Perspektiven Chinas

Buch Perspektiven Chinas

Szenarios für die weltweit am schnellsten wachsende Wirtschaft, Ökologie und Gesellschaft

Jossey-Bass,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Die Autoren Ogilvy, Schwartz und Flower liefern in diesem Buch die üblichen Zahlen und Prognosen über die Zukunft Chinas, sie untermalen ihr Werk jedoch mit illustren Geschichten über Bor­dellbe­sitzerin­nen, Massen­hin­rich­tun­gen von Richtern und Rockstars, abgeschossene Satelliten, einen Bürgerkrieg zwischen ver­schiede­nen Fraktionen der so genannten "neuen Mandarine", einen Übergriff auf Taiwan und einen Krieg zwischen China und Indien. Diese Darstel­lun­gen werden als re­al­is­tis­che Szenarios einer möglichen Entwicklung Chinas im Laufe der nächsten 20 Jahre präsentiert. Die so genannte "Szenar­i­o­pla­nung" klingt stark nach Sci­ence-Fic­tion, die Autoren wenden dabei jedoch in Bezug auf die Zukunft Chinas die gleiche Methode an, auf die auch Unternehmen zur Erstellung von Fi­nanzprog­nosen zurückgreifen. In ro­ma­nar­tigem Erzählstil - ebenfalls eine derzeit bei manchen Unternehmen sehr beliebte Praxis - werden diese Zukun­ftsvi­sio­nen einzeln dargestellt. BooksInShort.​com empfiehlt dieses her­vor­ra­gende Buch selbst den Lesern, die sich nur am Rande für China in­ter­essieren. Pflichtlektüre ist es sicher für all jene, die in China investieren oder dort Geschäfte tätigen möchten.

Take-aways

  • Aufgrund seiner ge­o­graphis­chen Grösse und der hohen Bevölkerungszahl ist, was in China vor sich geht, für die ganze Welt bedeutsam.
  • Die Szenar­i­o­pla­nung ist eine Möglichkeit, sich auf mögliche Veränderungen vorzu­bere­iten.
  • Treibende Kräfte wie z. B. eine ungleiche Einkom­mensverteilung sind Variablen, die die Szenarios bee­in­flussen.
  • Unternehmen und Regierungen müssen her­aus­finden, wie positive Szenarios gefördert und negative Szenarios vermieden werden können.
  • China denkt nicht im Sinne des Einzelnen, sondern im Sinne des Kollektivs, daher sind dem Land Men­schen­rechts­forderun­gen relativ fremd.
  • Trotz aller Hor­rorgeschichten über den immensen Einfluss der chi­ne­sis­chen Regierung mangelt es in China sowohl an Gesetzen als auch an Anwälten.
  • Wenn China das westliche Kon­sumver­hal­ten annimmt, kann dies katas­trophale Auswirkun­gen auf die Umwelt haben.
  • In einigen Szenarios ist eine starke wirtschaftliche Entwicklung Chinas auch ohne positive Auswirkun­gen für westliche Investoren denkbar.
  • Wenn wir heute die falschen Entschei­dun­gen in Bezug auf China treffen, könnten spätere Gen­er­a­tio­nen in einen Krieg mit China verwickelt werden.
 

Zusammenfassung

Warum China?

China - das ist die heisseste Story der Welt. Aufgrund seiner Grösse wirkt sich die Richtung, die das Land einschlagen wird, auf die gesamte Welt aus - ob es sich nun zu einer grösseren, friedlichen Version Singapurs entwickelt oder der Korruption und Militärherrschaft zum Opfer fällt. Der Erfolg oder Misserfolg eines Fünftels der Menschheit wird sich auf jeden Einzelnen auf der Welt auswirken, und zwar auf eine Art und Weise, die nur schwer begreifbar und nahezu unmöglich vorherse­hbar ist.

