eingereichten Vorschläge werden stark davon abhängen, wie fair Sie die User behandeln. Für die meisten Plattformen gilt: 1 % der Teilnehmer produziert die Inhalte, 9 % verändern sie und 90 % konsumieren nur. Sie können derart niedrige Aktivitätslevels steigern, indem Sie Barrieren abbauen. Eine Möglichkeit ist es, auf der eigenen Homepage die automatische Registrierung über Social Networks wie Facebook oder LinkedIn anzubieten. Wenn Ihre Plattform begeistert, übernehmen Ihre Fans die Werbung dafür selbst über Funktionen wie Facebook Share, AddThis oder Twitter und verbreiten Ihr Angebot viral.
Atizo: Umschlagplatz für Ideen
Es gibt kaum ein Produkt, an dem sich die Crowdsourcer auf der Plattform Atizo nicht schon versucht haben: alternative Reißverschlüsse für Funktionskleidung, innovative Dienstleistungen für eine Versicherung, futuristische Motorräder. Für Einsteiger bietet die Plattform ein kostenfreies Startpaket, das sich nur an persönliche Kontakte richtet, sowie ein Businesspaket allein für die Firmencommunity. Atizo Public hingegen spricht sämtliche User der Plattform an. Unternehmen generieren hier durchschnittlich 200–500 Ideen pro Fragestellung. Wichtig ist das offene Konzept der Website: Ideen lassen neue Ideen entstehen, deshalb haben alle Mitglieder der Community Zugang zu den vorgeschlagenen Innovationen und können diese weiterentwickeln. Innovationsflops werden seltener, da sich User quasi ihre eigenen Wünsche erfüllen und echte Marktneuheiten erfinden – und das meist deutlich schneller und kostengünstiger als in einer internen Entwicklungsabteilung.
InnoCentive: Tummelplatz für Experten
Diese Plattform richtet sich an innovationsintensive Branchen. Experten lösen gegen ein Preisgeld von 5000–100 000 $ und unter Wahrung ihrer Anonymität komplexe Probleme. Die Plattform wird die eigene F&E-Abteilung nicht obsolet machen, aber sie hilft bei der Lösung von Problemen, die intern als unlösbar gelten. Nicht selten versuchen sich die dort registrierten 200 000 Wissenschaftler aus aller Welt an fachfremden Problemen. Auch hier gibt es zum Einsteigen eine firmeninterne, geschützte Onlinecommunity, mit deren Hilfe das kollektive Wissen aller Mitarbeiter genutzt werden kann. Die Erfolgswahrscheinlichkeit steigt mit dem Schritt zum InnoCentive Open Innovation Marketplace. Experten müssen sich registrieren und eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben, um Zugang zur detaillierten Projektbeschreibung zu erhalten. So wird das Risiko der Industriespionage reduziert. Die Arbeit findet dann in einem geschützten Projektumfeld statt. Erfolgsgeschichten gibt es viele: Ein Elektroingenieur entwickelte eine solarbetriebene Taschenlampe, die einen ganzen Raum beleuchten kann – für die 2 Milliarden Menschen weltweit ohne Stromanschluss ist dies eine Erfindung, die ihr Leben verändert. Und das Beste: Von der Fragestellung bis zum Prototyp vergingen gerade mal zwei Monate.
Tchibo ideas: Inspiration für Designer
Wer hätte gedacht, dass Kunden sich einen „Minisonnenschutz für Problemzonen“ oder „Glühbirnchenprüfer für die Lichterkette“ wünschen könnten? Oder dass eine Klobürste mit eingebauter Kindersicherung einmal im Ladenregal stehen würde? Auf der Plattform Tchibo ideas nehmen sich professionelle und Hobby-Designer der Alltagsprobleme und Produktwünsche ihrer Mitnutzer an. Unter den eingestellten Aufgaben ermitteln die Mitglieder regelmäßig einen Gewinner, der ein Preisgeld erhält. Ähnlich läuft es mit den Lösungen, wobei hier die ersten drei Plätze prämiert werden.
„Der Kollege von Bangalore ist näher an unseren Zürcher Standort gerückt, als Ideengeber, Lieferant und Wettbewerber.“
Produktdesigner haben außerdem die Möglichkeit, Tchibo die Lösung erst exklusiv zur Vermarktung vorzuschlagen, bevor sie diese auf der Website veröffentlichen. Falls Tchibo sie kauft, erhält der Entwickler eine Umsatzbeteiligung. Die meisten Designer sehen aber in der potenziellen Reputationssteigerung den Hauptgrund, auf der Plattform aktiv zu werden. Außerdem sind die vorgestellten Alltagsprobleme eine unbezahlbare Inspirationsquelle für Erfinder, die den Nerv der Kunden treffen wollen. Tchibo ideas lebt von seiner umtriebigen Community und der glaubwürdigen Umsetzung: Verbraucher und Designer sehen immer wieder zu Produkten gewordene Ideen im Shop und wissen, dass auch sie zu den Gewinnern zählen könnten.
