Ohne Netz

Buch Ohne Netz

Mein halbes Jahr offline

Klett-Cotta,


Rezension

Fast ist man versucht, dieses Buch schnell wieder bei­seit­ezule­gen. Gefühlte 1000 Mal hat man schon von Aussteigern gehört, die kurz vor dem Burn-out-Ab­grund zur Besinnung kommen, allen Segnungen der Moderne abschwören und dann mal weg sind. Für die Mehrheit der Da­heimge­bliebe­nen sind ihre Geschichten ungefähr so relevant wie der Dow Jones für ein dreijähriges Kind. Ganz anders ergeht es dem Leser mit diesem Tagebuch: Alex Rühle trifft mit seinen Beken­nt­nis­sen pfeilgenau ins Herz jedes Durch­schnittssurfers. Denn mal ehrlich, wer kann schon von sich behaupten, Smartphone und Laptop wirklich im Griff zu haben? Rühle lässt den Leser in die Abgründe seiner Seele blicken, bringt ihn mit den charmanten Weisheiten seiner Kinder zum Lachen und mit Zitaten aus guten Büchern zum Nachdenken. Platten Rat hat er nicht parat. Stattdessen aber jede Menge Literatur- und Musiktipps, geniale Sprach­bilder und kluge Gedanken. BooksInShort legt das Buch allen wärmstens ans Herz, die sich ein Stück analoge Freiheit erkämpfen möchten, ohne gleich zu digitalen To­talver­weiger­ern zu werden.

Take-aways

  • Journalist Alex Rühle di­ag­nos­tiziert sich selbst als „internetsüchtig“ und beschließt, für sechs Monate offline zu leben.
  • Bald stellen sich erste Entzugser­schei­n­un­gen ein: Rühle fühlt sich leer und nervös.
  • Statt zu vereinsamen, sieht er aber seine Freunde öfter als zuvor.
  • Rühle kämpft mit den Tücken von Faxgeräten und macht Jagd auf Tele­fonzellen.
  • Viele analoge Hilfsmittel sind längst im Orkus der digitalen Welt ver­schwun­den.
  • Ein Häftling, den Rühle besucht, erzählt von Phan­tom­schmerzen, die er hatte, als man ihm beim Eintritt seinen BlackBerry wegnahm.
  • Der Soziologe Hartmut Rosa rät, „Tem­po­ralin­sol­venz“ anzumelden: zu akzeptieren, dass man keine Chance hat, alles zu erledigen, und dann einfach zu tun, was möglich ist.
  • Rühle erleidet zwei Rückfälle und stellt fest, dass es in seinem Hirn noch immer lärmt.
  • Seine Vorsätze für die Zeit danach: nie wieder BlackBerry und kein Internet zu Hause.
  • Der digitale Alltag drängt mit Wucht in sein Leben zurück. Was bleibt, ist Rat­losigkeit.
 

Zusammenfassung

Letzter Fix

Am 30. November 2009 gibt Journalist Alex Rühle seinen BlackBerry in Verwahrung und lässt sämtliche In­ter­net­browser von seinem Redak­tion­srech­ner entfernen. Er ist im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung zuständig für freie Themen, ein lei­den­schaftlicher Jäger und Sammler des digitalen Zeitalters. Am Tag vor seinem Selb­stver­such, ein halbes Jahr offline zu leben, wird ihm aber doch mulmig zumute. Panisch zieht er sich Zeitungs­the­men für die nächsten Wochen aus dem Netz. Dann ve­r­ab­schiedet er sich per Mail von seinen Freunden und bittet sie, ihm Briefe zu schreiben. Ob sie überhaupt noch wissen, wie das geht?

Dezember

Morgens um fünf sitzt Rühle vor seinem Heimrechner. Es juckt ihn in den Fingern, auf Google ein paar Recherchen zu seinem Buchprojekt anzustellen. Wenige Stunden darauf im Büro verschärfen sich die Entzugser­schei­n­un­gen. Er ist fahrig und nervös. Voller Entsetzen stellt er fest, dass er sich bereits zur Nervensäge entwickelt. Früher ging er selbst ein Glas Wasser holen, wenn jemand ihn durch sinnlosen Small Talk von der Arbeit abhielt. Jetzt verlassen seine Kollegen unter dem gleichen Vorwand den Raum.

„Meine Tochter S. sagt, sie finde das ,voll ungerecht, wir dürfen nie fernsehen, und du kuckst sogar nachts immer in deinen blöden Computer rein‘.“

Warum eigentlich wollte er ein halbes Jahr offline gehen? Schließlich kann er das Gerede der In­ter­netkri­tiker kaum ertragen. Er wollte einfach nur erfahren, ob sich seine Leben­squalität ohne Netz verändert. Ob es stiller in ihm wird. Und ob sein Leben den „breiten Rand“ erhält, den der amerikanis­che Philosoph Henry David Thoreau erblickte, als er sich Mitte des 19. Jahrhun­derts für zwei Jahre in die Wälder zurückzog und sein berühmtes Werk Walden schrieb.

