Milliardär und Staatsfeind der USA
Zwischen dem Status eines Milliardärs und dem eines weltweit gesuchten Steuerflüchtlings verläuft nur ein schmaler Grat. Marc Rich hatte ihn im Jahr 1983 überschritten, praktisch von einem Tag auf den anderen. Der zu diesem Zeitpunkt bekannteste und erfolgreichste Rohstoffhändler der Welt musste sich aus den USA in die Schweiz absetzen, um einer breit angelegten US-Klage zu entgehen. Gleich 51 Delikte waren es, die Staatsanwalt Rudolph Giuliani dem damals 48-Jährigen anlastete, darunter Steuerhinterziehung, organisierte Kriminalität und Verschwörung. Der wohl schwerwiegendste Vorwurf, Handel mit dem Feind, stigmatisierte Rich in den USA für fast zwei Jahrzehnte; er avancierte zu einem der meistgehassten Flüchtigen. Dies sollte sich erst am 20. Januar 2001 ändern, dem letzten Amtstag von US-Präsident Bill Clinton. An diesem Tag wurde Rich von Clinton begnadigt.
Harte Schule
Kurz nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Nachbarländer musste der damals fünfjährige Marcell David Reich mit seiner jüdischen Familie aus Belgien fliehen. Obwohl sie weder Geld hatten noch Englisch sprachen, gelangten die Reichs auf Umwegen und mit viel Glück 1941 in die USA. Dort aber war die Odyssee alles andere als zu Ende. Der junge Marcell besuchte zwölf verschiedene Schulen in zwölf Jahren. Er war und blieb ein Außenseiter. Der nächste Krieg sollte die Emigrantenfamilie nicht weniger stark prägen, dieses Mal jedoch im positiven Sinn: Die US-Armee benötigte im Koreakrieg Unmengen an Jute, und die Firma des Vaters avancierte zu einem der Hauptlieferanten. Marc Rich, so der amerikanisierte Name des jungen Marcell, arbeitete vor und nach der Schule mit und lernte schon bald die wichtigste Händlerlektion von Angebot und Nachfrage – und natürlich, dass Krisen und Kriege die besten Geschäftsgelegenheiten bieten. Nach einem abgebrochenen Studium landete der 18-Jährige bei Philipp Brothers, dem seinerzeit weltweit bedeutendsten Rohstoffhändler.
Amerikanischer Traum
Er begann im Postbüro und musste Textnachrichten sortieren – ohne abgeschlossenes Studium blieb ihm die unterste Stufe nicht erspart. Langsam, aber sicher kam Rich voran. Im Auftrag seines Arbeitgebers hatte er Metalltransporte zu organisieren: Er war verantwortlich für den Versicherungsschutz, die Zahlung mit Akkreditiven (bedingten Zahlungsversprechen) und dergleichen mehr. So lernte Rich das Einmaleins des Rohstoffhandels von der Pike auf. Sein Chef delegierte mehr und mehr an den wissbegierigen Marc, der zu seinem Assistenten und Vertrauten heranwuchs. Nachdem es ihm in quasi geheimer Mission gelang, auf Kuba blockierte Philipp-Brothers-Gelder wieder lockerzumachen, galt Rich definitiv als aufsteigender Stern der Firma. Die 60er Jahre wurden zum goldenen Jahrzehnt für Rohstoffhändler, und Rich mischte jetzt kräftig mit. Dabei war der wohl wichtigste Rohstoff der Welt noch nicht einmal als solcher entdeckt: Die Erdölrevolution stand erst noch bevor. Marc Rich sollte zu ihrem Protagonisten werden.
Der Aufstieg
Noch Ende der 60er Jahre wurde Erdöl nicht frei gehandelt. Stattdessen bestanden langfristige Abnahmeverträge zwischen Produzenten und Käufern. Die monopolistischen Ölkonzerne lieferten praktisch von der Quelle direkt zum Zapfhahn an der Tankstelle. Marc Rich wurde klar, dass einerseits das Timing und andererseits gute Kontakte die Zutaten waren, um zwei Handelspartner zusammenzubringen – selbst so gegensätzliche wie den Iran und Israel, die sich schon damals spinnefeind waren. Der persische Schah gehörte zu Richs besten Partnern: Der Iran förderte Öl, pumpte es durch eine Pipeline nach Israel, und von dort wurde es weiterverkauft. Alles höchst inoffiziell natürlich.
Die Ölbranche wird neu erfunden
Marc Rich und sein Team waren bald die Goldesel der Firma. Doch es kam zum Bruch, als es um die Frage der Entlohnung ging. Rich zögerte nicht lange und stieg aus. Seine wichtigsten Partner folgten ihm und bildeten das Kernteam der neuen Firma, der Marc Rich & Company AG, gegründet 1974 im schweizerischen Zug. Schon im ersten Geschäftsjahr kam die Firma auf 1 Milliarde Dollar Umsatz und 28 Millionen Dollar Gewinn. Zwei Jahre später waren es bereits 200 Millionen. Marc Rich erfand quasi den Spotmarkt für Rohöl und ebenso den Tankerhandel – beides krempelte die Branche komplett um und führte zu einem enormen Produktivitätsschub.