„Wenn das 19. Jahrhundert das Jahrhundert Europas war und das 20. das Jahrhundert Amerikas, dann ist es auf jeden Fall möglich, dass das 21. Jahrhundert mit dem erneuten Aufstreben Chinas zur grössten Wirtschafts­macht der Welt einhergeht.“

Dies ist eine Schlussfol­gerung, die nicht von Futuristen oder etwa Chi­na­ex­perten stammt, sondern von Personen, die die Kunst der "Szenar­i­o­pla­nung" in die Praxis umsetzen. Diese Szenarios beruhen auf den gleichen Methoden, die 20 Jahre lang für die Entwicklung von Szenarios für einige der grössten Unternehmen/Or­gan­i­sa­tio­nen der Welt angewandt wurden, darunter Royal Dutch/Shell, AT&T, IBM, Motorola, Monsanto, ARCO, Xerox und die CIA. "Szenarios sind alternative Wirk­lichkeiten, in denen die Entschei­dun­gen, die heute getroffen werden, aus­gear­beitet werden können. Sie stellen weder Vorhersagen dar, noch handelt es sich um Strategien. Sie sind vielmehr Beschrei­bun­gen ver­schiedener Zukun­fts­for­men, die speziell mit dem Ziel entworfen werden, die Risiken und Chancen her­auszuar­beiten, die mit bestimmten strate­gis­chen Fragen verbunden sind."

„Wir sprechen hier nicht von Ruanda oder Bosnien, beides Schauplätze trauriger und be­dauern­swerter Tragödien, die dennoch eingrenzbar sind und uns nicht unbedingt berühren. Hier geht es um ein Fünftel der Menschheit. Wenn wir uns mit China befassen, müssen wir auch an unsere Kinder denken. Wenn wir China einen Platz auf der Weltbühne einräumen, ist dies der beste Weg, eine Welt zu schaffen, in der unsere Kinder keinen Krieg gegen die Kinder Chinas führen müssen.“

Blickt man anhand dieser Methode in die Zukunft Chinas in 20 Jahren, ergeben sich drei un­ter­schiedliche Szenarios. Natürlich kann keine Forschung heute mit Sicherheit die Geschehnisse im Jahre 2010 oder 2020 voraussehen. Eine in die Zukunft gerichtete Forschung ("Presearch" genannt) stellt eine raffinierte Mischung aus Tren­d­analy­sen und lebhafter Phantasie dar.

Allgemeines über China

China ist riesig, was auf den ersten Blick nichts Neues ist, doch das blosse Ausmass Chinas beeinflusst vieles in einer Weise, die manchmal nur schwer begreifbar ist. Wenn man von China spricht, ist das nicht so, als spräche man von einem anderen Land - beispiel­sweise Frankreich oder dem Sudan - sondern vielmehr so, als spräche man über einen ganzen Kontinent oder sogar einen be­nach­barten Planeten. Chinas Ansichten über Familie und Rang un­ter­schei­den sich von denen des Rests der Welt. Wenn Sie China vor dem Hintergrund der Rechte und Freiheiten des Einzelnen betrachten, erhalten Sie vermutlich ein falsches Bild. Das Mandarin und andere chinesische Sprachen verfügen über keine geeigneten Worte, die Dinge wie "Privatsphäre", "In­di­vid­u­al­is­mus" oder "Persönlichkeit" beschreiben. In China dreht sich alles um das Kollektiv. Westliche Diplomaten und Politiker, die Parteivor­sitzende in Peking vor Men­schen­rechtsver­let­zun­gen warnen, fühlen sich oft, als sprächen sie Türkisch - und nicht zu Unrecht. Die Auffassung Chinas von den Rechten des Einzelnen weicht grundlegend von der des Westens ab.