„In diesem Kasten bleibt nur, der durch ihn ging, der Wind. – Fabelhaft, das habe ich gerade eben live in meinem Gehirn gegoogelt!“

Kein Wunder, dass die Amerikaner den BlackBerry „Crackberry“ schimpfen: Das psychische Abhängigkeitspoten­zial beider Drogen ist ver­gle­ich­bar. Mails abzurufen wird zur zwanghaften Handlung. Keinen Restau­rantbe­such gab es früher, bei dem Rühle nicht eben auf der Toilette verschwand, um sich eine Dosis reinzuziehen. Beim letzten Fam­i­lienurlaub auf Elba versuchte er es mit kaltem Entzug und ließ das Ding zu Hause. Am Ende schlich er jeden zweiten Tag unter bescheuerten Vorwänden zum Internetcafé, um völlig unwichtige Mails zu beantworten. Als sich jetzt in einem Berliner Hotel der Rezep­tion­ist dafür entschuldigt, kein WLAN zu anzubieten, möchte er ihn beglückwünschen. Heutzutage sollte man mit so etwas Werbung machen! Immerhin gibt es bereits Fünf­sterne­ho­tels, die gestressten Managern Zimmer ohne Fernseher, Radio und Internet anbieten. Rühle hat gehofft, mit seiner Fastenkur auch die „Aufmerk­samkeit­sz­erstäubung“ zu bekämpfen. Doch im Ar­beit­sall­tag hat sich wenig verändert. Er wühlt sich durch Magazine und überfliegt gehetzt Meldungen. Anstatt wie früher von In­for­ma­tio­nen überschwemmt zu werden, fühlt er sich nun wie das Opfer einer Dürrekatas­tro­phe.

Januar

Jeden zweiten Monat hat Rühle frei und schreibt in der Bürowohnung eines Freundes an seinem Tagebuch. Er muss an den chi­ne­sis­chen Schrift­steller Mo Yan denken, der seinen jüngsten Wälzer in nur 43 Tagen geschrieben hat. Von Hand. Nicht ständig ins Netz abzubiegen hat ihm nach eigener Aussage ermöglicht, das Buch schnell und konzen­tri­ert zu beenden. Aber sind die jüngsten Auswüchse der In­ter­netkri­tik nicht nur Neuaufgüsse uralter Polemiken? Schließlich haben Kritiker der Moderne das Ende des selb­st­bes­timmten Ichs ungefähr so oft verkündet wie die Zeugen Jehovas die Apokalypse – egal ob in den ersten Tagen der Eisenbahn, des Radios oder des Fernsehens. Was ist wirklich neu am Internet? Vielleicht die Ver­schmelzung von Arbeit und Freizeit. Wir versuchen verzweifelt, Privates und Berufliches sauber zu trennen, und scheitern dabei grandios. Rühle wird bewusst, welchen Luxus er sich als fes­tangestell­ter Redakteur gerade leistet: Als Freier hätte er schon nach kurzer Zeit keinen Auf­tragge­ber mehr.

„Es ist doch beein­druck­end schwer zu ertragen, keine Post zu bekommen, wenn man 60 bis 80 Mails am Tag gewohnt ist. 60 Mal warmes Fläschchen fürs Ego, eine Nuck­elflasche voll mit süßem Brei, das stille Versprechen, gebraucht, geliebt, ange­sprochen, umsorgt zu werden.“

Er besucht einen Mann, der wegen Steuer­hin­terziehung und Betrug im Gefängnis sitzt. Der Häftling hatte ihm von seinen Phan­tom­schmerzen geschrieben, die er verspürte, als man ihm bei der Einweisung den BlackBerry wegnahm. Auf der Pritsche habe er den Eindruck gehabt, etwas würde in seiner leeren Hosentasche vibrieren. Facebook sei sein Leben gewesen, er habe seine Freunde kaum noch in der realen Welt getroffen. Nun schreibt er Briefe und singt im Gefängnischor. Rühle selbst hat gegen Ende des Monats das Gefühl, das Schlimmste hinter sich zu haben. Nicht mehr permanent die „digitale Newsbrühe zu süffeln“ gibt ihm das Gefühl, innerlich zu wachsen. Gle­ichzeitig mehren sich die Geständnisse von Freunden und Bekannten: Die Verkehrsunfälle, die durch das Smartphone verursacht wurden. Die Tochter, die keine Geschichte mehr zu Ende erzählen konnte, ohne dass ihr Vater zu tippen anfing. Oder der versaute Urlaub, weil der Partner den BlackBerry nicht einen Moment aus der Hand legte.

