Die Entdeckung der intrinsischen Motivation
Die biologischen Antriebe Hunger, Durst und Sex sichern seit jeher unser Überleben. Um Konflikte mit unseren Mitmenschen zu vermeiden, wurde es im Laufe der Jahrtausende immer wichtiger, die Triebe des Motivationssystems 1.0 zu zügeln. Belohnungen und Bestrafungen trugen dazu bei, dass wir uns gesellschaftlich konform verhielten. Seit Beginn der industriellen Revolution hat uns dieses Motivationssystem 2.0 sogar einen enormen wirtschaftlichen Fortschritt beschert.
„Niemand führt die ,Wikipedianer‘. Niemand sitzt herum und macht sich Gedanken, wie man die Mitarbeiter ,motivieren‘ könnte.“
Doch gegen Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckten Wissenschaftler, dass extrinsische Anreize oft nur kurzfristig wirken, so wie ein Koffeinschub mit anschließendem Leistungsabfall. Langfristigen Nutzen bringt vielmehr das, was „intrinsische Motivation“ genannt wird: Man zieht eine Befriedigung aus der Tätigkeit selbst. Leider klafft weiterhin ein Graben zwischen dem, was die Wissenschaft weiß, und dem, was die Wirtschaft tut. Das Ergebnis: Das Motivationssystem 2.0 wurde immer anfälliger für Fehler. In den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts stürzte es gleich mehrmals ab. Es ist nämlich zunehmend inkompatibel damit,
- wie wir organisieren, was wir tun: Ob Wikipedia oder Open-Source-Software – Menschen, die für Bewegungen und Produkte wie diese oder für sozial ausgerichtete Unternehmen arbeiten, wie es sie immer mehr gibt, sind alle intrinsisch motiviert.
- wie wir darüber denken, was wir tun: Die Verhaltensökonomie hat das Bild vom rational handelnden Wirtschaftsmenschen begraben. Der Wunsch nach Fair Play, Rachegelüste oder eine Verlustangst führen dazu, dass wir grob irrational handeln. Warum sollten wir nicht auch aus purer Lust auf ein sinnvolles Leben ökonomische Verluste in Kauf nehmen?
- wie wir tun, was wir tun: Die meisten neuen Jobs entstehen heute in Bereichen, in denen es darum geht, etwas völlig Neues zu schaffen. Und gerade hier schadet extrinsische Motivation mehr, als sie nutzt. Denn kreative Arbeit macht Spaß – ein Konzept, das den Verfechtern von Zuckerbrot und Peitsche völlig fremd ist.
Zuckerbrot mit fadem Nachgeschmack
Vielleicht kennen Sie die berühmte Szene aus Tom Sawyers Abenteuer von Mark Twain, in der Tom seine Freunde dazu bringt, den Zaun seiner Tante anzustreichen, indem er die lästige Pflicht als Mordsgaudi darstellt. Hätte er das auch erreicht, wenn er ihnen Geld geboten hätte? Natürlich nicht. Belohnungen verderben uns den Spaß, weil sie eine interessante Aufgabe in Arbeit verwandeln. Sie erfordern, dass man wie bei einer Droge ständig die Dosis erhöht, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Und selbst das ist keine Garantie, denn erstaunlicherweise sinken unsere Leistungen sogar, je mehr uns geboten wird. Das gilt insbesondere für kreative Tätigkeiten, die Erfindungsgeist und flexibles Problemlösen voraussetzen.
„Das Vermengen von Belohnungen mit grundsätzlich interessanten, kreativen oder noblen Aufgaben ist ein sehr gefährliches Spiel.“
Auch wenn es darum geht, Gutes zu tun, wirken extrinsische Belohnungen wie Gift: Im Rahmen einer schwedischen Studie zeigten sich deutlich weniger Frauen dazu bereit, Blut zu spenden, wenn sie dafür bezahlt wurden. Welchen Schaden kurzfristig angelegte Belohnungssysteme anrichten können, bewies nicht zuletzt die jüngste Wirtschaftskrise: Käufer wollten Häuser als Goldesel nutzen, Investmentbanker Schrottpapiere verkaufen und Politiker mithilfe von kreditfinanzierten Wachstumszahlen wiedergewählt werden. An die langfristigen Folgen ihres Handelns dachte niemand.
„Die Natur einer Wirtschaftsblase: Was anfänglich als irrationaler Überschwang erscheint, erweist sich letztendlich als schlimmer Fall von extrinsisch motivierter Kurzsichtigkeit.“
Natürlich sind extrinsische Belohnungen nicht grundsätzlich schlecht: Stellen Sie sich vor, Sie leiten eine gemeinnützige Organisation und müssen ad hoc eine große Versandaktion starten. Die Arbeit ist stupide, und keiner opfert gerne sein Wochenende dafür. Es schadet nicht, in so einem Moment eine Büroparty oder einen Akkordlohn für jeden fertigen Brief in Aussicht zu stellen. Begründen Sie bei routinemäßigen, langweiligen Aufgaben, warum sie notwendig sind. Lassen Sie Ihren Mitarbeitern bei der Ausführung größtmögliche Freiheiten. Und wandeln Sie bei kreativeren Arbeiten die „Wenn-dann-Anreize“ in „Nun-da-Belohnungen“ um: Spendieren Sie nach vollendeter Arbeit ein gemeinsames Essen oder einen tollen Ausflug. Geben Sie positives, hilfreiches Feedback, in dem Sie genau erklären, was Sie an der gefundenen Lösung so gelungen finden.
