Regierungen müssen eingreifen
Anders als viele Menschen denken, sind wir nicht auf Gedeih und Verderb den Marktkräften ausgeliefert. Wir müssen nur hinterfragen, was vermeintliche Experten als gegeben und unabänderlich darstellen. Eine erste Unwahrheit über den Kapitalismus ist die Theorie vom freien Markt. Es heißt, ein gesunder Markt müsse frei von Regulierungen sein. Fakt ist: Jeder Markt unterliegt Regeln und Einschränkungen, und das ist richtig so. In einem vollkommen freien Markt könnten nämlich auch Studienplätze oder Wählerstimmen gehandelt werden. Sogar Kinderarbeit wäre erlaubt. Regulierungen sorgen dafür, dass das nicht so ist. Eine weitere Unwahrheit ist, dass Unternehmen immer zum Wohl ihrer Besitzer, nämlich der Aktionäre, geführt werden müssen. Schließlich, so heißt es, hätten diese ein großes Interesse an einem florierenden Geschäft. Tatsächlich sind Aktionäre vor allem an kurzfristigen Gewinnen interessiert; das langfristige Wachstum ist für sie zweitrangig. Deshalb werden Investitionen zurückgehalten, Mitarbeiter entlassen und die Preise der Zulieferer gedrückt. Darunter leiden ganze Volkswirtschaften.
„Den freien Markt gibt es nicht. Jeder Markt hat Regeln und Grenzen, die die Wahlfreiheit einschränken.“
Auf einem Irrglauben basiert auch die Behauptung, zu viele Sozialleistungen würden die Menschen bequem und unflexibel machen und damit das Wirtschaftswachstum bremsen. Das Gegenteil ist der Fall: Erst die Sicherheit, bei Arbeitslosigkeit aufgefangen zu werden, macht Menschen Mut zu Veränderungen.
„Wenn man ein Unternehmen für die Aktionäre führt, so verkleinert man damit das langfristige Wachstumspotenzial.“
Deutlich wird dies an der Thematik USA und Protektionismus: In den Vereinigten Staaten kann der Verlust des Arbeitsplatzes das soziale Aus bedeuten. Darum befürworten mehr US-Amerikaner als Europäer den Protektionismus. Bis in die 80er Jahre wuchs die Wirtschaft der USA langsamer als die Schwedens, und das, obwohl der schwedische Staat viel mehr Geld für soziale Leistungen ausgab. Während die USA nur 13,3 % des Bruttoinlandsproduktes in diesen Sektor investierten, waren es in Schweden 28,6 %. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg in den USA zwischen 1950 und 1987 nur um 1,9 %, während es in Schweden 2,7 % waren. Ähnlich schneiden die USA im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ab.
„Man kann nicht davon ausgehen, dass eine Regierungsentscheidung, die eine Firma betrifft, schlechter sein muss als eine Entscheidung der Firma selbst.“
Gerne argumentieren die Wohlhabenden, dass sie es seien, die investieren und damit die Wirtschaft voranbringen. Deshalb sei es nur recht und billig, wenn sie vom Staat finanziell entlastet würden, beispielsweise durch Steuergeschenke. Der Wohlstand würde dann ganz automatisch zu den unteren Einkommensschichten durchsickern. Dass diese Sichtweise falsch ist, beweist die Tatsache, dass die reichenfreundliche Politik der vergangenen Zeit nicht zu mehr Wachstum geführt hat. Nötig wären Steuergeschenke, die zum Investieren verpflichten. Der Wohlstand muss vom Staat so verteilt werden, dass alle Bevölkerungsschichten profitieren.
Keine Rationalität erwarten
Wirtschaftsliberale sagen gerne, der Markt reguliere sich selbst. Schließlich würden alle Marktteilnehmer rational und im eigenen Interesse handeln. Regierungen hingegen wüssten zu wenig, was die einzelnen Wirtschaftsakteure wollten, um sinnvoll in die Entwicklungen eingreifen zu können. Tatsächlich erhebt auch keine Regierung den Anspruch, alles zu wissen. Da aber die Märkte komplex sind und, wie die letzte Krise gezeigt hat, nicht einmal Finanzexperten durchschauen, wohin gewisse Entscheidungen führen können, beschneidet der Staat mit Reglementierungen die Handlungsfreiheit der Marktteilnehmer. Er schränkt damit die Komplexität ein, sodass ein möglicher Schaden verhindert wird oder wenigstens überschaubar bleibt. Regulierungen von Regierungsseite sind auch wichtig, um aussichtsreiche Branchen langfristig zu stärken. Ließe man den Unternehmen zu viel Freiheit, könnten sie, eben weil ihnen der distanzierte Blick des Staates fehlt, sich so stark an den gemeinsamen Ressourcen vergreifen, dass andere Unternehmen in ihrem für die Volkswirtschaft wichtigen Wachstum gebremst würden.
„Etliche Regulierungen fördern die Wirtschaft, indem sie Firmen zu Aktivitäten zwingen, die langfristig die Gesamtproduktivität steigern.“
Ein schlagendes Argument für das Eingreifen von Regierungen ist also deren Distanz zum Markt. Sie erlaubt es, Blickwinkel einzunehmen, die jemand, der im Kern des Geschehens steckt, nicht hat. Dass Unternehmen gerade wegen der fehlenden Distanz keineswegs immer die klügsten Entscheidungen treffen, hat u. a. das Beispiel der Fusion von AOL und Time Warner gezeigt. Aus dem erwarteten historischen Zusammenschluss wurde bald ein großer Fehlschlag. Der damalige Time-Warner-Chef Jerry Levin sprach im Nachhinein vom „schlechtesten Geschäft des Jahrhunderts“.
Liberalisierung bremst Wachstum
Laut Experten können Staaten nur dann wachsen und gedeihen, wenn ihre Märkte liberalisiert sind. Das ist ein weiterer Trugschluss, wie sich am Beispiel des Arbeitsmarktes zeigen lässt. Ohne Einwanderungskontrolle (also das Gegenteil von Liberalisierung) würden in einem wohlhabenden Land die Löhne und Gehälter ins Bodenlose sinken, weil unbegrenzt Arbeitnehmer aus armen Ländern einwandern würden. Ein liberalisierter Markt ist auch für Entwicklungsländer, vor allem im Anfangsstadium, nicht erstrebenswert, auch wenn das oft behauptet wird. Tatsächlich haben sich diese Länder in den meisten Fällen besser entwickelt, wenn sie ihre jungen Unternehmen mit Subventionen gestützt und mit Protektionismus geschützt haben.
„Wenn eine Firma von einem international tätigen Unternehmen aufgekauft wurde, zieht dieses infolge seiner Vorliebe fürs Stammland langfristig eine gläserne Decke ein, die festlegt, wie weit das Tochterunternehmen in der internen Hackordnung des Weltkonzerns nach oben kommen darf.“
Liberalisierungsbefürworter halten die Planwirtschaft für ein Phänomen der kommunistischen Gesellschaftsordnung. Doch auch und gerade im Kapitalismus kommt weder eine Volkswirtschaft noch ein Unternehmen ohne langfristige Planung aus. Ja, es waren sogar die Unternehmen in der kapitalistischen Gesellschaft, die Karl Marx dazu inspirierten, eine zentral geplante Volkswirtschaft zu entwerfen.
„Mit nur wenigen Ausnahmen entwickelten sich die reichen Länder von heute dank einer Kombination aus Protektionismus, Subventionen und weiteren staatlichen Maßnahmen, von denen man den Entwicklungsländern heute dringend abrät.“
Im Zusammenhang mit Globalisierung und Liberalisierung wird oft das Bild vom Weltkonzern beschworen, der an kein Mutterland mehr gebunden ist. Dieses Bild trifft jedoch den wahren Charakter dieser Konzerne nicht. Bei den meisten handelt es sich nicht um internationale, sondern um nationale Unternehmen, die lediglich Töchter im Ausland unterhalten. Trotz Globalisierung werden die Kernaktivitäten meist im Mutterland betrieben, und dieses profitiert von dem Unternehmen am stärksten. Politiker müssen darum nicht jeden ausländischen Investor mit offenen Armen empfangen. Die Vorteile für die eigene Wirtschaft sind keineswegs so groß wie oft behauptet, das hat das Beispiel von Rover und Phoenix Venture Holding illustriert: Die Beteiligungsgesellschaft hatte das Autounternehmen gekauft und es anschließend so ausgeschlachtet, dass danach kaum noch Vermögenswerte vorhanden waren.
Produzieren statt Dienste leisten
Das Internet und andere technische Errungenschaften haben dazu geführt, dass das produzierende Gewerbe immer unwichtiger wird und immer mehr Menschen im Dienstleistungssektor arbeiten. Tatsächlich wird heute mehr Geld mit Dienstleistungen verdient als früher, jedoch vor allem deswegen, weil die Preise für produzierte Güter stark gefallen sind. Ein Land, das das produzierende Gewerbe vernachlässigt, riskiert aber sinkende Exporte, weil Dienstleistungen nicht so einfach über Grenzen hinweg erbracht werden können. Mit sinkenden Exporteinnahmen steht wiederum weniger Geld für moderne Technik aus dem Ausland zur Verfügung. Folglich verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum.
„Der eigentliche Grund für die Stagnation in Afrika während der letzten drei Jahrzehnte ist die Politik des freien Marktes, zu deren Einführung der Kontinent damals genötigt wurde.“
Im Übrigen hat das Internet weniger mit Globalisierung und Liberalisierung zu tun, als die meisten glauben. Schließlich liberalisieren nur Politiker Märkte, nicht die Technik. Und bislang konnte noch niemand beweisen, dass sich das Leben durch das weltweite Netz wirklich verbessert hat. Die Erfindung der Waschmaschine hat das Leben vieler Menschen, vor allem Frauen, wahrscheinlich stärker revolutioniert als das Internet.
Inflation ist nicht immer schlecht
Durch die Medien beunruhigt, fürchten sich viele Menschen vor dem Gespenst der Inflation, weil sie die Wirtschaft angeblich destabilisiert. Tatsächlich aber schadet selbst eine verhältnismäßig hohe Inflation dem Wirtschaftswachstum nicht. Im Gegenteil: Bei der Bekämpfung der Inflation werden Investitionen gebremst und damit wird das Wachstum abgeschwächt. Menschen verlieren ihre Jobs und sind u. U. auf die Hilfe des Staates angewiesen. Studien zufolge wirkt sich noch nicht einmal eine Inflation von 20–40 % auf das Wirtschaftswachstum eines Landes aus. So wies Südkorea in den 60ern bei einer Inflation von 20 % ein Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von 7 % pro Jahr auf. Inflationskontrolle ist meist nur für die Eigentümer von Kapitalanlagen wichtig, da ihre Renditen bei einer Inflation sinken würden.
Ungleichgewicht in den USA
Die Ansicht, die USA hätten den höchsten Lebensstandard, ist weit verbreitet: Schließlich gäbe es dort mehr Waren und Dienstleistungen für den Dollar. Der Lebensstandard lässt sich allerdings nicht allein aus der Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen ableiten. Weil Dienstleistungen in den USA meist von schlecht bezahlten Immigranten erbracht werden, sind sie besonders billig. Und auch Einheimische arbeiten dort häufig in schlecht bezahlten Jobs. Freizeit ist für viele ein Fremdwort, soziale Absicherung gibt es kaum. Dass die US-Amerikaner als wohlhabend gelten, liegt vor allem daran, dass die Reichen sehr reich sind.
„Unzureichende Organisationsstrukturen stellen mittlerweile ein größeres Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung dar als der mangelnde Unternehmergeist Einzelner.“
Dass US-Manager exorbitante Gehälter einstreichen, wird gerne damit gerechtfertigt, dass sie ihren Unternehmen zu großen Gewinnen verhülfen und produktiver seien als gewöhnliche Angestellte. Das würde heißen, dass die US-Manager 20-mal produktiver sein müssten als ihre Kollegen in Europa, denn so viel mehr verdienen sie. Und dass sie heute zehnmal mehr verdienen als in den 60er und 70er Jahren, müsste sich auch im Erfolg ihrer Unternehmen widerspiegeln. Erstaunlicherweise waren diese früher jedoch viel erfolgreicher als heute. US-Manager sind inzwischen politisch so einflussreich, dass sie ihre Gehälter quasi selbst bestimmen können.
Afrikaner haben keine Chance
Die meisten afrikanischen Länder sind arm, weil es dort zu heiß ist, weil die Märkte so klein sind, weil gewaltsame Konflikte das Leben beherrschen und weil die Menschen faul sind – so die weit verbreitete Meinung. In den 60er und 70er Jahren aber wuchs dort die Wirtschaft immerhin auf moderatem Niveau, trotz der eben genannten Hemmnisse. Die Stagnation begann, als die Weltbank und der Internationale Währungsfonds die Entwicklungsländer zur Marktliberalisierung drängten. Junge Unternehmen wurden dadurch dem harten internationalen Wettbewerb ausgesetzt, weswegen ganze Industriezweige zusammenbrachen. Die gleichzeitig forcierten Exportzuwächse bei Kaffee, Kakao, Schnittblumen usw. führten dazu, dass die Preise dieser Rohstoffe fielen.
„Wenn wir das Bildungssystem in dem Glauben ausbauen, dass unsere Volkswirtschaften dadurch reicher würden, werden wir bitter enttäuscht werden.“
Dass Entwicklungsländer so arm sind, liege auch am mangelnden Unternehmergeist ihrer Einwohner, heißt es oft. In Wahrheit könnten die Menschen dort ohne ihren großen Unternehmergeist gar nicht überleben. Was fehlt, sind moderne Produktionstechnologien und Organisationsstrukturen, die kollektives Unternehmertum fördern. Lässt sich die Armut der Entwicklungsländer mit mehr Bildung bekämpfen? Nein, denn Bildung führt nicht zwangsläufig zu mehr Wohlstand. Da viele Berufe inzwischen weitgehend automatisiert sind, müssen die Beschäftigten heute oft weniger wissen als früher. Ein indischer Schmied, der noch Handarbeit liefert, weiß vermutlich mehr über seine Arbeit als sein Kollege in Westeuropa, ist aber dennoch ärmer. Ein richtiger Ansatz für Entwicklungsländer liegt eher darin, produktive Unternehmen statt Bildung zu fördern.