Februar

Wieder in der Redaktion. Der Dokumentar wird Rühle von nun an das gewünschte Material per Rohrpost schicken. Seine Kollegen drucken ihm wichtige Rundmails aus oder kommen als „lebende Mail“ vorbei, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Ihm wird bewusst, wie sehr er in der analogen Wüste auf seine Mitmenschen angewiesen ist: Egal ob bei der Recherche von Adressen, bei der Bewerbung für einen Jour­nal­is­ten­preis oder der Reg­istrierung für einen USA-Kurzbe­such, immer wieder heißt es „Schauen Sie auf unserer Website nach“, „Formulare gibt es nur noch online“, oder „Googeln Sie doch!“. Das Faxgerät spuckt erst einmal sämtliche Redak­tions­faxe der vergangenen fünf Tage aus, bevor das erwartete Dokument endlich ankommt. So lange hat das Gerät gestreikt, ohne dass es jemandem aufgefallen ist. Ob Rühles Experiment in einigen Jahren überhaupt noch möglich sein wird? Wohl kaum.

„Nur mal eben. Noch kurz. Ganz schnell. Das sind so die Selb­st­be­trugs­formeln des Onlinesüchtigen.“

Die Idee zu seiner Fastenkur kam ihm während einer Zugfahrt, als er in einem Magazin ein paar lose Seiten zum Thema „Ablenkung am Ar­beit­splatz“ fand. Ver­schiedene Forscher wollten Alarmieren­des her­aus­ge­fun­den haben: Privates Com­puter-Gedad­del kostet die britische Wirtschaft jährlich 1,4 Milliarden Pfund. Das amerikanis­che Brut­tosozial­pro­dukt würde bei einem Face­book-Ver­bot am Ar­beit­splatz angeblich um 1,5 % wachsen. Der durch­schnit­tliche Büromensch widmet sich nur elf Minuten am Stück einer Sache, bis ihn ein Anruf oder eine Mail unterbricht. Und er braucht dann im Schnitt ganze 25 Minuten, bis er vom Link-Hop­ping und anderen Ablenkungen wieder zu seiner Tätigkeit zurückfindet.

„Ist Erziehung ein Synonym für ein jahrelanges stilles Massaker unter all den verqueren Neu­ro­nen­verbindun­gen, sodass am Ende nur ein paar öde, pfeilgerade Autobahnen übrig bleiben?“

Spontanes, blitzschnelles Arbeiten ist offline sehr schwierig. Zumindest entschuldigt Rühle damit seinen ersten Rückfall: Er musste sich kurzfristig auf eine Moderation vorbereiten. Sein Komoderator war ausgefallen, und er hatte von den In­ter­view­part­nern noch keine Zeile gelesen. Doch die Recherche auf dem Rechner seiner Frau war ein Reinfall: Nach dem Querlesen einiger On­linerezen­sio­nen fühlte er sich so dumm wie zuvor. Für den zweiten Rückfall innerhalb kurzer Zeit hat er nicht einmal eine Entschuldigung: Der Computer seiner Frau war kaputt, sodass sie für kurze Zeit Firefox auf seinem Rechner in­stal­lierte. Da lauerte also der orange Fuchs, als warte er nur auf einen schwachen Moment, um zuzuschnap­pen. Und Rühle wurde schwach: Wie ein Fresssüchtiger, missgelaunt und mit un­ver­mei­dlichem Bauchweh, stopfte er die Webseiten in sich hinein, bis er am Ende auf Youporn landete und dachte: Scheiße.

März

Am 10. des Monats möchte er eigentlich über die ersten 100 Tage Einsamkeit schreiben – merkt aber sofort, dass diese Bezeichnung nicht zutrifft. Er sieht seine Freunde häufiger als früher, ist zufrieden und aus­geglichen – zumindest in den Monaten zu Hause. Rühle besucht den Soziologen Hartmut Rosa in Jena, einen Spezial­is­ten für Beschle­u­ni­gungs­the­o­rie, der nach eigenem Bekenntnis selbst unter akutem Zeitmangel leidet. Rosas Ratschlag an alle, die permanent der Zeit hin­ter­her­hecheln: „Tem­po­ralin­sol­venz“ anmelden, verstehen, dass man eh keine Chance hat, und dann gelassen sein tägliches Pensum abarbeiten. Das Besondere an der Beschle­u­ni­gung im digitalen Zeitalter sei, dass alles auf einmal ins Rutschen komme, weil es keine stabilen Verhältnisse mehr gebe. Rosa ist Pessimist. Einzig im Langsamsein sieht er noch einen möglichen Wet­tbe­werb­svorteil unserer Zeit.

