Affen kaufen nichts
Trotz 98 % genetischer Übereinstimmung: Mensch und Affe unterscheiden sich stark, vor allem in den Hirnregionen. Beim Menschen ist das so genannte Stirnhirn, auch Frontallappen genannt, sehr viel ausgeprägter. Hinter der menschlichen hohen Stirn und in einigen anderen Hirnregionen werden unmittelbare Sinneseindrücke wie Wärme, räumliche Entfernung, Kraftaufwand, Oberflächenbeschaffenheit und vieles mehr im Laufe eines lebenslangen Lernprozesses zu mentalen Konzepten verknüpft. Deshalb sprechen wir z. B. von einem „warmherzigen Menschen“, von einem „entfernten Bekannten“, von „distanziertem Verhalten“, wir fühlen uns „unter Druck“ oder genießen den „sahnigen Geschmack“. Solche mentalen Konzepte kennt der Affe nicht. Deswegen kann man ihm über entsprechende Signale auch nichts kommunizieren – und nichts verkaufen. Spätestens beim „sahnigen Geschmack“ befinden wir uns in der Welt der Produkte.
Vom Begreifen der Umwelt
Die Lebenslernerfahrung des Menschen wird von Neurowissenschaftlern auch „Statistik der Umwelt“ genannt. Wiederholte Erfahrungen werden zu Wissen verknüpft und als angenehm oder unangenehm bewertet. Das beginnt bereits bei der Geburt, mit der Erfahrung von Hell und Dunkel.
„Ein physikalisches Signal, z. B. ‚Temperatur‘ oder ‚Oberflächenstruktur‘, aktiviert im Gehirn ein entsprechendes mentales Konzept.“
Das anschauliche Wort „begreifen“ ist ein Schlüsselbegriff für diesen Lebenslernprozess. Die Hände und auch der Mund spielen vor allem in der frühkindlichen Phase eine überragende Rolle. Der Lebenslernprozess hört jedoch nie auf und wird im Lauf der Zeit immer differenzierter. Alle unsere Sinneseindrücke und die daraus entstehenden Begriffe sind kontextbezogen; sie sind Rückkoppelungen aus konkreten Zusammenhängen unserer Umwelt.
Das Gehirn entschlüsselt Codes
Um die ungeheure Masse der Sinneseindrücke und Signale bewältigen zu können, muss das Gehirn sehr effizient arbeiten. Es filtert viele Details heraus und speichert nur charakteristische Eckdaten; so ähnlich wie Kinder ein Haus zeichnen: unten ein Viereck und obendrauf ein Dreieck.
„Wir können ein Auto als Auto erkennen, auch wenn wir eine solche Art von Auto noch nie gesehen haben.“
Das Erfahrungswissen ist implizites, unbewusstes Wissen. Wird dieses implizite Wissen aktiviert, handeln wir intuitiv. Die Erfahrung, dass man bei einer Familienfeier fein gemahlenen Pulverkaffee mit intensivem Duft statt schwach riechenden, löslichen Kaffee trinkt, wird zum Code für „Gemeinschaft“ und „Wertschätzung“. Neuromarketing decodiert solch implizites Wissen und baut es wiederum als Produktcode in Verpackungen und Werbung ein. Die Signale, die von Produkt und Werbung ausgehen, sprechen dann den Autopiloten – das implizite Wissen des Kunden – an und beeinflussen so die Kaufentscheidung. Viele Studien liefern Erkenntnisse über die Wirkung von Signalen auf Hirnregionen. Nutzt man diese Erkenntnisse in der Werbung, treten herkömmliche geschmäcklerische Diskussionen, ob eine Produkt- oder eine Anzeigengestaltung „schön“ oder „sympathisch“ ist, in den Hintergrund; denn darauf kommt es gar nicht mehr an.
Placebos wirken, Codes wirken
Placebos, also Scheinmedikamente ohne Wirkstoff, die bei pharmazeutischen Tests eine große Rolle spielen, verdeutlichen die Wirkungsweise derartiger Signale: Ohne dass z. B. Aspirin gegeben wird, ist eine Wirkung nachweisbar, weil das implizite Erfahrungswissen, der Code, aktiviert wird. Die Kopfschmerzen vergehen, obwohl im Placebo keine Acetylsalicylsäure vorhanden ist.
