Sinnlose Wettbewerbe

Buch Sinnlose Wettbewerbe

Warum wir immer mehr Unsinn produzieren

Herder,


Rezension

Überall rufen Politiker und Berater heute nach mehr Markt, mehr Pri­vatisierung, mehr Effizienz. Mathias Binswanger, obwohl selbst Ökonom, macht da nicht mit. In seinem Buch geht er einem ver­bre­it­eten Phänomen unserer Zeit auf den Grund: Weil es in vielen Gesellschafts­bere­ichen keinen funk­tion­ieren­den Markt gibt, wird ein künstlicher Wettbewerb ausgerufen. Doch solche Wettbewerbe sind im günstigsten Fall nur Zeitver­schwen­dung, im schlimmsten Fall produzieren Menschen aufgrund perverser Anreize Unsinn: Wis­senschaftler, die anhand von Pub­lika­tion­slis­ten beurteilt werden, schreiben Schmal­spu­rar­tikel, Ärzte kümmern sich nicht mehr um die kom­plizierten Fälle, sondern stellen nur noch lukrative Nullachtfünfzehn-Di­ag­nosen, Ar­beit­nehmer werden zum Sammeln von Diplomen und Urkunden animiert, die meist nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Binswanger liefert eine gut lesbare Analyse des alltäglichen Ef­fizien­zwahns. Er prangert den zahlengläubigen Zeitgeist an und ar­gu­men­tiert, dass man Qualität schlicht und einfach nicht messen kann. Die Lösungsvorschläge allerdings bleiben ein wenig blass. Trotzdem empfiehlt BooksInShort diesen Titel jedem, der die Ökonomisierung aller Lebens­bere­iche kritisch hin­ter­fra­gen möchte, statt den Be­rater­heer­scharen wie die Lemminge zu folgen.

Take-aways

  • Wettbewerb funk­tion­iert nur in wenigen Wirtschafts­bere­ichen optimal.
  • Wo es auf natürliche Weise keinen Markt gibt, sollen künstliche Wettbewerbe für mehr Effizienz sorgen.
  • Typische Bereiche ohne natürlichen Markt sind Bildung, Gesundheit und Wis­senschaft.
  • Auch in pri­vatwirtschaftlichen Unternehmen werden durch künstliche Wettbewerbe falsche Anreize gesetzt.
  • Künstliche Wettbewerbe sind nur schein­ef­fizient, weil meist sinnlose Messkri­te­rien herange­zo­gen werden.
  • Wir unterliegen der Mess­barkeit­sil­lu­sion: Qualität kann man nicht messen.
  • Werden Kreati­var­beiter anhand von Kennzahlen bewertet, bleibt die in­trin­sis­che Motivation auf der Strecke.
  • Je mehr Kriterien für die Leis­tungsmes­sung verwendet werden, desto un­durch­sichtiger ist der Prozess für die Mitarbeiter.
  • Künstliche Wettbewerbe führen zu Bürokratie und zur Produktion von Unsinn.
  • Entscheider müssen wieder Mut zu subjektiven Urteilen haben und sich weniger mit Zahlen, dafür mehr mit Inhalten beschäftigen.
 

Zusammenfassung

Markt und Wettbewerb

Wir leben in einer Mark­twirtschaft, in der der Markt dafür sorgt, dass gute Leistung belohnt und schlechte bestraft wird. Zumindest in der Theorie. In der Wirk­lichkeit funk­tion­iert der Markt nur in den wenigsten Fällen ideal. Wenn es in einem Bereich keinen oder nur einen unvollständig funk­tion­ieren­den Markt gibt, wird oft ein künstlicher Wettbewerb ins Leben gerufen. Dabei werden mehr oder weniger sinnvolle Merkmale gesucht, um Leistungen zu quan­tifizieren, die eigentlich nicht messbar sind. Daraus ergeben sich meist falsche Anreize für die Wet­tbe­werb­steil­nehmer.

„Markt und Wettbewerb sind keine siame­sis­chen Zwillinge.“

Ein his­torisches Beispiel illustriert sehr gut, welche Gefahren von künstlichen Wet­tbe­wer­ben ausgehen: Während der Kolo­nialzeit wollten die Franzosen in Hanoi der Rattenplage mit einer „Kopfprämie“ Herr werden. Die Vietnamesen bekam für jeden Rattenpelz eine Belohnung. Dieser künstliche Wettbewerb mündete aber nicht darin, dass die Stadt bald rattenfrei war, sondern hatte zur Folge, dass die Bewohner daran gingen, Ratten zu züchten, um die Prämie einzukassieren. Wis­senschaftlich ausgedrückt stand der messbare Indikator (Rattenpelze) in negativer Korrelation zur gewünschten Leistung (Dezimierung der Ratten). Ähnlich funk­tion­ieren künstliche Wettbewerbe auch heute noch.