„Die Erwachsenen leiden ja meist darunter, dass sie selbst nur noch daherreden wie ein Leitz-Ord­ner voller alter Rechnungen. Wir haben Sehnsucht, aber wissen gar nicht richtig, wonach.“

Rühle nimmt an einer eintägigen Zen-Med­i­ta­tion in einem bud­dhis­tis­chen Zentrum teil, in dem er 15 Jahre zuvor mehrere Win­ter­wochen verbracht hat. Schon nach 25 Minuten ist klar: Sein Aufmerk­samkeitsvermögen ist gleich null. Er schafft es nicht einmal ansatzweise, sich auf seinen Atem zu konzen­tri­eren. Stattdessen plappert und schnattert es in seinem Kopf und er muss wie panisch schlucken. Außerdem grummelt sein Magen. Auf der Homepage stand angeblich, man solle sein Essen selber mitbringen. Am Telefon hat man ihm nichts davon gesagt.

April

Über die Os­ter­feiertage fährt Rühle mit seiner Familie aufs Land. Seine Kinder striegeln hinge­bungsvoll die Esel auf dem Bauernhof, die Zeit verläuft träge, alles ist gut. Am Abend wird Rühle nervös, als sein Computer für das Überspielen eines Songs knapp eine Minute braucht. Sein Fam­i­lien­all­tag hält ihm wieder einmal den Spiegel vor und zeigt ihm die ungeliebte Fratze eines gehetzten, von den Mühlen der Zeit zerriebenen Mannes – trotz Netzentzugs. Es gibt aber auch viele gute Momente: das Radeln mit den Kindern in der Frühlingssonne, das Stöbern in urigen Münchner Buchläden, wo er Tee trinkend auf knarzenden Stühlen Bücher liest, der Besuch in einem Reisebüro, um einen Kurztrip nach Lissabon zu or­gan­isieren, die vielen handgeschriebe­nen Briefe.

„Infos passen immer mehr rein. Denken wir. Dass sie hinten, im Dunkel unseres Gedächt­niss­chup­pens, einfach stumm verlöschen, merken wir nicht, schließlich sind wir so frenetisch am Einräumen und Weit­er­re­in­stopfen.“

Immer mehr Menschen kommen mit Suchtgeständnissen zu ihm. Die eBay-Schnäppchenjäger, die sich selbst mit lauter unnützem Zeug zumüllen. Die sozialen Netzwerker, die jede freie Minute im virtuellen Raum verbringen. Aber auch richtig harte Fälle wie „World of Warcraft“-Opfer, die sich selbst und ihr Leben für das Onlinespiel aufgegeben haben. Rühle schlägt die Definition von Sucht nach: „zwanghaft auftre­tendes Verlangen, eine Substanz zu konsumieren“ sowie „verminderte Kontrollfähigkeit über Beginn, Beendigung und Menge des Sub­stanzge­brauchs“. Kein Zweifel, er war süchtig.

Mai

Rühle fliegt in die USA, um Keith Jarrett zu interviewen. Hier sind sämtliche Brücken zur analogen Welt abgerissen. Tele­fonzellen scheinen aus­gestor­ben. Und zu allem Überfluss nörgelt Jarrett über die digitale Technik wie ein waschechter Wel­tun­ter­gang­sprophet. Wie gut, dass dieser Mann Klavier spielt und keine Bücher schreibt, denkt Rühle. Bei seiner Rückkehr liegen Antworten auf einen Rundbrief vor, den er an die Münchner Gymnasien und Realschulen geschrieben hat. Er hat sich darin nach den Auswirkun­gen von Handy und Internet auf den Schulalltag erkundigt. Viele Lehrer beklagen das Suchtver­hal­ten ihrer Schüler. Die Schüler wiederum kom­men­tieren Rühles Selb­stver­such als wunderlich und erklären quer durch die Bank, dass sie ohne Facebook und Handy nicht leben könnten. Am Ende des Monats fasst der Proband zwei Vorsätze für seine Rückkehr in die vernetzte Welt: erstens nie wieder BlackBerry und zweitens kein Internet auf seinem Rechner zu Hause.

Was bleibt

5644 ungelesene Nachrichten warten in Rühles Mailbox. Er stellt fest, dass er in den sechs Monaten nichts Wichtiges verpasst hat. Dann ist da noch ein gruseliger Fingerzeig: Ein Mann von der IT-Abteilung der Süddeutschen Zeitung meint zum Abschluss des Experiments, er würde sich eher den kleinen Finger abhacken als sich das Internet abnehmen lassen. Schließlich könnte er ohne Netz nicht leben, ohne Finger schon.

Über den Autor

Alex Rühle ist Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung.