Letzter Fix
Am 30. November 2009 gibt Journalist Alex Rühle seinen BlackBerry in Verwahrung und lässt sämtliche Internetbrowser von seinem Redaktionsrechner entfernen. Er ist im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung zuständig für freie Themen, ein leidenschaftlicher Jäger und Sammler des digitalen Zeitalters. Am Tag vor seinem Selbstversuch, ein halbes Jahr offline zu leben, wird ihm aber doch mulmig zumute. Panisch zieht er sich Zeitungsthemen für die nächsten Wochen aus dem Netz. Dann verabschiedet er sich per Mail von seinen Freunden und bittet sie, ihm Briefe zu schreiben. Ob sie überhaupt noch wissen, wie das geht?
Dezember
Morgens um fünf sitzt Rühle vor seinem Heimrechner. Es juckt ihn in den Fingern, auf Google ein paar Recherchen zu seinem Buchprojekt anzustellen. Wenige Stunden darauf im Büro verschärfen sich die Entzugserscheinungen. Er ist fahrig und nervös. Voller Entsetzen stellt er fest, dass er sich bereits zur Nervensäge entwickelt. Früher ging er selbst ein Glas Wasser holen, wenn jemand ihn durch sinnlosen Small Talk von der Arbeit abhielt. Jetzt verlassen seine Kollegen unter dem gleichen Vorwand den Raum.
„Meine Tochter S. sagt, sie finde das ,voll ungerecht, wir dürfen nie fernsehen, und du kuckst sogar nachts immer in deinen blöden Computer rein‘.“
Warum eigentlich wollte er ein halbes Jahr offline gehen? Schließlich kann er das Gerede der Internetkritiker kaum ertragen. Er wollte einfach nur erfahren, ob sich seine Lebensqualität ohne Netz verändert. Ob es stiller in ihm wird. Und ob sein Leben den „breiten Rand“ erhält, den der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau erblickte, als er sich Mitte des 19. Jahrhunderts für zwei Jahre in die Wälder zurückzog und sein berühmtes Werk Walden schrieb.
„In diesem Kasten bleibt nur, der durch ihn ging, der Wind. – Fabelhaft, das habe ich gerade eben live in meinem Gehirn gegoogelt!“
Kein Wunder, dass die Amerikaner den BlackBerry „Crackberry“ schimpfen: Das psychische Abhängigkeitspotenzial beider Drogen ist vergleichbar. Mails abzurufen wird zur zwanghaften Handlung. Keinen Restaurantbesuch gab es früher, bei dem Rühle nicht eben auf der Toilette verschwand, um sich eine Dosis reinzuziehen. Beim letzten Familienurlaub auf Elba versuchte er es mit kaltem Entzug und ließ das Ding zu Hause. Am Ende schlich er jeden zweiten Tag unter bescheuerten Vorwänden zum Internetcafé, um völlig unwichtige Mails zu beantworten. Als sich jetzt in einem Berliner Hotel der Rezeptionist dafür entschuldigt, kein WLAN zu anzubieten, möchte er ihn beglückwünschen. Heutzutage sollte man mit so etwas Werbung machen! Immerhin gibt es bereits Fünfsternehotels, die gestressten Managern Zimmer ohne Fernseher, Radio und Internet anbieten. Rühle hat gehofft, mit seiner Fastenkur auch die „Aufmerksamkeitszerstäubung“ zu bekämpfen. Doch im Arbeitsalltag hat sich wenig verändert. Er wühlt sich durch Magazine und überfliegt gehetzt Meldungen. Anstatt wie früher von Informationen überschwemmt zu werden, fühlt er sich nun wie das Opfer einer Dürrekatastrophe.
Januar
Jeden zweiten Monat hat Rühle frei und schreibt in der Bürowohnung eines Freundes an seinem Tagebuch. Er muss an den chinesischen Schriftsteller Mo Yan denken, der seinen jüngsten Wälzer in nur 43 Tagen geschrieben hat. Von Hand. Nicht ständig ins Netz abzubiegen hat ihm nach eigener Aussage ermöglicht, das Buch schnell und konzentriert zu beenden. Aber sind die jüngsten Auswüchse der Internetkritik nicht nur Neuaufgüsse uralter Polemiken? Schließlich haben Kritiker der Moderne das Ende des selbstbestimmten Ichs ungefähr so oft verkündet wie die Zeugen Jehovas die Apokalypse – egal ob in den ersten Tagen der Eisenbahn, des Radios oder des Fernsehens. Was ist wirklich neu am Internet? Vielleicht die Verschmelzung von Arbeit und Freizeit. Wir versuchen verzweifelt, Privates und Berufliches sauber zu trennen, und scheitern dabei grandios. Rühle wird bewusst, welchen Luxus er sich als festangestellter Redakteur gerade leistet: Als Freier hätte er schon nach kurzer Zeit keinen Auftraggeber mehr.