Selbstbestimmung
Das Bedürfnis nach Kompetenz, Selbstbestimmung und der Verbundenheit mit anderen ist uns in die Wiege gelegt. Das ist die simple Erkenntnis der Selbstbestimmungstheorie und zugleich die Grundlage des Motivationssystems 3.0. Leider verkümmert dieser Drang irgendwann im Lauf der Kindheit: Selbstbestimmtes Verhalten wird unterdrückt und wegerzogen. Doch es lässt sich wiedererwecken.
„Motivation 2.0 basiert auf der Gewinnmaximierung. Motivation 3.0 lehnt Profite nicht ab, betont jedoch gleichermaßen die Sinnmaximierung.“
Ein Beispiel dafür ist ROWE (Results-Only Work Environment). In diesem Arbeitsmodell zählt nicht, wann jemand im Büro erscheint, wann er Feierabend macht und ob er überhaupt anwesend ist. Entscheidend ist, dass er seine Aufgaben erledigt. In den Unternehmen, die das Konzept anwenden, nehmen Produktivität und Mitarbeiterzufriedenheit dramatisch zu. Niemand muss sich mehr dafür entschuldigen, früh am Nachmittag das Büro zu verlassen, weil er der Tochter beim Fußballspiel zusehen will. Außerdem wird niemand für mehr Gehalt zur Konkurrenz wechseln, da ihm maximale Selbstbestimmung ungleich mehr wert ist. Dieser Begriff von Freiheit hat jedoch nichts mit der Unabhängigkeit nach Cowboymanier zu tun. Schließlich ist in einem Unternehmen jeder von der Arbeit des anderen abhängig. Vielmehr dürfen Mitarbeiter über die folgenden vier Dinge selbst bestimmen:
- Aufgabe: Das amerikanische Unternehmen 3M war eines der ersten, das Mitarbeitern erlaubte, 15 % ihrer Zeit für Projekte ihrer Wahl zu verwenden. In dieser Oase der Selbstbestimmung wurden die berühmten gelben Post-its erfunden. Und über die Hälfte aller Google-Produkte werden in der so genannten „20%-Zeit“ entwickelt.
- Zeit: Die abrechenbare Stunde und fixe Arbeitszeiten sind ein Überbleibsel aus dem Motivation-2.0-Zeitalter. Bei nicht routinemäßigen Aufgaben besteht zwischen der dafür benötigten Arbeitszeit und der Qualität des Ergebnisses nämlich keineswegs ein linearer Zusammenhang.
- Technik: Das Online-Schuhunternehmen Zappos schreibt Mitarbeitern nicht vor, wie, wo und mit welchem Zeitlimit sie Kundengespräche zu führen haben. Sie können dies z. B. von zu Hause aus tun. Das Ergebnis: Die Mitarbeiter sind zufriedener und geben ihr gutes Gefühl an die Kunden weiter.
- Team: Mitarbeiter entscheiden selbst, mit wem sie zusammenarbeiten. In der Biohandelskette Whole Foods etwa arbeiten Jobanwärter 30 Tage lang auf Probe. Am Ende bestimmt nicht etwa der Bereichsleiter, sondern das Team in der jeweiligen Abteilung, ob der oder die Neue eingestellt wird.
Perfektionierung
Pflichterfüllung war die Standardeinstellung von Motivation 2.0. Die Leidenschaft, seine Sache immer besser zu machen, ist diejenige von 3.0. Perfektionierung beginnt immer mit einem Flow-Moment, dem optimalen Ausreizen der eigenen Fähigkeiten. Im Flow-Zustand haben wir unser Ziel klar vor Augen. Was wir tun müssen und erreichen können, wird für einen kurzen Moment eins und löst ein enormes Glücksgefühl aus. Ideal hierfür sind Aufgaben, die nicht zu schwer und nicht zu leicht sind, uns also weder unter- noch überfordern. Ohne Flow zu erleben, können Sie sich nicht perfektionieren.
„Wir wissen, dass menschliche Wesen nicht nur kleinere, langsamere, besser riechende Pferde sind, die der vorgehaltenen Karotte nachgaloppieren.“
Doch ein kurzes Glücksgefühl allein genügt nicht. Sie müssen sich langfristige Lernziele setzen, die sich von den reinen Leistungszielen der extrinsischen Motivation unterscheiden. Eine Eins in der Französischarbeit zu bekommen ist ein Leistungsziel. Die französische Sprache zu meistern ein Lernziel. Begabung spielt oft nur eine untergeordnete Rolle. Hinter dem, was viele ehrfürchtig als Naturtalent bezeichnen, stecken meist Ausdauer und der Wille, sich für ein Ziel zu quälen. Echte Perfektionisten wissen, dass ihre Mühen die Form einer Asymptote annehmen: Sie werden ihr Ziel nie ganz erreichen, sondern sich ihm nur so weit wie möglich annähern.