Denkmotor: Innovation für Vorsichtige
Crowdsourcing im großen Stil ist ein Kind des Internets. Es gibt jedoch Probleme, die sich virtuell nicht lösen lassen. Genau darauf hat sich Denkmotor spezialisiert: Bei Workshops mit acht bis zehn Teilnehmern treffen sich Externe, Fachexperten und potenzielle Kunden, um die unternehmenseigenen Entwickler über den Tellerrand der Firma blicken zu lassen. Virtuelle Plattformen dienen manchmal als Inspiration, an die der Workshop dann anknüpft. Mithilfe von Kreativitätstechniken kitzeln Moderatoren Ideen aus den Teilnehmern heraus und lassen sie von allen sortieren und bewerten. Ein Ideenworkshop mit Externen ist vor allem für eher traditionelle Unternehmen geeignet, die vor rein virtuellem Crowdsourcing zurückschrecken: Das geistige Eigentum wird verlässlicher geschützt und Vorbehalte der eigenen Mitarbeiter („Not-invented-here-Syndrom“) werden entkräftet. Moderatoren können die Kreativität und die Interaktion zwischen den Teilnehmern gezielt steigern.
Die kreative Klasse
Innovationsfähigkeit ist heute der wichtigste Schlüsselfaktor für unternehmerischen Erfolg. Zwar wurde bisher im Westen der Verlust von Industriejobs durch den wachsenden Dienstleistungssektor wettgemacht. Doch diese Entwicklung stößt bereits an Grenzen. Der Kreativsektor ist heute der einzige mit echten Wachstumschancen. Und diese realisieren Sie über Informationen, Ideen und Innovationen, die die Konkurrenz noch nicht hat. Sie müssen kreative Energie überall dort anzapfen, wo sie sich bietet. Denn traditionelle Wertschöpfungsketten und Arbeitsmodelle lösen sich auf.
„Langweilige Aufgaben und Unternehmen ziehen nur eins an, langweilige Ideen.“
Verbraucher shoppen im Internet oder mischen sich direkt in die Produktion ein, während die „kreative Klasse“ die Regeln der klassischen Lohnarbeit auf den Kopf stellt. Der Gewinn für die Gesamtwirtschaft liegt in der Hebelwirkung ihrer Tätigkeiten: Ein erfolgreiches Design, ein Bestseller oder ein Kinohit reichen oft aus, damit der Kreative sich vor Angeboten nicht mehr retten kann. Die Klasse der Kreativen wächst Jahr für Jahr: Auch Stilberater, Praxisphilosophen oder Erlebnisgastronomen gehören mittlerweile dazu, und selbst Ärzte oder Anwälte können sich mithilfe neuer Services ein Stück vom kreativen Kuchen abschneiden.
Ideen mit Zukunft
Mit dem Kreativsektor wird auch Crowdsourcing an Bedeutung gewinnen. Verschiedenste Modelle, Motivationen und Organisationsformen sind denkbar: z. B. ein F. B. I. (Freelancer Bureau of Ideas), das vor allem von professionellen Ideenexperten betrieben wird, oder Flashmobs, bei denen Teilnehmer kurzfristig mitmachen, um gemeinsam Spaß zu haben. Die einen suchen Anerkennung in der Community, andere wollen Geld verdienen. Pensionierte Wissenschaftler möchten noch einmal zeigen, was in ihnen steckt, während besorgte Eltern kindersichere Haushaltsartikel anregen, die sie sich immer gewünscht haben.
„Unternehmen, die heute bereits als wenig kreativ und innovativ gelten, werden durch Crowdsourcing nicht besser.“
Es liegt an Ihnen als Unternehmer, die „vier F“ der Onlineteilhabe in ein Gleichgewicht zu bringen, das zu Ihren Kernkompetenzen passt: Fame (Ruhm), Fortune (Reichtum), Fulfillment (Erfüllung) und Fun (Spaß). Kreatives Kapital lässt sich nur anzapfen, wenn kreative Köpfe sich inspiriert fühlen und wenn sie ein Umfeld finden, in dem sie selbst ständig dazulernen. Nehmen Sie Ihre eigene Innovationskultur unter die Lupe. Erst wenn Sie und Ihre Mitarbeiter in kreativen Bahnen denken, können Sie kreative Hilfe von außen umsetzen. Bleiben Sie gegen alle Seiten hin offen: Wenn Konsumenten und Produzenten, Laien und Experten alle gemeinsam an einer Lösung arbeiten, dann sind Sie dem grenzenlosen Unternehmen einen Schritt nähergekommen.