Markt und Wettbewerb
Wir leben in einer Marktwirtschaft, in der der Markt dafür sorgt, dass gute Leistung belohnt und schlechte bestraft wird. Zumindest in der Theorie. In der Wirklichkeit funktioniert der Markt nur in den wenigsten Fällen ideal. Wenn es in einem Bereich keinen oder nur einen unvollständig funktionierenden Markt gibt, wird oft ein künstlicher Wettbewerb ins Leben gerufen. Dabei werden mehr oder weniger sinnvolle Merkmale gesucht, um Leistungen zu quantifizieren, die eigentlich nicht messbar sind. Daraus ergeben sich meist falsche Anreize für die Wettbewerbsteilnehmer.
„Markt und Wettbewerb sind keine siamesischen Zwillinge.“
Ein historisches Beispiel illustriert sehr gut, welche Gefahren von künstlichen Wettbewerben ausgehen: Während der Kolonialzeit wollten die Franzosen in Hanoi der Rattenplage mit einer „Kopfprämie“ Herr werden. Die Vietnamesen bekam für jeden Rattenpelz eine Belohnung. Dieser künstliche Wettbewerb mündete aber nicht darin, dass die Stadt bald rattenfrei war, sondern hatte zur Folge, dass die Bewohner daran gingen, Ratten zu züchten, um die Prämie einzukassieren. Wissenschaftlich ausgedrückt stand der messbare Indikator (Rattenpelze) in negativer Korrelation zur gewünschten Leistung (Dezimierung der Ratten). Ähnlich funktionieren künstliche Wettbewerbe auch heute noch.
Markteffizienz ist Etikettenschwindel
Kaum ein neoliberaler Anhänger des Marktes würde sich wohl eingestehen, dass die von Adam Smith propagierte „unsichtbare Hand“ einen religiösen Ursprung hat. Und zwar in der antiken Stoa. Die Idee ihrer Anhänger war: Egal, wie der Mensch sich entscheidet, ein göttlicher Plan sorgt dafür, dass sich alles zum Guten entwickelt. Ähnlich läuft es nach Smith auf dem Markt ab, auf dem gemäß der Theorie sowohl Produzenten als auch Konsumenten ihren jeweiligen Nutzen maximieren und es über den Preismechanismus zu einer perfekten Versorgung kommt. Aber diese Vorstellung vom Markt beruht auf einer idealtypischen Welt, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Wettbewerb funktioniert zwar meist besser als z. B. die planwirtschaftliche Verteilung von Gütern, aber auch er ist fehlerbehaftet und kann nicht in Bausch und Bogen seliggesprochen werden. Leider wird der Marktgedanke gerne auf alle möglichen Bereiche des Lebens übertragen, in denen kein echter Markt existiert. Auf dem Gesundheits- oder Forschungssektor etwa herrschen keine echten Marktbedingungen. Stattdessen gibt es dort künstliche Wettbewerbe, denen das Etikett „Markt“ aufgedrückt wird. In Wahrheit handelt es sich um einen Etikettenschwindel.
Die Scheineffizienz künstlicher Wettbewerbe
Vor allem in den 80er Jahren herrschte in der Politik eine große Markteuphorie: Politiker wie Thatcher und Reagan wollten alles dem Markt überlassen. Und wo es keinen Markt gab, musste einer geschaffen werden. Auch Thatchers Nachfolger Tony Blair und in Deutschland Gerhard Schröder machten sich das Prinzip zunutze. Mehr Wettbewerb sollte bessere Ergebnisse und Leistungen erzielen, z. B. in staatlichen Institutionen, Kliniken oder Universitäten. Oftmals ging das mit einer Privatisierung ehemals staatlicher Betriebe einher, weil private Unternehmen – so die Annahme – marktkonformer und damit besser wirtschaften könnten. Doch anders als beim echten Markt wird beim künstlichen Wettbewerb die Nachfrageseite, also der Kunde, gar nicht berücksichtigt. Es gibt auch keinen Preismechanismus, der Angebot und Nachfrage in Einklang bringt. Stattdessen werden die Teilnehmer des Wettbewerbs in Konkurrenz zueinander gesetzt, wenn sie eine bestimmte Prämie, z. B. Forschungsgelder, erhalten möchten. Die Teilnehmer werden versuchen, möglichst viel von der Prämie abzustauben, und konterkarieren dabei den eigentlichen Zweck des Wettbewerbs.
