Die Logik des Scheiterns
Warum scheitern erfolgreiche Unternehmen? Weshalb verschlief der Branchenprimus Xerox die Entwicklung hin zu Tischkopiergeräten, und aus welchem Grund sprangen die Musiklabels nicht auf den Downloadtrend auf? Auf dem Zenit ihres Erfolges trafen diese und unzählige vergleichbare Unternehmen Entscheidungen, die ihren Niedergang besiegelten. Die Logik des Scheiterns erschließt sich aus drei Faktoren:
- Disruptive Technologien: Sie bringen neue Produkte für noch zu erfindende Märkte hervor. Evolutionäre Technologien dagegen verbessern Produkte für die Stammkundschaft.
- Die Technologie überholt das Marktbedürfnis: Im Eifer, hochwertigere Produkte zu entwickeln, geht der Blick für die Erwartungen und den Geldbeutel der Kunden verloren.
- Rationale Investitionen: Mit disruptiven Technologien ist anfangs kaum Geld zu verdienen. Aus der Sicht einer etablierten Firma wäre es irrational, auf sie zu setzen.
Warten, bis es fast zu spät ist
Die Geschichte der Computertechnologie beweist: Etablierte Unternehmen haben bei evolutionären Innovationen die Nase vorn. So konnten in den 1980ern die Hersteller von Minicomputern mit 8-Zoll-Laufwerken weit bessere Konditionen in Bezug auf Kapazität, Kosten pro Megabyte Speicher und Zugriffszeit liefern. Die neuen Desktop-Computer mit ihren 5¼-Zoll-Laufwerken waren in all diesen Punkten unterlegen. Aber: Sie waren 1000 $ billiger pro Stück und wogen weniger als ein Drittel der herkömmlichen Geräte – eine klassische disruptive Innovation. Weshalb begannen die erfolgreichen Hersteller von Minicomputern nicht einfach, auch Desktops herzustellen? An mangelndem technischen Know-how lag es nicht. Nein, sie versäumten den Einstieg, weil ihre Stammkunden kein Interesse daran hatten. Die Firmen waren mit dem einen Ohr dicht am Kunden – und auf dem anderen taub.
„So wie die ersten Flugversuche des Menschen scheiterten, weil man gegen die Naturgesetze ankämpfte, scheitern Führungskräfte an disruptiven Innovationen, wenn sie gegen diese Prinzipien ankämpften.“
Auch der legendäre Kamerahersteller Leica verkannte die Zeichen der Zeit. Noch 1995 konnte die Firma die Nachfrage nach der Kultkamera kaum erfüllen. Zehn Jahre später stand das Unternehmen vor dem Abgrund. Die Macher der elitären Luxuskamera hatten die Digitaltechnik unterschätzt. Mit dem Massenmarkt der Digitalkameras, die der analogen Fotografie in Sachen Bildqualität lange nicht das Wasser reichen konnten, wollten sie nichts zu tun haben. Auf einer Fotomesse hefteten sich Leica-Manager stolz Buttons mit der Aufschrift an die Brust: „Ich bin ein Filmdinosaurier.“ Sie glaubten, die digitale Revolution aussitzen zu können. 2006 kam dann die erzwungene Wende: Das Unternehmen schaltete vollständig auf das digitale Premiumsegment um.
Werte unter Innovationsdruck
Das Wertesystem eines Produkts bildet die relative Bedeutung bestimmter Eigenschaften ab und legt fest, zu welchen Kosten sich diese produzieren und vermarkten lassen. Ein Hersteller von Minicomputern, der an vergleichsweise hohe Bruttogewinnmargen in seinem Kundensegment gewöhnt ist, wird sich nur ungern auf die im Desktopsegment üblichen niedrigeren Margen einlassen. Die disruptive Innovation fügt sich nicht in sein bestehendes Wertesystem ein – sie wirft es über den Haufen. Paradoxerweise sind es oft die Entwickler der etablierten Unternehmen, die ohne Auftrag oder Budget disruptive Technologien erfinden. Die erfolgreiche Vermarktung aber gelingt dann den Neulingen der Branche. Warum? Weil die Marktforscher der etablierten Unternehmen sich auf den bestehenden Kundenstamm konzentrieren und so zum irrigen Schluss kommen, dass die Nachfrage fehle. Für die Branchenführer geht das so lange gut, bis die neuen Produkte die alten überholt haben. In der Digitalfotografie war das 2002 der Fall, als digitale Sensoren eine bessere Auflösung und Farbe erreichten als der traditionelle 35-Millimeter-Film.