„,Marc Rich‘ steht heute für den Handel mit so ziemlich jedem Feind der USA.“
Richs wichtigste Vorteile waren seine Kontakte und seine Vertrauenswürdigkeit. Selbst nach dem Sturz des Schahs 1979 ließ das iranische Khomeini-Regime die Lieferverträge bestehen. Dass Israel, Richs wichtigster Kunde, ausgerechnet mit Erdöl aus dem fundamentalistischen Iran versorgt wurde, war dort lange Zeit ein Staatsgeheimnis. Auch der Ölhandel mit Angola, Südafrika, Kuba und diversen anderen Ländern, die nicht zu den Musterknaben in Sachen Demokratie und Menschenrechte gehörten, wurde nicht an die große Glocke gehängt.
Auf der Flucht
Nach dem Geiseldrama von 1979 in Teheran belegte die USA den Iran mit einem kompletten Embargo. Richs Handel mit dem Mullahregime war plötzlich sehr gefährlich. Das FBI nahm die Geschäfte der New Yorker Niederlassung der Marc Rich Company genauer unter die Lupe, nachdem es Hinweise von texanischen Ölhändlern bekommen hatte. Was als vergleichsweise harmlose Steueruntersuchung ihren Anfang nahm, eskalierte schon bald. Marc Rich ließ hochbezahlte Anwälte in den Büros der New Yorker Staatsanwaltschaft auflaufen, doch selbst ein Vergleichsangebot über die damals stattliche Summe von 100 Millionen Dollar wurde mit dem Hinweis auf drohende 25 Jahre Gefängnis brüsk abgeschmettert. So setzte sich Marc Rich Mitte 1983 mit seiner Familie Hals über Kopf in die Schweiz ab, wo ohnehin der Hauptsitz seiner Firma war.
Giuliani greift ein
Das letzte Band wurde zerschnitten, als der politisch ambitionierte Rudolph Giuliani zum Bundesstaatsanwalt des Southern District von New York berufen wurde. Der spätere Bürgermeister von New York ließ keinen Zweifel an seinem Ziel: einen millionenschweren Steuerbetrüger, der noch dazu während der traumatischen Geiselkrise Handel mit dem Feind betrieben hatte, hinter Schloss und Riegel zu bringen. Dies sollte Giulianis politische Steigleiter werden.
„Diskretion ist in diesem Geschäft – das oft genug Kunden zusammenbringt, die offiziell nichts miteinander zu tun haben wollen – eine der wichtigsten Voraussetzungen für Erfolg.“
Richs Firma wurde aufgefordert, sämtliche Geschäftsdokumente an die USA auszuhändigen. Ein US-Richter verhängte eine Beugebuße von 50 000 $ – pro Tag. Der Fall Rich wurde damit endgültig auch zum Politikum: Die Schweizer Regierung sah sich zum Einschreiten gezwungen. Kein einziges Dokument einer Schweizer Firma, teilte sie mit, werde einem US-amerikanischen Staatsanwalt ausgehändigt. Giuliani lud daraufhin zu einer Pressekonferenz und machte den Fall öffentlich. Es wurde ein historisches Spektakel, auf dessen Höhepunkt Marc Rich als „größter Steuerbetrüger aller Zeiten“ und Staatsfeind der USA dargestellt wurde. Als hätte das nicht schon gereicht, wandte Giuliani auch noch das Gesetz gegen organisierte Kriminalität auf den Fall an, um sämtliche Vermögenswerte in den USA zu blockieren – das Todesurteil für die Firma. Marc Rich kapitulierte Ende 1984, bekannte sich der Steuerhinterziehung schuldig und zahlte alles in allem über 200 Millionen Dollar als Vergleich, um die Firma wenigstens operabel halten zu können.
Unfrei frei
Doch war auch das noch nicht genug Buße, jedenfalls nicht für Giuliani. Er sah noch eine schmerzliche Gefängnisstrafe vor. So blieb Rich für die nächsten 17 Jahre ein Flüchtiger, der keinen Fuß auf amerikanischen Boden setzen konnte. Nicht einmal, als seine Tochter infolge eines Krebsleidens 1996 in Seattle im Sterben lag. Unklar ist, weshalb sich die US-Behörden nicht mit einem Rechtshilfegesuch an die Schweiz wandten, um Marc Richs habhaft zu werden. Stattdessen ließen sie den Fall offenbar wohlkalkuliert eskalieren. Auch stellten die USA nie ein Auslieferungsgesuch an Israel oder Spanien, wo er Staatsbürger war und sich häufig aufhielt. Dafür versuchten sie ihn im Zuge einer geheimen – und illegalen – Aktion aus der Schweiz zu entführen. Der Plan flog auf, höchstwahrscheinlich wegen eines Hinweises aus Richs Netzwerk. Zahlreiche Vermittlungsgesuche an die US-Behörden wurden im Lauf der Jahre wieder und wieder abgeblockt.