„Allgemeingültige, exakte Gesetze erhält man in den Sozialwissenschaften nur, wenn man die Realität vorher wegdefiniert.“
Außerdem laufen Wettbewerbe in der Realität nie so friedlich ab, wie sie in der Theorie geplant wurden: Man kann auch Sieger sein, indem man die Konkurrenz ausbootet, ohne bessere Leistung abzuliefern. Dieses Prinzip gilt ebenso am „richtigen“ Markt und im Verdrängungskampf der Unternehmen. Die größte Gefahr künstlicher Wettbewerbe: Sie werden zum Selbstzweck. Es kommt dann nur noch auf den Wettkampf an, nicht mehr auf sinnvolle Resultate. Es regiert die Scheineffizienz. Die Form verdrängt den Inhalt, und die Energie, die für Arbeit, Forschung, Erfindungen oder Innovationen benötigt wird, geht für den Wettkampf drauf.
Qualität kann man nicht messen
Wer einen Wettbewerb veranstaltet, möchte einen Sieger küren. Dafür muss er Messungen anstellen. Bei manchen Sportarten ist das einfach: Den 100-Meter-Lauf gewinnt der Schnellste. Schnelligkeit ist eindeutig messbar und deshalb gibt es hier auch keinerlei Unsicherheiten. Aber wie bewertet man Kunstturnen oder Eiskunstlauf? Anhand von Noten, und die sind häufig umstritten. Ähnlich stellt sich das Problem in der Wirtschaft: Die Produktivität eines Fließbandmitarbeiters kann man messen und die Leistung entsprechend bewerten. Doch heute sind vor allem Wissensarbeiter gefragt, die ihr Know-how einsetzen. Es kommt nicht auf Quantität, sondern auf Qualität an – und die widersetzt sich hartnäckig jedem Versuch, sie zu messen. Eine geniale Erfindung entsteht vielleicht innerhalb weniger Minuten. Wie soll man sie mit Tausenden Seiten Forschungsberichten vergleichen, die zu keinem vernünftigen Ergebnis führen und obendrein noch schwierig zu lesen sind?
„Falsche Effizienzbegriffe müssen genauso wie Qualitätskennzahlen oder -indikatoren aus der politischen Diskussion verschwinden.“
Komplexe qualitative Prozesse lassen sich schlicht nicht adäquat quantifizieren. Möchte man ein soziales System, z. B. eine Abteilung in einem Unternehmen, mit messbaren Kriterien ausstatten, muss man meist so gravierend in das System eingreifen, dass man es selbst verändert. Man misst schließlich etwas ganz anderes, als man ursprünglich wollte. Wird die Leistung anhand weniger Kennzahlen gemessen, werden die Mitarbeiter diese Messkriterien „überoptimieren“ und in der Folge ihre anderen Tätigkeiten vernachlässigen. Wählt man mehr Messkriterien, die dann meistens mit einer komplizierten Mechanik zusammenwirken (z. B. Balanced Scorecard oder Benchmarking), verstehen die Mitarbeiter gar nicht mehr, welche Handlung eigentlich zu welchem Ergebnis führt. Die Folge: Es gibt zwar keine negativen Anreize mehr, aber auch keine positiven. Stattdessen: eine Menge Bürokratie und viel verschwendete Arbeitszeit.
Die Motivationsillusion
Leistungsanreize in Form von Prämien oder Boni sind gang und gäbe. In Unternehmen stehen die Mitarbeiter – zumindest unterhalb der obersten Hierarchieebene – unter dem Generalverdacht, Leistungsverweigerer zu sein. Deshalb müsse man sie mit Prämien wachrütteln und mit der Angst vor Wettbewerb und Versagen gefügig machen. Das funktioniert in einigen Bereichen sogar recht gut, z. B. im Außendienst. Verkäufer werden meist ausschließlich über extrinsische Motivation (Geld, Firmenwagen, Incentives) zur Höchstleistung angetrieben. Wenn sie versagen, wird ihnen alles wieder weggenommen. Wie aber sieht es bei anderen Tätigkeiten aus? Ähnlich wie bei der Messbarkeitsillusion: Einseitige Prämien für bestimmte Erfolge motivieren nur noch dazu, genau diese definierten Prämien zu erheischen. Echte Innovationen kommen dabei eher selten heraus.