„Es ist doch beeindruckend schwer zu ertragen, keine Post zu bekommen, wenn man 60 bis 80 Mails am Tag gewohnt ist. 60 Mal warmes Fläschchen fürs Ego, eine Nuckelflasche voll mit süßem Brei, das stille Versprechen, gebraucht, geliebt, angesprochen, umsorgt zu werden.“
Er besucht einen Mann, der wegen Steuerhinterziehung und Betrug im Gefängnis sitzt. Der Häftling hatte ihm von seinen Phantomschmerzen geschrieben, die er verspürte, als man ihm bei der Einweisung den BlackBerry wegnahm. Auf der Pritsche habe er den Eindruck gehabt, etwas würde in seiner leeren Hosentasche vibrieren. Facebook sei sein Leben gewesen, er habe seine Freunde kaum noch in der realen Welt getroffen. Nun schreibt er Briefe und singt im Gefängnischor. Rühle selbst hat gegen Ende des Monats das Gefühl, das Schlimmste hinter sich zu haben. Nicht mehr permanent die „digitale Newsbrühe zu süffeln“ gibt ihm das Gefühl, innerlich zu wachsen. Gleichzeitig mehren sich die Geständnisse von Freunden und Bekannten: Die Verkehrsunfälle, die durch das Smartphone verursacht wurden. Die Tochter, die keine Geschichte mehr zu Ende erzählen konnte, ohne dass ihr Vater zu tippen anfing. Oder der versaute Urlaub, weil der Partner den BlackBerry nicht einen Moment aus der Hand legte.
Februar
Wieder in der Redaktion. Der Dokumentar wird Rühle von nun an das gewünschte Material per Rohrpost schicken. Seine Kollegen drucken ihm wichtige Rundmails aus oder kommen als „lebende Mail“ vorbei, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Ihm wird bewusst, wie sehr er in der analogen Wüste auf seine Mitmenschen angewiesen ist: Egal ob bei der Recherche von Adressen, bei der Bewerbung für einen Journalistenpreis oder der Registrierung für einen USA-Kurzbesuch, immer wieder heißt es „Schauen Sie auf unserer Website nach“, „Formulare gibt es nur noch online“, oder „Googeln Sie doch!“. Das Faxgerät spuckt erst einmal sämtliche Redaktionsfaxe der vergangenen fünf Tage aus, bevor das erwartete Dokument endlich ankommt. So lange hat das Gerät gestreikt, ohne dass es jemandem aufgefallen ist. Ob Rühles Experiment in einigen Jahren überhaupt noch möglich sein wird? Wohl kaum.
„Nur mal eben. Noch kurz. Ganz schnell. Das sind so die Selbstbetrugsformeln des Onlinesüchtigen.“
Die Idee zu seiner Fastenkur kam ihm während einer Zugfahrt, als er in einem Magazin ein paar lose Seiten zum Thema „Ablenkung am Arbeitsplatz“ fand. Verschiedene Forscher wollten Alarmierendes herausgefunden haben: Privates Computer-Gedaddel kostet die britische Wirtschaft jährlich 1,4 Milliarden Pfund. Das amerikanische Bruttosozialprodukt würde bei einem Facebook-Verbot am Arbeitsplatz angeblich um 1,5 % wachsen. Der durchschnittliche Büromensch widmet sich nur elf Minuten am Stück einer Sache, bis ihn ein Anruf oder eine Mail unterbricht. Und er braucht dann im Schnitt ganze 25 Minuten, bis er vom Link-Hopping und anderen Ablenkungen wieder zu seiner Tätigkeit zurückfindet.
„Ist Erziehung ein Synonym für ein jahrelanges stilles Massaker unter all den verqueren Neuronenverbindungen, sodass am Ende nur ein paar öde, pfeilgerade Autobahnen übrig bleiben?“
Spontanes, blitzschnelles Arbeiten ist offline sehr schwierig. Zumindest entschuldigt Rühle damit seinen ersten Rückfall: Er musste sich kurzfristig auf eine Moderation vorbereiten. Sein Komoderator war ausgefallen, und er hatte von den Interviewpartnern noch keine Zeile gelesen. Doch die Recherche auf dem Rechner seiner Frau war ein Reinfall: Nach dem Querlesen einiger Onlinerezensionen fühlte er sich so dumm wie zuvor. Für den zweiten Rückfall innerhalb kurzer Zeit hat er nicht einmal eine Entschuldigung: Der Computer seiner Frau war kaputt, sodass sie für kurze Zeit Firefox auf seinem Rechner installierte. Da lauerte also der orange Fuchs, als warte er nur auf einen schwachen Moment, um zuzuschnappen. Und Rühle wurde schwach: Wie ein Fresssüchtiger, missgelaunt und mit unvermeidlichem Bauchweh, stopfte er die Webseiten in sich hinein, bis er am Ende auf Youporn landete und dachte: Scheiße.
