Das Biotop Brüssel
Die in der EU zusammengefassten 27 europäischen Staaten bilden mit ihren fast 500 Millionen Einwohnern und ihrem sehr hohen Lebensstandard den größten Binnenmarkt der Welt – das hat schon imperiale Dimensionen. Die Institution EU hat ihren Hauptsitz in Brüssel rund um die Place Schuman. Hier geht es manchmal zu wie in einem Dorf: Jeder kennt jeden oder will zumindest jeden kennen lernen. Rund um die Place Schuman arbeitet die Mehrzahl der 35 000 EU-Beamten, außerdem tummeln sich hier auf engstem Raum Zehntausende von Lobbyisten und Journalisten.
„Europas Lieblingsinstrument ist die Lupe, wo es ein Fernglas sein müsste.“
Diese Welt ist ein ganz eigenes Biotop intensiven Netzwerkens, in dem man viele elitäre Allüren und wenig Bodenhaftung beobachten kann. Hier werden 1000 kleine Interessen mit dem Vergrößerungsglas wahrgenommen, die großen Ziele aber oft aus dem Blickfeld verloren. Nicht so sehr in Deutschland, wohl aber in vielen anderen Ländern der EU wird das Treiben in Brüssel von vornherein sehr skeptisch beurteilt. Kein Wunder: Keiner der Kommissare oder Generaldirektoren – die oberste Führungsebene der EU-Kommission – ist vom Volk gewählt.
Die Brüsseler Gesetzgebungsmaschine
Über 80 % der zwischen 1998 und 2004 in Deutschland erlassenen Gesetze und Rechtsverordnungen haben ihren Ursprung in Brüssel. Hierbei handelt es sich überwiegend um Agrarmarktregelungen sowie Industrie- und andere Normierungen, also um technische Regelungen, die der Harmonisierung des Binnenmarktes dienen. Die vitalen und konfliktträchtigen Bereiche etwa der Steuer-, Familien- oder Bildungspolitik der Nationen werden von Brüssel dagegen kaum berührt. Andererseits entfalten die hohen Umwelt- und Sicherheitsstandards der EU durchaus eine Wirkung nach außen. Zum Beispiel müssen sich auch chinesische Hersteller von Spielsachen an diese Vorgaben halten, wenn sie in den europäischen Binnenmarkt importieren wollen. Brüssel zwang auch schon Microsoft unter das europäische Wettbewerbsrecht.
„Weil es politisch einfacher ist, EU-weit die Glühbirne oder Plastiktüten zu verbieten als für echten, nationenübergreifenden Wettbewerb auf dem Energiemarkt zu sorgen, tut die EU das Erstere und unterlässt das Letztere.“
Die Liste der Brüsseler Regelungsfelder ist endlos. Sie betrifft beispielsweise Traktorensitze, Baubeton, Gemüse, Arbeitskleidung, rollwiderstandsarme Autoreifen, Garantien beim Autokauf, Rechtsschutz im Flugverkehr, den Abstand von Straßenlaternen, Dezibelstärken bei MP3-Playern, Roaming-Gebühren von Handys oder die Prävention von Verletzungen durch Nadelspitzen in Krankenhäusern. Das umstrittene Verbot herkömmlicher Glühbirnen entstand aus einer eher beiläufigen Initiative des damaligen niedersächsischen Umweltministers Sigmar Gabriel. Es diente den hehren Klimaschutzzielen der EU, schuf aber ein massives Quecksilberentsorgungsproblem.
Die Komitees und Ratsgruppen
Eine Regelungsinitiative in Brüssel geht entweder vom Rat aus – d. h. die Fachminister oder die Staatschefs erteilen der Kommission den Auftrag, eine Richtlinie zu erarbeiten –, oder die Kommission entwickelt eine Regelungsidee. Oder aber ein angeblicher oder wirklicher Regelungsbedarf wird von außen an die Kommission herangetragen, geprüft und ggf. weiterverarbeitet.
„So groß die Attraktivität von außen erscheint, so kleinmütig tickt Madame Europa.“
In ad hoc gebildeten Ausschüssen, den Komitees, werden möglichst viele Interessengruppen und Fachleute einbezogen und angehört. Dies dient der Absicherung etwaiger Risiken und Nebenwirkungen der beabsichtigten Regelung nach allen Seiten, nicht zuletzt bezüglich rechtlicher Einwände. Hier ist der Ort für die Vergabe aufwändiger Gutachten und Studien. Bei der Glühlampenabschaffung z. B. hatte man zwar die mögliche gesundheitsschädliche Wirkung der neuen Kompaktleuchtstofflampen auf autistische Kinder abgeklärt, nicht aber das Entsorgungsproblem wegen des Quecksilbers.