Die Premiumfalle
Wertesysteme sind flexibel nach oben, also in Richtung höherer Preis- und Qualitätssegmente mit ihren deutlich größeren Gewinnspannen. Aber der Weg nach unten, in die Low-End-Märkte, ist etablierten Unternehmen verbaut, allein weil dort deren hohe Fixkosten nicht gedeckt würden. Die Krux an der Sache: Die Neueinsteiger, die mit disruptiven Technologien zunächst niedrigpreisige Marktsegmente bedienen, streben irgendwann nach oben und machen den Etablierten Konkurrenz. Dort, wo sie vorher positioniert waren, entsteht ein Vakuum, das neue, disruptive Technologien anzieht, und die Spirale dreht sich weiter. Stellen Sie sich den Mitarbeiter eines Branchenführers vor, der seinen Vorgesetzten von der Einführung eines innovativen Niedrigpreisprodukts überzeugen will. Die erste Frage des Vorgesetzten lautet: Gibt es dafür schon einen Markt? Und die zweite: Wie erreichen wir die nötigen Margen? Eine Entscheidung für das Risiko wäre irrational, die Gefahr des Scheiterns groß. Aus Sicht der Führungskraft ist es am vernünftigsten, die ausgetretenen Pfade zu optimieren. Alles andere könnte seine Karriere gefährden.
Wege aus dem Innovationsdilemma
Die Theorie der Ressourcenabhängigkeit besagt, dass Kunden und Investoren die Handlungsfreiheit von Unternehmen einschränken, weil sie diesen die Mittel zum Überleben zur Verfügung stellen. Was können Führungskräfte tun, um diese Abhängigkeit zu brechen? Neue Produkte und Ideen gegen alle Widerstände im Unternehmen und bei den Kunden durchzuboxen, wäre eine Option. Sie ähnelt jedoch den ersten Flugversuchen der Menschen, die sich Federn an die Kleider hefteten und damit gegen die Naturgesetze anzukämpfen versuchten. Doch erst als sie sich diese zunutze machten, hoben sie wirklich ab. Genauso müssen Sie vorgehen, um den Wandel erfolgreich zu managen:
- Gründen Sie neue Organisationseinheiten für Neukunden, die sich einzig um Projekte zur Entwicklung und Vermarktung disruptiver Technologien kümmern. Die Einheiten sollten nicht zu groß sein, sodass bereits kleine Fortschritte als Erfolge gefeiert werden können.
- Identifizieren Sie mithilfe von Versuch-und-Irrtum-Prozessen frühzeitig Fehler im Produktdesign und passen Sie es Schritt für Schritt an die Kundenbedürfnisse an.
- Stellen Sie für die disruptiven Technologien Ressourcen des Gesamtunternehmens zur Verfügung, entwickeln Sie aber ein unabhängiges Werte- und Prozesssystem.
- Suchen Sie aktiv nach neuen Märkten, anstatt darauf zu warten, dass sich bestehende Kunden für die Innovationen interessieren.
Klein, aber fein
Innovationsführerschaft ist bei disruptiven Technologien erfolgsentscheidend. Allerdings stehen Manager großer Unternehmen vor einem Wachstumsdilemma: Sie müssen ihre Wachstumsrate halten oder sogar steigern, damit die Aktienkurse weiter nach oben gehen. Kleine Märkte bieten nicht genug Volumen, als dass diese Erwartungen erfüllt werden könnten. Viele Unternehmen warten deshalb, bis ein neuer Markt sich so weit entwickelt hat, dass er für sie interessant ist. Man kann auch sagen: bis es zu spät ist. Oder aber sie investieren von Anfang an Unmengen an Geld und versuchen dann, ihre Kunden zum Kauf des neuen Produkts zu überreden. Diesen Weg beschritt Apple 1993 bei der Vermarktung des Newton, des ersten Personal Digital Assistant (PDA) – ohne Erfolg. Der Newton war ein wirtschaftlicher Flop. Das Konzept „Reverse Innovation“ von General Electrics hingegen ist ein Beispiel für die erfolgreiche Überwindung des Wachstumsdilemmas großer Konzerne: Im Zuge dieses Projekts lässt GE kleinere und billigere medizinische Geräte für Entwicklungs- und Schwellenländer durch eigenständige Organisationseinheiten vor Ort entwickeln, die die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren.