März
Am 10. des Monats möchte er eigentlich über die ersten 100 Tage Einsamkeit schreiben – merkt aber sofort, dass diese Bezeichnung nicht zutrifft. Er sieht seine Freunde häufiger als früher, ist zufrieden und ausgeglichen – zumindest in den Monaten zu Hause. Rühle besucht den Soziologen Hartmut Rosa in Jena, einen Spezialisten für Beschleunigungstheorie, der nach eigenem Bekenntnis selbst unter akutem Zeitmangel leidet. Rosas Ratschlag an alle, die permanent der Zeit hinterherhecheln: „Temporalinsolvenz“ anmelden, verstehen, dass man eh keine Chance hat, und dann gelassen sein tägliches Pensum abarbeiten. Das Besondere an der Beschleunigung im digitalen Zeitalter sei, dass alles auf einmal ins Rutschen komme, weil es keine stabilen Verhältnisse mehr gebe. Rosa ist Pessimist. Einzig im Langsamsein sieht er noch einen möglichen Wettbewerbsvorteil unserer Zeit.
„Die Erwachsenen leiden ja meist darunter, dass sie selbst nur noch daherreden wie ein Leitz-Ordner voller alter Rechnungen. Wir haben Sehnsucht, aber wissen gar nicht richtig, wonach.“
Rühle nimmt an einer eintägigen Zen-Meditation in einem buddhistischen Zentrum teil, in dem er 15 Jahre zuvor mehrere Winterwochen verbracht hat. Schon nach 25 Minuten ist klar: Sein Aufmerksamkeitsvermögen ist gleich null. Er schafft es nicht einmal ansatzweise, sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Stattdessen plappert und schnattert es in seinem Kopf und er muss wie panisch schlucken. Außerdem grummelt sein Magen. Auf der Homepage stand angeblich, man solle sein Essen selber mitbringen. Am Telefon hat man ihm nichts davon gesagt.
April
Über die Osterfeiertage fährt Rühle mit seiner Familie aufs Land. Seine Kinder striegeln hingebungsvoll die Esel auf dem Bauernhof, die Zeit verläuft träge, alles ist gut. Am Abend wird Rühle nervös, als sein Computer für das Überspielen eines Songs knapp eine Minute braucht. Sein Familienalltag hält ihm wieder einmal den Spiegel vor und zeigt ihm die ungeliebte Fratze eines gehetzten, von den Mühlen der Zeit zerriebenen Mannes – trotz Netzentzugs. Es gibt aber auch viele gute Momente: das Radeln mit den Kindern in der Frühlingssonne, das Stöbern in urigen Münchner Buchläden, wo er Tee trinkend auf knarzenden Stühlen Bücher liest, der Besuch in einem Reisebüro, um einen Kurztrip nach Lissabon zu organisieren, die vielen handgeschriebenen Briefe.
„Infos passen immer mehr rein. Denken wir. Dass sie hinten, im Dunkel unseres Gedächtnisschuppens, einfach stumm verlöschen, merken wir nicht, schließlich sind wir so frenetisch am Einräumen und Weiterreinstopfen.“
Immer mehr Menschen kommen mit Suchtgeständnissen zu ihm. Die eBay-Schnäppchenjäger, die sich selbst mit lauter unnützem Zeug zumüllen. Die sozialen Netzwerker, die jede freie Minute im virtuellen Raum verbringen. Aber auch richtig harte Fälle wie „World of Warcraft“-Opfer, die sich selbst und ihr Leben für das Onlinespiel aufgegeben haben. Rühle schlägt die Definition von Sucht nach: „zwanghaft auftretendes Verlangen, eine Substanz zu konsumieren“ sowie „verminderte Kontrollfähigkeit über Beginn, Beendigung und Menge des Substanzgebrauchs“. Kein Zweifel, er war süchtig.
Mai
Rühle fliegt in die USA, um Keith Jarrett zu interviewen. Hier sind sämtliche Brücken zur analogen Welt abgerissen. Telefonzellen scheinen ausgestorben. Und zu allem Überfluss nörgelt Jarrett über die digitale Technik wie ein waschechter Weltuntergangsprophet. Wie gut, dass dieser Mann Klavier spielt und keine Bücher schreibt, denkt Rühle. Bei seiner Rückkehr liegen Antworten auf einen Rundbrief vor, den er an die Münchner Gymnasien und Realschulen geschrieben hat. Er hat sich darin nach den Auswirkungen von Handy und Internet auf den Schulalltag erkundigt. Viele Lehrer beklagen das Suchtverhalten ihrer Schüler. Die Schüler wiederum kommentieren Rühles Selbstversuch als wunderlich und erklären quer durch die Bank, dass sie ohne Facebook und Handy nicht leben könnten. Am Ende des Monats fasst der Proband zwei Vorsätze für seine Rückkehr in die vernetzte Welt: erstens nie wieder BlackBerry und zweitens kein Internet auf seinem Rechner zu Hause.
Was bleibt
5644 ungelesene Nachrichten warten in Rühles Mailbox. Er stellt fest, dass er in den sechs Monaten nichts Wichtiges verpasst hat. Dann ist da noch ein gruseliger Fingerzeig: Ein Mann von der IT-Abteilung der Süddeutschen Zeitung meint zum Abschluss des Experiments, er würde sich eher den kleinen Finger abhacken als sich das Internet abnehmen lassen. Schließlich könnte er ohne Netz nicht leben, ohne Finger schon.