„Die größten Rohstoffvorkommen finden sich vor allem in Ländern, die nicht gerade zu den Fackelträgern der Demokratie und der Menschenrechte gehören.“
Welchen Einfluss selbst ein flüchtiger Marc Rich aufgrund seiner weitreichenden Kontakte hatte, lässt sich daran ablesen, dass er es war, den man 1989 als Vermittler zwischen Ägypten und Israel einschaltete, als nach einem Terroranschlag mühsam über Schmerzensgelder verhandelt wurde. Dank Rich bewahrten alle Beteiligten ihr Gesicht, und selbst das US-Außenministerium störte sich ominöserweise nicht an der Rolle, die ein international gesuchter Flüchtiger dabei spielte.
Auf dem absteigenden Ast
Privat wie beruflich ging es Marc Rich in der Folgezeit allerdings nicht sehr gut. Er war nach wie vor auf der Flucht, seine Ehe zerbrach und seine Tage als Alleinherrscher der Firma waren nach einem haarsträubenden Harakirigeschäft gezählt. Mehrere Seniorpartner rebellierten und drängten Rich aus seiner eigenen Firma, die neu den Namen Glencore erhielt – heute das umsatzstärkste Unternehmen der Schweiz. Rich hatte selbst nach diesem Debakel noch mehrere Hundert Millionen. Ein halbherziger Neuanfang mit einer weiteren Handelsfirma endete in einem neuerlichen Ausstieg im Jahr 2002. Rich wandelte sich zu einem Philanthropen, der drei wohltätige Stiftungen gründete und in einem Zeitraum von drei Jahrzehnten rund 150 Millionen Dollar spendete – ein Argument, das schließlich bei seiner Begnadigung eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben dürfte.
Begnadigung mit Nebenwirkungen
Ein scheidender US-Präsident hat traditionellerweise die Möglichkeit, an seinem letzten Amtstag Begnadigungen auszusprechen. Das war der Hebel, an dem das Umfeld von Marc Rich ansetzen wollte. Das Begnadigungsgesuch fuhr auf zwei Schienen, einer rein sachlichen und einer persönlichen. Bei letzterer wurde Clinton unter voller Umgehung des normalen Rechtswegs angesprochen. Dutzende von Briefen Prominenter waren beigefügt, um dem Gesuch Nachdruck zu verleihen. Die Friedensnobelpreisträger und Ex-Ministerpräsidenten von Israel Shimon Peres und Ehud Barak machten sich für Marc Rich stark. Nicht zuletzt unterstützte Richs erste Ehefrau Denise, mittlerweile eine erfolgreiche Songwriterin, die Anfrage.
„Die öffentliche Empörung führte dazu, dass die Begnadigung Richs so gut durchleuchtet wurde wie noch nie eine Begnadigung in der Geschichte der USA.“
Und tatsächlich: Im Gegenzug für die Zusage, auf eine Verjährung für ein zivilrechtliches Verfahren zu verzichten, begnadigte Präsident Bill Clinton am 20. Januar 2001 Marc Rich und seinen ehemaligen Partner Pincus Green. Damit aber löste er im eigenen Land einen Aufschrei der Empörung aus. Brisant war der Umstand, dass Denise Rich zu einer der größten Wahlkampfspenderinnen gehörte und auch sonst gute Kontakte zum Präsidenten zu haben schien – die Begnadigung geriet so bald in den Verdacht, erkauft worden zu sein.
„Die Begnadigung war für ihn zum Bumerang geworden. Sein Name, so hatte Rich gehofft, würde aus den Schlagzeilen verschwinden. Das Gegenteil war der Fall.“
Verdacht hin oder her, Clinton dürfte wohl auch von den zahlreichen sachlichen Argumenten geleitet worden sein, als er seine Entscheidung zu fällen hatte. Marc Rich war damit wieder frei. Einen Fuß auf den Boden der Vereinigten Staaten mochte er dennoch nie wieder setzen, hatte er doch in den zurückliegenden Jahrzehnten den Eifer einiger US-Staatsanwälte, die sich politisch zu profilieren suchten, aufs Bitterste kennen gelernt. So bleibt der ehemalige Staatsfeind auch heute seinen beiden Wahlheimaten Schweiz und Spanien treu – inzwischen allerdings ohne die Befürchtung, in Cowboy-Manier aus dem häuslichen Domizil gekidnappt und der Strafverfolgung zugeführt zu werden.