Wo überall Unsinn produziert wird
Werden künstliche Wettbewerbe etwa bei Wissenschaftlern, Ärzten oder Lehrern eingeführt, wird meist innerhalb kürzester Zeit die Produktion von Unsinn außerordentlich gesteigert. Ein paar Beispiele:
- Wissenschaft: Professoren und Wissenschaftler werden anhand der Zahl ihrer Publikationen gemessen. Die Folge: Es werden belanglose Veröffentlichungen gesammelt, denn kaum jemand liest wirklich nach. Selbst das an sich vernünftige Beurteilungsverfahren von Forschungsberichten durch andere Wissenschaftler („Peer-Review“) ist inzwischen so degeneriert, dass publizierende Forscher ihre Texte absichtlich nach bestimmten Kriterien optimieren, um bloß nicht abgelehnt zu werden, z. B. indem sie strategisch bestimmte Autoren loben, die sie als Gutachter erwarten. Auch haben sich die Publikationen mit drei, vier oder mehr Autoren in den letzten Jahrzehnten verdreifacht: Denn dadurch können Autoren innerhalb kürzerer Zeit mehr produzieren und werden öfter zitiert.
- Bildung: In vielen Ländern wird gefordert, dass ein möglichst hoher Prozentsatz junger Menschen einen höheren Schulabschluss erreichen sollte. Die Folge: Die Studentenquote steigt und die Qualität der Ausbildung verschlechtert sich. Wo früher 50 Studenten in einer Vorlesung saßen, sind es heute 500. Der Ausweg: Es werden teure Eliteuniversitäten gegründet, die sich nur wenige leisten können, und viele junge Menschen dümpeln in zweitklassigen Hochschulen vor sich hin. Ähnlich ist es mit dem Bildungsniveau: Der Wettbewerb um möglichst viele Universitätsabschlüsse führt dazu, dass Bachelor, Diplom und Master immer weniger wert sind und dass auch immer weniger echte Bildung vermittelt werden kann.
- Gesundheitswesen: Fallpauschalen für die Behandlung von Krankheiten sollen dazu beitragen, dass teure Krankenhäuser wirtschaftlicher arbeiten. Je nach Diagnose steht nur ein bestimmter, gedeckelter Geldbetrag zur Verfügung. Die Folge: Patienten werden erheblich früher entlassen als vor der Einführung der Fallpauschale, weil keine Abrechnung über die Verweildauer im Krankenhaus erfolgen darf. Allerdings hat man in den USA, wo Fallpauschalen schon in den 80er Jahren eingeführt wurden, festgestellt, dass die ambulanten Nachbehandlungskosten, die Rückfallquote und die Sterblichkeit zugenommen haben. Statt gleicher Qualität zu geringeren Kosten lieferte das neue System geringere Qualität zu gleichen Kosten. Krankenhäuser werden durch Fallpauschalen zum Rosinenpicken animiert; es besteht die Tendenz, dass bevorzugt einfache Fälle behandelt werden. Außerdem wird der perverse Anreiz gefördert, möglichst schnell eine Diagnose zu stellen – auch wenn sie falsch ist.
Ein Leben ohne künstliche Wettbewerbe
Was kann man tun, um die perversen Anreize künstlicher Wettbewerbe zu vermeiden?
- Die Anreize künstlicher Wettbewerbe analysieren und aufzeigen, dass sie in eine falsche Richtung weisen.
- Betroffene zu Wort kommen lassen, denn oft werden künstliche Wettbewerbe eingeführt, ohne dass die Beteiligten gefragt werden.
- Nicht alle Arbeitnehmer unter den Generalverdacht der Faulheit stellen. Wissenschaftler, Lehrer, Ärzte und überhaupt alle Wissensarbeiter werden durch ihre Arbeit selbst motiviert und nicht über die Daumenschrauben der Leistungsmessung.
- Eintrittsbarrieren erhalten. Nicht jeder darf und soll studieren. Nur so lässt sich das Bildungsniveau aufrechterhalten und nur so lässt sich sicherstellen, dass tatsächlich fähige und motivierte Menschen ausgebildet werden.
- Akzeptieren, dass Qualität nicht messbar ist. Wenn man will, darf man mithilfe von Kennzahlen Zusatzinformationen bereitstellen, diese sollten aber nicht mit der Qualität per se gleichgesetzt werden.
- Mut zu subjektiven Urteilen haben. Wenn nicht alles messbar ist, müssen Ärzte, Lehrer, Politiker und Unternehmer auch wieder einmal subjektiv beurteilen, was die beste Therapie, welche die beste Bildung oder wer der beste Mitarbeiter ist. Das bedeutet natürlich, dass sie sich wieder mehr mit Inhalten und Menschen beschäftigen als mit Zahlen.