„Nicht jedes Detail zählt. Wichtig sind die konstituierenden Merkmale.“
Nicht nur die Optik, also Farben, Typografie und Bilder, spielen eine große Rolle im Neuromarketing, sondern auch die Haptik, der Tastsinn. In der Warenwelt nutzt man kontextbezogene Signalcodes in vielfältiger Weise:
- Lightprodukte (etwa Chips, Käse, fettarme Milch) werden in Verpackungen mit entsättigten, leichten Farben angeboten. Dieses eine konstituierende Signal genügt für die Produktbotschaft; der Kunde erkennt den Artikel sofort als Lightprodukt.
- Ein Weinglas mit Stiel signalisiert erhöhten Genuss. In Italien oder Frankreich, wo Weintrinken alltäglich ist, wird der Wein oft aus dem Wasserglas getrunken.
- Schwarz, die Farbe des Understatements, wird bei vielen Premiumprodukten verwendet. Es betont die vornehme Distanz zur schreienden Buntheit der gewöhnlichen Warenwelt. Mintunter wird auch das saubere Weiß in diesem Sinn verwendet. Dies zeigt: Oft gibt es mehrere Lösungen für ein Kommunikationsproblem. Weiß kann ebenso wie Schwarz ein Signal für das mentale Konzept „Unterscheidung/Distanz“ sein.
- Die wischende Fingerbewegung, mit der ein iPhone bedient wird, spricht nicht dieselbe Zielgruppe an wie etwa der Kraftgriff, mit dem man einen BlackBerry hält.
- Die taillierte Flasche des Joghurtdrinks Activia signalisiert Wohlgefühl und aktiviert das implizite Ziel „Schlanksein“.
- Eine kleine Verpackung von Katzenfutter ist das richtige Signal für das Ziel „Verwöhnen der Katze“.
- Für das Konzept „starke Reinigung“ kommt nur ein Verschluss infrage, der entsprechend viel Kraft beim Öffnen verlangt.
Die Konsumziele definieren
Für den Produkt- und Werbedesigner steht in der Regel der Gebrauchsnutzen an erster Stelle. Dieser wird auch expliziter Nutzen genannt. Eine gelungene Nutzensignalisierung findet sich bei australischen Nescafé-Produkt „Short Black“: Die Verpackung ist klein, kompakt und schwarz. Das entspricht dem Produkt: konzentrierter, kräftiger schwarzer Kaffee. Der Gebrauchsnutzen allein reicht aber nicht zur Produktdifferenzierung aus; hier kommt der implizite Nutzen ins Spiel. Dessen Definition ist denn auch eine wichtige Aufgabe des Neuromarketings. Bestimmen Sie den impliziten Nutzen – etwa im Agenturbriefing – möglichst genau, statt einfach nur zu fordern, dass ein Produkt „emotionalisiert“ werden soll:
- Alkoholfreies Bier muss gut schmecken, seine isotonische Wirkung spricht darüber hinaus Sportler an; dementsprechend lässt sich das Image aufladen. Das implizite Ziel ist hier Fitness, Dynamik.
- Ein implizites Ziel bei der Zubereitung von Pudding ist mütterliche Fürsorge, Trost. Der im Grunde ebenso geschmeidige Joghurt wird dagegen nicht mit diesem Konzept in Verbindung gebracht.
- Deo dient der Hemmung von Schweiß; der implizite Nutzen ist erhöhte Attraktivität.
- Transportmittel sind häufig Statussymbole. Zudem lassen sie sich mit Sportlichkeit oder erhöhter Sicherheit verbinden; manchmal müssen mehrere Ziele kombiniert und je nach Produkt und Image gewichtet werden.
„Man ist immer wieder verblüfft, was Menschen alles übersehen, wenn es gerade nicht relevant für ihr Ziel ist.“
Um erfolgreich verkaufen zu können, müssen Produktnutzen, Signale und Ziele zueinanderpassen. Bei allem Spielraum für gestalterische Kreativität geben die Ziele klare und eindeutige Leitplanken für die Gestaltung.
Ziele finden
Der Entscheidungsprozess beim Kauf ist eine neuronale Wechselwirkung zwischen Bekanntem, Erinnertem, Wünschen bzw. Zielen und den Signalen des Produkts. Er spielt sich im so genannten Stirnhirn ab. Angesichts der Fülle von Produktangeboten im Supermarktregal scannt der Autopilot in Sekundenbruchteilen: Was brauche ich? Was ist mir wichtig? Was will ich erreichen?