„Der Reformvertrag hat so viel Gesetzgebungsmacht auf eine nicht gewählte Elite von Beamten übertragen wie kein anderes völkerrechtliches Abkommen vor ihm.“
Jedes deutsche Fachministerium nimmt an der 170 Mitarbeiter zählenden Ständigen Vertretung Deutschlands bei der EU teil. Auf Diplomatenebene werden, entsprechend den Weisungen aus den Hauptstädten, die formulierten Regelungsvorschläge zwischen den Staaten erörtert und verhandelt. Es gibt rund 180 solcher Ratsarbeitsgruppen. In jeder sind 27 Nationen beteiligt; hinzu kommen die Vertreter der Kommission. Alles muss gedolmetscht werden. Die räumlichen Verhältnisse sind extrem beengt.
„Es gibt im EU-Parlament viel zu viel Streit über die Ausgestaltung von Harmonisierungsgesetzen und viel zu wenig Streit darüber, ob dieses oder jenes Harmonisierungsgesetz wirklich notwendig ist.“
Wie auf einem Diplomatenkongress wird konsens- und kompromissorientiert über Normen verhandelt. Aber sie werden nicht wie in einem Parlament kontrovers erörtert. Falls auf dieser Ebene keine Einigung erzielt wird, verhandeln die Fachminister, notfalls die Staatschefs persönlich. Erst dann hat das Regelungsproblem überhaupt eine Chance, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Aber auch auf dieser Ebene besteht das Brüsseler Gesetzgebungsverfahren vorwiegend im Verhandeln. Weil die Brüsseler Ratsgruppengespräche mittlerweile im Internet verfolgt werden können, haben sich die entscheidenden Gespräche auf die Flure vor den Sitzungszimmern verlagert.
Das Kleine zu groß, das Große zu klein
Bei der Verfolgung des Ziels der Binnenmarktharmonisierung widmet sich die EU also viel Kleinem zu stark. Umgekehrt wird aber auch Großes zu marginal behandelt. Nach den Verschiebungen der weltpolitischen Plattentektonik um 1990 sind an den östlichen Rändern der EU nicht nur neue Staaten, sondern auch bestimmte Erwartungen hinsichtlich der Union entstanden. Länder wie Georgien mit seinem Kaukasuskonflikt oder die Ukraine mit ihrer starken russischen Minderheit stehen unter massivem russischen Einfluss und erhalten aus der EU keine eindeutigen Signale, wohin sie sich orientieren sollen.
„Das Europaparlament bildet kaum eine innere Opposition aus, sondern es tritt vor allem als geschlossene Opposition nach außen auf.“
Dabei sind hier Sicherheits- wie Wirtschaftsinteressen der EU unmittelbar berührt. Hier wären Märkte zu erschließen, freiheitliche und rechtsstaatliche Prinzipien, die Ideale der EU, zu unterstützen und umgekehrt wäre die Rohstoffversorgung, beispielsweise mit Gas, zu sichern. Mit den Ländern rund um das Schwarze Meer werden der kleine Grenzverkehr und der kulturelle Austausch geregelt, während eine eigene Ölförderung oder der Bau von Pipelines nicht vorangebracht wird. Mit der Türkei wird ohne Ende verhandelt. Der Barcelona-Prozess, 1995 von der EU angestoßen, und die Mittelmeer-Union, 2008 von Frankreich mit großem Tamtam initiiert, um die südlichen Mittelmeerländer an Europa zu binden, sind schlichtweg versandet.
Das Weiche zu hart, das Harte zu weich
Auf anderen Betätigungsfeldern der EU wird Weiches zu hart angefasst. So werden im Europaparlament etwa Resolutionen zu Themen wie „Zirkus als Teil der europäischen Kultur“ oder „Die Lage in Ostjerusalem“ beschlossen. Politisch weniger bedeutsame Fragen werden da mit großem Aufwand behandelt.
„Für das Europaparlament ist es so einfach, als moralisches Schwergewicht aufzutreten, weil es ein politisches Leichtgewicht ist.“
Das Europaparlament, wegen seiner beiden Sitze in Brüssel und Straßburg (eine Woche pro Monat) eine übermäßig teure Angelegenheit, erlebte immerhin beim Abschmettern des SWIFT-Abkommens, das die Kommission mit den USA ausgehandelt hatte, eine Sternstunde. Das war ein fraktionsübergreifendes Votum, eine Opposition gegen die Kommission. In der Regel ist das Haus allerdings auf ähnliche Weise konsensorientiert wie das gesamte Brüsseler Klima. Harte Kontroversen finden nicht statt.
„Doch das harte Thema der Finanzaufsicht mit der gebotenen Härte anzugehen, dafür fehlte dem zuständigen Binnenmarktkommissar wie auch seinem Kommissionspräsidenten schlicht die Entschlossenheit.“
Die mangelnde Finanzaufsicht im Vorfeld der Subprime-Krise und das Zudrücken beider Augen angesichts der jahrelangen Haushaltsschummeleien Griechenlands zeigen, dass in der EU oftmals auch Hartes zu weich angefasst wird. Beim Thema der Erdgasversorgung aus Russland spricht Europa nicht mit einer Stimme, sondern man lässt großen Versorgungsunternehmen aus Deutschland, Frankreich und Italien freie Hand. Gazprom kann diese gegeneinander ausspielen.
„Die EU tritt dem Gasriesen Gazprom nicht als Block gegenüber, sondern als Haufen von 27 Zwergen.“
Bedeutende Politikfelder werden seitens der EU kaum wahrgenommen. In der Frage der nuklearen Aufrüstung Irans hat sie eine weichere Position als die USA – was mit europäischen und vor allem deutschen Exportinteressen zu tun hat. Die Europäer sind eher unwillig in Afghanistan. An militärischen Einsätzen außerhalb Europas beteiligen sie sich gar nicht oder kaum, ausgenommen die Operation Atalanta gegen die Piraten am Horn von Afrika. Zwar gibt es tatsächlich eine militärische Operationszentrale im Brüsseler Europaviertel. Aber sie operiert nur im Stand-by-Modus.
Oben zu schnell, unten zu langsam
Ein drittes Problemfeld der EU besteht in der geringen Akzeptanz durch die EU-Bürger. Vielen geht es oben zu schnell. Die schwindende Beteiligung bei Wahlen zum Europaparlament ist ein Indiz dafür. Die Verweigerung der Zustimmung zum Lissabon-Vertrag in Frankreich, den Niederlanden und in Irland kann ebenfalls so gedeutet werden. Bei der Überarbeitung der zunächst geplanten europäischen Verfassung wurde diese – in Form des Lissabon-Vertrags – gemäß Kritikern von Brüssel bewusst unverständlich formuliert. Die Iren sind keineswegs per se europafeindlich. Es gab aber eine Kampagne, die sich gegen den Vertrag und damit gegen Brüssel richtete. Viele Iren stimmten im Juni 2008 dagegen, weil sie den Vertrag nicht kannten. Man ließ sie dann im Spätsommer 2009 ein zweites Mal abstimmen.
„Europa benimmt sich wie ein Mietshaus, in dem jede Partei einzeln den Öllaster bestellt, statt den Heizkessel gemeinschaftlich zu befüllen.“
Inzwischen war das Land tief von der Wirtschaftskrise erfasst, und die Mehrheit der Menschen stimmte nun anders ab. Obwohl das EU-Parlament durch den Lissabon-Vertrag gestärkt wurde, besteht nach wie vor auf EU-Ebene ein Demokratiedefizit. Viele meinen, sowohl die kleinen Fragen wie Fangquoten oder Bodenschutzrichtlinien als auch die großen würden vor der europäischen Öffentlichkeit, also in erster Linie im Parlament, nicht ausreichend kontrovers diskutiert. Erfüllt die EU womöglich ihre eigenen demokratischen Aufnahmekriterien nicht?
„Die EU scheint nur eine Avantgarde der Weichheit sein zu wollen, nicht der Härte.“
Es gelingt der EU nur schwer, die Bürger mitzunehmen. Unten geht es zu langsam. Die Kommissare lassen zwar enorm viele Umfragen zu Einzelprojekten durchführen, aber das ist kein Ersatz für allgemeine Wahlen, die eine ganz andere Legitimationsbasis schaffen würden.
Da EU-Themen oft nicht besonders spannend sind, werden sie von den Behörden und den aus Brüssel berichtenden Medien manchmal wie Werbung präsentiert: Erst wird die Gefahr beschworen, dass der Föhn Feuer fängt, dann wird über eine entsprechende EU-Schutzrichtlinie berichtet. Nach wie vor versperren die Intransparenz der EU-Institutionen, die Abgehobenheit der EU-Funktionäre, der verschwenderische Umgang mit EU-Geldern, die hartnäckig verfolgten Harmonisierungsbestrebungen und der Mangel an großen Themen eine lebendige Verbindung zwischen Brüssel und dem Publikum. Es gibt allerdings auch kein echtes Gegenüber: Eine europäische Öffentlichkeit existiert nicht.
Europa hat keine Vision von sich selbst
Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa gilt inzwischen als überholt. Es sollte den Berufseuropäern in Brüssel eine Warnung sein, wenn sich nicht nur die Briten oder die Anhänger der österreichischen FPÖ „politisch enteignet“ fühlen, um mit den Worten von Hans Magnus Enzensberger zu sprechen. Die EU ähnelt zunehmend einem Staatsgebilde, ohne jedoch ein Staat zu sein oder je sein zu können. Brüssel bestimmt die Regeln, nach denen in den Mitgliedsstaaten Politik gemacht werden soll, aber es veranstaltet selbst keine europäische Politik.
„Die meisten EU-Themen sind schlicht zu unsexy, als dass der Normalbürger sich überhaupt ansatzweise mit ihnen befassen wollte.“
Für die nähere Zukunft sollte Brüssel sich in den Tugenden der Selbstbeschränkung und der Bescheidenheit üben, um dem „Imperial Overstretch“ nach innen entgegenzuwirken, damit die EU-Bürger sich nicht gegängelt oder gar einem Normendiktat unterworfen fühlen. Die EU sollte Freiheit nicht beschränken, sondern ermöglichen.