Sinnerfüllung
Immer mehr Menschen wünschen sich, etwas zu erreichen, das größer und dauerhafter ist als sie selbst. Vielen stellt sich erst kurz vor der Pensionierung die Frage nach dem tieferen Sinn ihres Tuns – und bald werden die Babyboomer und damit sehr viele Menschen pensioniert. Aber auch die als Generation Y bekannten jungen Menschen wünschen sich, etwas zu einer besseren Welt beizutragen. Ein Beispiel hierfür ist das Unternehmen Toms Shoes, das für jeden modischen Sportschuh, den es online verkauft, ein neues Paar Schuhe an ein Kind in einem Entwicklungsland schickt.
„Schlussendlich ist das Ausbalancieren der Unausgeglichenheit und das Hinüberführen unseres Verständnisses von Motivation ins 21. Jahrhundert mehr als ein entscheidender Schritt im Geschäftsleben. Es ist eine Bestätigung unseres Menschseins.“
Toms ist nur eines von vielen in jüngster Zeit gegründeten Unternehmen, die sich in erster Linie der Sinnmaximierung verschreiben und erst dann dem Profit. Machen Sie den „Pronomen-Test“, um herauszufinden, ob Ihre Mitarbeiter einen tieferen Sinn in ihrer Tätigkeit sehen: Reden sie in der dritten Person von der Firma oder verwenden sie das Wörtchen „wir“? 3.0-Firmen sind „Wir-Unternehmen“. Ermutigen Sie Ihre Mitarbeiter, sich für die Sinnmaximierung einzusetzen. Lassen Sie sie z. B. einen Teil des Budgets für einen guten Zweck ihrer Wahl einsetzen.
So motivieren Sie Ihre Mitarbeiter, sich selbst und Ihre Kinder
Jeder Mensch strebt nach Selbstbestimmung, Perfektionierung und Sinnerfüllung. Die Zeit für ein Upgrade überkommener Motivationssysteme ist reif. Hier einige Vorschläge:
- Selbstbestimmungsaudit: Befragen Sie Ihre Mitarbeiter, wie selbstbestimmt sie arbeiten, und verändern Sie ggf. die Arbeitsorganisation.
- Kontrollverzicht: Lassen Sie Ihre Leute ihre eigenen Ziele setzen. Verzichten Sie auf eine befehlende Sprache. Halten Sie Bürostunden ab: Anstatt Mitarbeiter herbeizuzitieren, lassen Sie sie zu Ihnen kommen, wenn sie etwas auf dem Herzen haben.
- Aufgabenverteilung im Team: Mitarbeiter sollten einander anregen, nicht gegeneinander kämpfen. Wenn sich jemand unterfordert fühlt, sorgen Sie dafür, dass er anderen seine Fähigkeiten beibringt.
- FedEx-Tag: An diesem Tag dürfen Mitarbeiter arbeiten, wann, woran und mit wem sie wollen. Einzige Bedingung: Sie müssen am nächsten Tag (wie bei einer FedEx-Lieferung) eine Idee, einen Produktprototyp oder einen verbesserten Prozessablauf abliefern.
- Entlohnung 3.0: Zahlen Sie Ihren Mitarbeitern ein etwas höheres Basisgehalt und reduzieren Sie dafür erfolgsorientierte Prämiensysteme. Wenn Sie Leistungsmessungen durchführen, sollten diese nachhaltiges Verhalten aufspüren, z. B. anhand von Zweijahres- statt Quartalsumsätzen. Ersetzen Sie „Wenn-dann-Karotten“ durch „Nun-da-Aufmerksamkeiten“.
- Flow-Test: Lassen Sie sich 40 Mal in der Woche nach einem Zufallsmuster vom Handy oder Computer erinnern und notieren Sie, was Sie gerade machen und wie Sie sich fühlen. Maximieren Sie daraufhin Ihre Flow-Momente und minimieren Sie alle anderen.
- Sabbatical: Nehmen Sie sich eine längere Auszeit vom Job.
- Zielgerichtetes Üben: Wiederholen Sie eine Sache so lange, bis sie sitzt. Suchen Sie kritisches Feedback und arbeiten Sie gezielt an Ihren Schwächen.
- Erziehung ohne Bestechung: Zahlen Sie ein angemessenes Taschengeld und lassen Sie Ihre Kinder im Haushalt helfen – aber halten Sie beides streng getrennt. Wenn Sie Ihre Kinder einmal entlohnen, werden sie nie mehr freiwillig einen Finger für Sie rühren.
- Richtiges Loben: Einsatz und Strategie sind lobenswert, Intelligenz nicht. Ihr Kind wird sich ansonsten auf seinen Lorbeeren ausruhen und keine Herausforderungen mehr suchen.