„Die Höhe des Preises ist ein Code für Qualität.“
Im Gegensatz zur Meinung vieler Werber ist oft nicht das Gefühl das ausschlaggebende Kriterium bei einer Kaufentscheidung, sondern die Aussicht auf Belohnung. Lohnenswerte Ziele sind Status, Sicherheit, Gesundheit, Genuss, Wärme, Geborgenheit, Sauberkeit (auch moralischer Art: Fair Trade, Bio), Fürsorge, Stolz und Anerkennung. Bei der berufstätigen jungen Frau, die in der Du-darfst-Werbung ihre schlanke Figur in einer Spiegelung wahrnimmt, wird das Ziel „Stolz auf sich sein“ angesprochen. Das Produkt, so die Wahrnehmung, hilft bei der Zielerfüllung.
Wir sehen nur, was wir sehen wollen
Geben Sie sich keinen Illusionen hin: Die Kunden vergleichen, und Ihre Produkte stehen nicht allein im Regal. Wenn es der Konkurrenz gelingt, die Übereinstimmung der Signale mit den Wünschen und Zielen besser zu kommunizieren, werden natürlich deren Produkte bevorzugt. Allerdings sind nicht alle Menschen gleich, sie haben unterschiedliche Ziele. Über das Ziel lässt sich die Aufmerksamkeit des Kunden lenken. Wenn der Kunde dieses intuitiv und rasch erkennen kann, nimmt sein Gehirn, das so viele Reize filtern muss, nur noch wahr, was zum Ziel führt.
Marken prägen
Eine Sache ist es, die Ziele und Wünsche der Konsumenten zu erkennen und den impliziten Nutzen in Produktsignale zu codieren. Dadurch werden Marken mit Zielen aufgeladen. Mehrere Hersteller von Bodylotion sprechen den gleichen expliziten Nutzen an, nämlich den Gebrauchszweck „Feuchtigkeit für die Haut“. Darüber hinaus sind mehrere potenzielle implizite Ziele denkbar, die die Produkte differenzieren. Davon sind die Marken geprägt: „hochwertiges Produkt, Schönheit“ (dafür steht L’Oréal), „Sparen“ (dafür steht eine Handelsmarke). Viele Traditionsmarken gehören mittlerweile zu unserem Lebenserfahrungswissen. Die runde, dunkelblaue Dose mit der schneeweißen Schrift ist Nivea. Das mentale Konzept „unkomplizierte Pflege für den Alltag“ lässt sich auch auf andere Produkte des Hauses übertragen. Ebenso steht die Farbe Lila für eine bestimmte Schokolade und ist als Signal übertragbar.
Ziele und Preis
Der Preis ist ein wichtiges Produktsignal. Ein hoher Preis heisst hohe Qualität. Und Qualität ist ein implizites Ziel. Menschen sind bereit, dafür mehr zu zahlen. Das Merkmal „teuer“ wirkt sich etwa beim Wein sogar direkt auf die Geschmacksempfindung aus: Teurer Wein wird als besonders gut wahrgenommen. Man kann Produkte über implizite Ziele teurer verkaufen: etwa über eine schlüssig kommunizierte Geschichte, über den Status, den das Produkt verleiht, über seine Besonderheit oder Einmaligkeit. So werden in der Möbelbranche Einzelanfertigungen oder gebrauchte Möbel (Antiquitäten) zu hohen Preisen verkauft.
Produkteinführung und Innovation
Wenn man auf der Suche nach Innovationen ist, lohnt es sich, den Rahmen möglichst breit zu stecken. Der Teemarke Shuyao gelang es, mehr zu verkaufen, indem sie das Teetrinken in den Kontext der Arbeitswelt und damit in Konkurrenz zum Kaffeekonsum setzte. Damit dies funktionierte, mussten dieselben Ziele angesprochen werden, die man mit dem Kaffeekonsum verfolgt. Shuyao-Tee wird aus einem besonderen Gefäß, das einer Sporttrinkflasche ähnelt, getrunken und ist schnell trinkfertig. Der Konsum von Tee ist dadurch nicht komplizierter als der von Kaffee. In der Werbung wird die Flasche mit einem Kraftgriff gehalten; mit diesem Signal wurde der Shuyao-Tee mit der Arbeitswelt verkoppelt, wo man das größte zusätzliche Absatzpotenzial sah.