Mark­t­ef­fizienz ist Etiket­ten­schwindel

Kaum ein ne­olib­eraler Anhänger des Marktes würde sich wohl eingestehen, dass die von Adam Smith propagierte „unsichtbare Hand“ einen religiösen Ursprung hat. Und zwar in der antiken Stoa. Die Idee ihrer Anhänger war: Egal, wie der Mensch sich entscheidet, ein göttlicher Plan sorgt dafür, dass sich alles zum Guten entwickelt. Ähnlich läuft es nach Smith auf dem Markt ab, auf dem gemäß der Theorie sowohl Produzenten als auch Konsumenten ihren jeweiligen Nutzen maximieren und es über den Preis­mech­a­nis­mus zu einer perfekten Versorgung kommt. Aber diese Vorstellung vom Markt beruht auf einer ide­al­typ­is­chen Welt, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Wettbewerb funk­tion­iert zwar meist besser als z. B. die plan­wirtschaftliche Verteilung von Gütern, aber auch er ist fehler­be­haftet und kann nicht in Bausch und Bogen seligge­sprochen werden. Leider wird der Mark­tgedanke gerne auf alle möglichen Bereiche des Lebens übertragen, in denen kein echter Markt existiert. Auf dem Gesund­heits- oder Forschungssek­tor etwa herrschen keine echten Mark­tbe­din­gun­gen. Stattdessen gibt es dort künstliche Wettbewerbe, denen das Etikett „Markt“ aufgedrückt wird. In Wahrheit handelt es sich um einen Etiket­ten­schwindel.

Die Schein­ef­fizienz künstlicher Wettbewerbe

Vor allem in den 80er Jahren herrschte in der Politik eine große Mark­te­uphorie: Politiker wie Thatcher und Reagan wollten alles dem Markt überlassen. Und wo es keinen Markt gab, musste einer geschaffen werden. Auch Thatchers Nachfolger Tony Blair und in Deutschland Gerhard Schröder machten sich das Prinzip zunutze. Mehr Wettbewerb sollte bessere Ergebnisse und Leistungen erzielen, z. B. in staatlichen In­sti­tu­tio­nen, Kliniken oder Universitäten. Oftmals ging das mit einer Pri­vatisierung ehemals staatlicher Betriebe einher, weil private Unternehmen – so die Annahme – mark­tkon­former und damit besser wirtschaften könnten. Doch anders als beim echten Markt wird beim künstlichen Wettbewerb die Nach­frage­seite, also der Kunde, gar nicht berücksichtigt. Es gibt auch keinen Preis­mech­a­nis­mus, der Angebot und Nachfrage in Einklang bringt. Stattdessen werden die Teilnehmer des Wettbewerbs in Konkurrenz zueinander gesetzt, wenn sie eine bestimmte Prämie, z. B. Forschungs­gelder, erhalten möchten. Die Teilnehmer werden versuchen, möglichst viel von der Prämie abzustauben, und kon­terkari­eren dabei den eigentlichen Zweck des Wettbewerbs.

„Allgemeingültige, exakte Gesetze erhält man in den Sozial­wis­senschaften nur, wenn man die Realität vorher wegdefiniert.“

Außerdem laufen Wettbewerbe in der Realität nie so friedlich ab, wie sie in der Theorie geplant wurden: Man kann auch Sieger sein, indem man die Konkurrenz ausbootet, ohne bessere Leistung abzuliefern. Dieses Prinzip gilt ebenso am „richtigen“ Markt und im Verdrängungskampf der Unternehmen. Die größte Gefahr künstlicher Wettbewerbe: Sie werden zum Selbstzweck. Es kommt dann nur noch auf den Wettkampf an, nicht mehr auf sinnvolle Resultate. Es regiert die Schein­ef­fizienz. Die Form verdrängt den Inhalt, und die Energie, die für Arbeit, Forschung, Erfindungen oder In­no­va­tio­nen benötigt wird, geht für den Wettkampf drauf.

