Warum China?
China - das ist die heisseste Story der Welt. Aufgrund seiner Grösse wirkt sich die Richtung, die das Land einschlagen wird, auf die gesamte Welt aus - ob es sich nun zu einer grösseren, friedlichen Version Singapurs entwickelt oder der Korruption und Militärherrschaft zum Opfer fällt. Der Erfolg oder Misserfolg eines Fünftels der Menschheit wird sich auf jeden Einzelnen auf der Welt auswirken, und zwar auf eine Art und Weise, die nur schwer begreifbar und nahezu unmöglich vorhersehbar ist.
„Wenn das 19. Jahrhundert das Jahrhundert Europas war und das 20. das Jahrhundert Amerikas, dann ist es auf jeden Fall möglich, dass das 21. Jahrhundert mit dem erneuten Aufstreben Chinas zur grössten Wirtschaftsmacht der Welt einhergeht.“
Dies ist eine Schlussfolgerung, die nicht von Futuristen oder etwa Chinaexperten stammt, sondern von Personen, die die Kunst der "Szenarioplanung" in die Praxis umsetzen. Diese Szenarios beruhen auf den gleichen Methoden, die 20 Jahre lang für die Entwicklung von Szenarios für einige der grössten Unternehmen/Organisationen der Welt angewandt wurden, darunter Royal Dutch/Shell, AT&T, IBM, Motorola, Monsanto, ARCO, Xerox und die CIA. "Szenarios sind alternative Wirklichkeiten, in denen die Entscheidungen, die heute getroffen werden, ausgearbeitet werden können. Sie stellen weder Vorhersagen dar, noch handelt es sich um Strategien. Sie sind vielmehr Beschreibungen verschiedener Zukunftsformen, die speziell mit dem Ziel entworfen werden, die Risiken und Chancen herauszuarbeiten, die mit bestimmten strategischen Fragen verbunden sind."
„Wir sprechen hier nicht von Ruanda oder Bosnien, beides Schauplätze trauriger und bedauernswerter Tragödien, die dennoch eingrenzbar sind und uns nicht unbedingt berühren. Hier geht es um ein Fünftel der Menschheit. Wenn wir uns mit China befassen, müssen wir auch an unsere Kinder denken. Wenn wir China einen Platz auf der Weltbühne einräumen, ist dies der beste Weg, eine Welt zu schaffen, in der unsere Kinder keinen Krieg gegen die Kinder Chinas führen müssen.“
Blickt man anhand dieser Methode in die Zukunft Chinas in 20 Jahren, ergeben sich drei unterschiedliche Szenarios. Natürlich kann keine Forschung heute mit Sicherheit die Geschehnisse im Jahre 2010 oder 2020 voraussehen. Eine in die Zukunft gerichtete Forschung ("Presearch" genannt) stellt eine raffinierte Mischung aus Trendanalysen und lebhafter Phantasie dar.
Allgemeines über China
China ist riesig, was auf den ersten Blick nichts Neues ist, doch das blosse Ausmass Chinas beeinflusst vieles in einer Weise, die manchmal nur schwer begreifbar ist. Wenn man von China spricht, ist das nicht so, als spräche man von einem anderen Land - beispielsweise Frankreich oder dem Sudan - sondern vielmehr so, als spräche man über einen ganzen Kontinent oder sogar einen benachbarten Planeten. Chinas Ansichten über Familie und Rang unterscheiden sich von denen des Rests der Welt. Wenn Sie China vor dem Hintergrund der Rechte und Freiheiten des Einzelnen betrachten, erhalten Sie vermutlich ein falsches Bild. Das Mandarin und andere chinesische Sprachen verfügen über keine geeigneten Worte, die Dinge wie "Privatsphäre", "Individualismus" oder "Persönlichkeit" beschreiben. In China dreht sich alles um das Kollektiv. Westliche Diplomaten und Politiker, die Parteivorsitzende in Peking vor Menschenrechtsverletzungen warnen, fühlen sich oft, als sprächen sie Türkisch - und nicht zu Unrecht. Die Auffassung Chinas von den Rechten des Einzelnen weicht grundlegend von der des Westens ab.
Treibende Kräfte
Vierzehn treibende Kräfte werden die Zukunft Chinas prägen:
- Der mächtige Renminbi - Geld ist im heutigen China der Motor aller Veränderungen.
- Zu viel Regierung und dennoch nicht genug - damit ist die anhaltende Dezentralisierung der chinesischen Innenpolitik gemeint.
- Kulturelles Vakuum - woran sollen die Chinesen im Land der Videorecorder, Lippenstifte und Luxuswagen heutzutage noch glauben?
- Die Huaqiao oder Übersee-Chinesen - diese Diaspora ist älter und weitaus einflussreicher als irgendeine andere.
- Zentrifugalkräfte - Kräfte mit Sogwirkung verringern die Macht Pekings über die Provinzen und Regionen.
- Demographische Entwicklung - schon das blosse Ausmass der chinesischen Bevölkerung, wie auch ihre Zusammensetzung und Verteilung, ist geschichtlich einzigartig.
- Schwarze Luft, graues Wasser - die Umweltzerstörung ist möglicherweise der grösste Stolperstein Chinas.
- Chips und Glasfasern - die Technologie ist für viele der rasanten Veränderungen in China verantwortlich.
- Die Volksbefreiungsarmee - sie ist die mit Abstand grösste wirtschaftliche Organisation Chinas.
- Die Kommunistische Partei - obwohl sie der Motor der drastischen Veränderungen vor 50 Jahren war, schwindet ihr Einfluss heutzutage zusehends.
- Die Generation von ’77 - diese Bezeichnung steht für die Gruppe jüngerer politischer Führer, die darauf warten, in Peking die Kontrolle zu übernehmen.
- Der Floh und der Elefant - Hongkong ist der Floh mit dem Bestreben, China zu verändern, bevor es selbst von China verändert wird.
- Wer ist der Mächtigere? Wie werden sich die Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn und dem Rest der Welt entwickeln?
- Die USA - die Vereinigten Staaten, stärkste wirtschaftliche und militärische Macht der Welt, sind der Ansicht, in einer besonderen Beziehung zu China zu stehen.
Die Haare in der Suppe
Fünf verborgene negative Faktoren oder Haare in der Suppe können verhindern, dass China zum Machtzentrum des neuen Jahrhunderts wird:
- Die massive finanzielle und soziale Verschuldung der staatseigenen Betriebe - die staatlichen Unternehmen sind nicht besonders produktiv und verschwenden wertvolle Ressourcen. Die Privatisierung dieser Betriebe droht zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit zu führen.
- Die tief verwurzelte Armut der 350 Millionen Menschen umfassenden Landbevölkerung - etwa 60 Millionen Menschen leben am Rande der Hungersnot.
- Die Umweltzerstörung - die Fruchtbarkeit des chinesischen Bodens nimmt aufgrund von Bodenerosion, Überbevölkerung, Überweidung und Überbewirtschaftung rapide ab.
- Das Fehlen einer geeigneten Infrastruktur - China verfügt zwar über Kohle für Heizung und Elektrizität, es mangelt jedoch an einem geeigneten Eisenbahnnetz zum Transport der Kohle. Telefonleitungen sind Mangelware, was zu einem starken Absatzmarkt für Mobiltelefone führte.
- Mangelnde Chancengleichheit - China verfügt über zu wenig schriftlich verankerte Gesetze und über zu wenig Anwälte. Das Fehlen eines funktionierenden Rechtssystems macht es westlichen Unternehmen schwer, Geschäfte in China zu tätigen. Was im Westen als Korruption gilt, zählt bei den Chinesen zu den Familienwerten.
Szenario eins: Das China-Netz
In diesem Szenario entwickelt China eine stark dezentralisierte, von den einzelnen Dörfern ausgehende Wirtschaft, die durch drahtlose Telekommunikation und effiziente Transportmöglichkeiten vernetzt sind. Zur Überraschung der Umweltschützer aus aller Welt entwickelt sich eine relativ umweltfreundliche Wirtschaft, die gerade genug Stahl, Kohle, Öl und Schienen braucht, wie es für das grosse Netz, das die Unternehmen in ländlichen Gebieten und Dörfern miteinander verbindet, nötig ist. In diesem Szenario stellt China fest, dass es Modernisierungen auch ohne eine Industrialisierung oder eine Anpassung an westliche Standards durchführen kann. Chinas Wirtschaft gründet nicht auf "Economies of Scale", sondern auf einem massiven Netzwerk kleiner, produktiver Unternehmen.
„Konventionelle Moral aus Szenario drei: Der grosse Tyrann - China wird nicht zu einem riesigen Singapur, sondern zu einem riesigen Nordkorea: aggressiv, brutal, streng zentralisiert und absolutistisch; es saugt alle Kraft aus Hongkong, macht sämtliche kapitalistischen Experimente aus Dengs Erbe zunichte, tyrannisiert Taiwan, steht auf ständigem Kriegsfuss mit seinen Nachbarn und exportiert Waffen und Unruhen in andere verbrecherische Regimes der Welt.“
Die Kehrseite dieses Szenarios ist jedoch, dass der Versuch einer Modernisierung ohne eine Industrialisierung nicht funktioniert. Das Motto "Let Them Eat Bytes - Lasst sie Bytes essen" reicht nicht aus, um Millionen in Armut lebender Menschen vor dem Hungertod zu retten. Folgende Faktoren könnten u. a. das Szenario des vernetzten Chinas in einem Desaster enden lassen:
- Das Fehlen eines ausreichenden Strassen- und Autobahnnetzes.
- Mangelnde Investitionen in Grundschulbildung und weiterführende Schulbildung.
- Die unzureichende Bekämpfung von Betrug und Korruption.
- Eine zu starke Beeinflussung lokaler Unternehmen.
- Durch die Regierung auferlegte Einschränkungen, die es diesen Unternehmen verbieten, Löhne festzusetzen oder ihre Mitarbeiter nach Bedarf eigenständig einzustellen oder zu entlassen.
Szenario zwei: Die neuen Mandarine
In diesem Szenario spielt die mächtige Kultur der Verwandtschaft und der Beziehungen (Guanxi) die vorherrschende Rolle im neuen China. Auch dieses Szenario beruht, ähnlich wie das vorhergehende, auf einem Netzwerk. Dieses besteht jedoch nicht aus der Vernetzung ländlicher und lokaler Unternehmen; es handelt sich vielmehr um ein Netz aus Netzen, dessen Knotenpunkte und Verbindungen aus Familien, Clans, Dorf- und Sprachgemeinschaften geknüpft sind. Dieses Szenario scheitert u. a. an folgenden Faktoren:
- Das Fehlen eines Rechtsstaatsprinzips.
- Das Fehlen einer Bestrafung von Betrug und Korruption.
- Das Fehlen einer Zukunftsperspektive.
- Das Fehlen von Verfassungsänderungen, welche die Frage der Regierungsnachfolge regeln.
Szenario drei: Der Dieb von Peking
In diesem Szenario versinkt China in einem Sumpf der Dekadenz, Korruption und Machtgier. Schon allein die Tatsache, dass diese Geschichte von einer Bordellbesitzerin erzählt wird, vermittelt einen Eindruck davon, wie düster dieses dritte Szenario ist. China ist so gesetzlos, dass ein charismatischer Militärdiktator die Macht ergreifen kann; er schlägt Rebellionen nieder und vereint das Land. "Schlechte" Menschen, wie Richter, Rockstars und Pornodarsteller werden "ausgemerzt", um es vorsichtig auszudrücken. Der Diktator, der versucht, von Stalin aufgestellte Rekorde zu brechen, zelebriert Massenexekutionen, schiesst Satelliten ab und marschiert in Taiwan ein. Das gesamte Szenario ist eine einzige trostlose Vision.
Auswirkungen
Diese Szenarios implizieren, dass heutige Entscheidungen sehr wohl von Bedeutung für die Zukunft sind, dass diese jedoch nicht vorherbestimmt ist. Sowohl Japan als auch Taiwan spielen in jedem der Szenarios eine zentrale Rolle. Der Aufbau von Beziehungen ist von grundlegender Bedeutung. Weitere zentrale Faktoren sind die Menschenrechte und die Fähigkeit Chinas, ein konstruktives Engagement für bestimmte Fragen zu fördern. Die Entscheidungen, die diesen Szenarios zugrunde liegen, haben insbesondere tief greifende Auswirkungen, wenn man China mit Blick auf kommende Generationen betrachtet.