Warum zu viel Leistung schadet
Disruptive Innovationen können in ihren Kernmerkmalen den ausgereiften, nach und nach verbesserten Produkten der Hauptanbieter nicht das Wasser reichen. Allerdings verändern sie die Grundlagen des Wettbewerbs, da sie oft preisgünstiger, benutzerfreundlicher und zuverlässiger sind. Finden Sie heraus, was ein disruptives Produkt für Ihre Stammkunden uninteressant macht. Meist sind das genau die Merkmale, die es in noch unentdeckten Märkten zum Verkaufshit werden lassen. Beispiel Google Docs: Das Cloud-Computing-Programm ermöglicht die webbasierte Nutzung und Bearbeitung von Dokumenten. Es bietet deutlich weniger Funktionalitäten als die neueste Version von Microsoft Word. Allerdings wird geschätzt, dass 90 % der Word-Nutzer ohnehin nur 10 % aller Möglichkeiten des verbreiteten Textverarbeitungsprogramms kennen. Warum sollten sie nicht auf das unkompliziertere und billigere Google-Produkt umsteigen? Zunächst gab sich Microsoft gelassen. Dessen Hauptkunden – große Unternehmen, mit denen es eine Bruttogewinnmarge von 80 % erzielt – interessierten sich nicht dafür. Die Frage ist nur: Wie lange noch? Denn auch Google Docs verbessert sich kontinuierlich hinsichtlich Sicherheit und Funktionalität. Lange hat Microsoft abgewartet und schließlich doch reagiert: Ab 2012 sollen 90 % aller Entwickler im Unternehmen an Cloud-Computing-Technologien arbeiten.
Ressourcen, Prozesse, Werte
Eine Organisation ist nicht automatisch so gut wie die Summe ihrer Mitarbeiter. Um disruptive Innovationen erfolgreich zu meistern, muss sich Ihr Unternehmen als Ganzes verändern. Angenommen, Sie sind in Ihrem Bereich führend. Im Unternehmen gibt es ausreichend Ressourcen, also Know-how und Kapital, um eine disruptive Innovation einzuführen. Aber sind Sie mit den optimalen Produktionsprozessen vertraut? Könnte es lohnend sein, Komponenten einzukaufen, statt sie selbst herzustellen? Bisher lehnten Sie Neueinführungen, die weniger als einen bestimmten Mindestgewinn versprachen, aufgrund der hohen Fixkosten im Unternehmen ab. Passen das neue Produkt und der anvisierte Markt zu diesen Werten? Wenn nicht, haben Sie drei Möglichkeiten: Sie können ein neues Unternehmen hinzukaufen, den so gut wie aussichtslosen Versuch unternehmen, die eigene Firma von innen heraus zu reformieren, oder aber eine unabhängige Unternehmenseinheit gründen. Wenn Sie sich für den Kauf entscheiden, analysieren Sie die Stärken des neuen Unternehmens. Sind es seine Prozesse und Werte, dann wäre eine Integration in den Mutterkonzern schädlich, weil diese nur verwässert würden. Sind es hingegen die Ressourcen, dann können Sie von einer Integration profitieren. Die Gründung einer neuen Organisationseinheit ist dann optimal, wenn der neue Markt neue Kostenstrukturen erfordert und wenn die erwarteten Wachstumsaussichten für Ihr Unternehmen zu niedrig sind.
Pioniere in neuen Märkten
Wie aber sollen Manager die Chancen disruptiver Technologien bewerten, wenn ihre gesamte Ausbildung und Erfahrung auf evolutionären Neuerungen beruht? Ein Beispiel für die erfolgreiche Eroberung eines neuen Marktes ist der japanische Motorradhersteller Honda. 1959 entwickelten seine Ingenieure ein schnelles, leistungsstarkes Straßenmotorrad speziell für den amerikanischen Markt – und scheiterten damit grandios. Die japanischen Honda-Vertriebler selbst waren mit den in ihrer Heimat beliebten „Supercubs“ unterwegs, kleinen, wendigen und preisgünstigen Maschinen, die sich auch abseits der Straße bestens bewährten. Einige Amerikaner wurden darauf aufmerksam und fragten, wo sie diese Geländemaschinen bekommen könnten. Man war durch Zufall auf eine Goldmine gestoßen. Hondas Erfolg im zweiten Anlauf beweist: Beim Aufspüren neuer Märkte müssen Sie nicht unbedingt auf Anhieb die richtige Strategie finden. Verschießen Sie nicht alles Pulver auf einmal und zeigen Sie Mut zur rechtzeitigen Umkehr. Und: Beobachten Sie die Kunden bei der Anwendung von neuen Produkten, statt sie nach ihren Bedürfnissen zu fragen.