Qualität kann man nicht messen

Wer einen Wettbewerb ve­r­anstal­tet, möchte einen Sieger küren. Dafür muss er Messungen anstellen. Bei manchen Sportarten ist das einfach: Den 100-Me­ter-Lauf gewinnt der Schnellste. Schnel­ligkeit ist eindeutig messbar und deshalb gibt es hier auch keinerlei Un­sicher­heiten. Aber wie bewertet man Kunstturnen oder Eiskun­st­lauf? Anhand von Noten, und die sind häufig umstritten. Ähnlich stellt sich das Problem in der Wirtschaft: Die Produktivität eines Fließband­mi­tar­beit­ers kann man messen und die Leistung entsprechend bewerten. Doch heute sind vor allem Wis­sensar­beiter gefragt, die ihr Know-how einsetzen. Es kommt nicht auf Quantität, sondern auf Qualität an – und die widersetzt sich hartnäckig jedem Versuch, sie zu messen. Eine geniale Erfindung entsteht vielleicht innerhalb weniger Minuten. Wie soll man sie mit Tausenden Seiten Forschungs­berichten vergleichen, die zu keinem vernünftigen Ergebnis führen und obendrein noch schwierig zu lesen sind?

„Falsche Ef­fizienzbe­griffe müssen genauso wie Qualitätskenn­zahlen oder -in­dika­toren aus der politischen Diskussion ver­schwinden.“

Komplexe qualitative Prozesse lassen sich schlicht nicht adäquat quan­tifizieren. Möchte man ein soziales System, z. B. eine Abteilung in einem Unternehmen, mit messbaren Kriterien ausstatten, muss man meist so gravierend in das System eingreifen, dass man es selbst verändert. Man misst schließlich etwas ganz anderes, als man ursprünglich wollte. Wird die Leistung anhand weniger Kennzahlen gemessen, werden die Mitarbeiter diese Messkri­te­rien „überop­ti­mieren“ und in der Folge ihre anderen Tätigkeiten vernachlässigen. Wählt man mehr Messkri­te­rien, die dann meistens mit einer kom­plizierten Mechanik zusam­men­wirken (z. B. Balanced Scorecard oder Bench­mark­ing), verstehen die Mitarbeiter gar nicht mehr, welche Handlung eigentlich zu welchem Ergebnis führt. Die Folge: Es gibt zwar keine negativen Anreize mehr, aber auch keine positiven. Stattdessen: eine Menge Bürokratie und viel ver­schwen­dete Arbeitszeit.

Die Mo­ti­va­tion­sil­lu­sion

Leis­tungsan­reize in Form von Prämien oder Boni sind gang und gäbe. In Unternehmen stehen die Mitarbeiter – zumindest unterhalb der obersten Hi­er­ar­chieebene – unter dem Gen­er­alver­dacht, Leis­tungsver­weigerer zu sein. Deshalb müsse man sie mit Prämien wachrütteln und mit der Angst vor Wettbewerb und Versagen gefügig machen. Das funk­tion­iert in einigen Bereichen sogar recht gut, z. B. im Außendienst. Verkäufer werden meist ausschließlich über ex­trin­sis­che Motivation (Geld, Firmenwagen, Incentives) zur Höchstleis­tung angetrieben. Wenn sie versagen, wird ihnen alles wieder weggenommen. Wie aber sieht es bei anderen Tätigkeiten aus? Ähnlich wie bei der Mess­barkeit­sil­lu­sion: Einseitige Prämien für bestimmte Erfolge motivieren nur noch dazu, genau diese definierten Prämien zu erheischen. Echte In­no­va­tio­nen kommen dabei eher selten heraus.

Wo überall Unsinn produziert wird

Werden künstliche Wettbewerbe etwa bei Wis­senschaftlern, Ärzten oder Lehrern eingeführt, wird meist innerhalb kürzester Zeit die Produktion von Unsinn außeror­dentlich gesteigert. Ein paar Beispiele:

  • Wis­senschaft: Professoren und Wis­senschaftler werden anhand der Zahl ihrer Pub­lika­tio­nen gemessen. Die Folge: Es werden belanglose Veröffentlichun­gen gesammelt, denn kaum jemand liest wirklich nach. Selbst das an sich vernünftige Beurteilungsver­fahren von Forschungs­berichten durch andere Wis­senschaftler („Peer-Review“) ist inzwischen so degeneriert, dass pub­lizierende Forscher ihre Texte absichtlich nach bestimmten Kriterien optimieren, um bloß nicht abgelehnt zu werden, z. B. indem sie strategisch bestimmte Autoren loben, die sie als Gutachter erwarten. Auch haben sich die Pub­lika­tio­nen mit drei, vier oder mehr Autoren in den letzten Jahrzehnten ver­dreifacht: Denn dadurch können Autoren innerhalb kürzerer Zeit mehr produzieren und werden öfter zitiert.
  • Bildung: In vielen Ländern wird gefordert, dass ein möglichst hoher Prozentsatz junger Menschen einen höheren Schu­la­b­schluss erreichen sollte. Die Folge: Die Stu­den­ten­quote steigt und die Qualität der Ausbildung ver­schlechtert sich. Wo früher 50 Studenten in einer Vorlesung saßen, sind es heute 500. Der Ausweg: Es werden teure Eli­te­u­ni­ver­sitäten gegründet, die sich nur wenige leisten können, und viele junge Menschen dümpeln in zweitk­las­si­gen Hochschulen vor sich hin. Ähnlich ist es mit dem Bil­dungsniveau: Der Wettbewerb um möglichst viele Universitätsabschlüsse führt dazu, dass Bachelor, Diplom und Master immer weniger wert sind und dass auch immer weniger echte Bildung vermittelt werden kann.
  • Gesund­heitswe­sen: Fall­pauschalen für die Behandlung von Krankheiten sollen dazu beitragen, dass teure Krankenhäuser wirtschaftlicher arbeiten. Je nach Diagnose steht nur ein bestimmter, gedeckelter Geldbetrag zur Verfügung. Die Folge: Patienten werden erheblich früher entlassen als vor der Einführung der Fall­pauschale, weil keine Abrechnung über die Ver­weil­dauer im Krankenhaus erfolgen darf. Allerdings hat man in den USA, wo Fall­pauschalen schon in den 80er Jahren eingeführt wurden, fest­gestellt, dass die ambulanten Nach­be­hand­lungskosten, die Rückfallquote und die Sterblichkeit zugenommen haben. Statt gleicher Qualität zu geringeren Kosten lieferte das neue System geringere Qualität zu gleichen Kosten. Krankenhäuser werden durch Fall­pauschalen zum Rosi­nen­picken animiert; es besteht die Tendenz, dass bevorzugt einfache Fälle behandelt werden. Außerdem wird der perverse Anreiz gefördert, möglichst schnell eine Diagnose zu stellen – auch wenn sie falsch ist.

Ein Leben ohne künstliche Wettbewerbe

Was kann man tun, um die perversen Anreize künstlicher Wettbewerbe zu vermeiden?

  • Die Anreize künstlicher Wettbewerbe analysieren und aufzeigen, dass sie in eine falsche Richtung weisen.
  • Betroffene zu Wort kommen lassen, denn oft werden künstliche Wettbewerbe eingeführt, ohne dass die Beteiligten gefragt werden.
  • Nicht alle Ar­beit­nehmer unter den Gen­er­alver­dacht der Faulheit stellen. Wis­senschaftler, Lehrer, Ärzte und überhaupt alle Wis­sensar­beiter werden durch ihre Arbeit selbst motiviert und nicht über die Dau­men­schrauben der Leis­tungsmes­sung.
  • Ein­tritts­bar­ri­eren erhalten. Nicht jeder darf und soll studieren. Nur so lässt sich das Bil­dungsniveau aufrechter­hal­ten und nur so lässt sich sich­er­stellen, dass tatsächlich fähige und motivierte Menschen ausgebildet werden.
  • Akzeptieren, dass Qualität nicht messbar ist. Wenn man will, darf man mithilfe von Kennzahlen Zusatz­in­for­ma­tio­nen bere­it­stellen, diese sollten aber nicht mit der Qualität per se gle­ichge­setzt werden.
  • Mut zu subjektiven Urteilen haben. Wenn nicht alles messbar ist, müssen Ärzte, Lehrer, Politiker und Unternehmer auch wieder einmal subjektiv beurteilen, was die beste Therapie, welche die beste Bildung oder wer der beste Mitarbeiter ist. Das bedeutet natürlich, dass sie sich wieder mehr mit Inhalten und Menschen beschäftigen als mit Zahlen.

Über den Autor

Mathias Binswanger ist Professor für Volk­swirtschaft­slehre an der Fach­hochschule Solothurn und schreibt regelmäßig für Die Weltwoche.