Treibende Kräfte

Vierzehn treibende Kräfte werden die Zukunft Chinas prägen:

  1. Der mächtige Renminbi - Geld ist im heutigen China der Motor aller Veränderungen.
  2. Zu viel Regierung und dennoch nicht genug - damit ist die anhaltende Dezen­tral­isierung der chi­ne­sis­chen In­nen­poli­tik gemeint.
  3. Kulturelles Vakuum - woran sollen die Chinesen im Land der Vide­o­recorder, Lip­pen­s­tifte und Luxuswagen heutzutage noch glauben?
  4. Die Huaqiao oder Übersee-Chi­ne­sen - diese Diaspora ist älter und weitaus ein­flussre­icher als irgendeine andere.
  5. Zen­trifu­galkräfte - Kräfte mit Sogwirkung verringern die Macht Pekings über die Provinzen und Regionen.
  6. De­mographis­che Entwicklung - schon das blosse Ausmass der chi­ne­sis­chen Bevölkerung, wie auch ihre Zusam­menset­zung und Verteilung, ist geschichtlich einzigartig.
  7. Schwarze Luft, graues Wasser - die Umweltzerstörung ist möglicher­weise der grösste Stolper­stein Chinas.
  8. Chips und Glasfasern - die Technologie ist für viele der rasanten Veränderungen in China ve­r­ant­wortlich.
  9. Die Volks­be­freiungsarmee - sie ist die mit Abstand grösste wirtschaftliche Or­gan­i­sa­tion Chinas.
  10. Die Kom­mu­nis­tis­che Partei - obwohl sie der Motor der drastischen Veränderungen vor 50 Jahren war, schwindet ihr Einfluss heutzutage zusehends.
  11. Die Generation von ’77 - diese Bezeichnung steht für die Gruppe jüngerer politischer Führer, die darauf warten, in Peking die Kontrolle zu übernehmen.
  12. Der Floh und der Elefant - Hongkong ist der Floh mit dem Bestreben, China zu verändern, bevor es selbst von China verändert wird.
  13. Wer ist der Mächtigere? Wie werden sich die Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn und dem Rest der Welt entwickeln?
  14. Die USA - die Vereinigten Staaten, stärkste wirtschaftliche und militärische Macht der Welt, sind der Ansicht, in einer besonderen Beziehung zu China zu stehen.

Die Haare in der Suppe

Fünf verborgene negative Faktoren oder Haare in der Suppe können verhindern, dass China zum Machtzen­trum des neuen Jahrhun­derts wird:

  1. Die massive finanzielle und soziale Ver­schul­dung der staat­seige­nen Betriebe - die staatlichen Unternehmen sind nicht besonders produktiv und ver­schwen­den wertvolle Ressourcen. Die Pri­vatisierung dieser Betriebe droht zu einem Anstieg der Ar­beit­slosigkeit zu führen.
  2. Die tief verwurzelte Armut der 350 Millionen Menschen umfassenden Landbevölkerung - etwa 60 Millionen Menschen leben am Rande der Hungersnot.
  3. Die Umweltzerstörung - die Frucht­barkeit des chi­ne­sis­chen Bodens nimmt aufgrund von Bo­den­ero­sion, Überbevölkerung, Überweidung und Überbe­wirtschaf­tung rapide ab.
  4. Das Fehlen einer geeigneten In­fra­struk­tur - China verfügt zwar über Kohle für Heizung und Elektrizität, es mangelt jedoch an einem geeigneten Eisen­bahn­netz zum Transport der Kohle. Tele­fon­leitun­gen sind Mangelware, was zu einem starken Absatzmarkt für Mo­bil­tele­fone führte.
  5. Mangelnde Chan­cen­gle­ich­heit - China verfügt über zu wenig schriftlich verankerte Gesetze und über zu wenig Anwälte. Das Fehlen eines funk­tion­ieren­den Rechtssys­tems macht es westlichen Unternehmen schwer, Geschäfte in China zu tätigen. Was im Westen als Korruption gilt, zählt bei den Chinesen zu den Fam­i­lien­werten.

Szenario eins: Das China-Netz

In diesem Szenario entwickelt China eine stark dezen­tral­isierte, von den einzelnen Dörfern ausgehende Wirtschaft, die durch drahtlose Telekom­mu­nika­tion und effiziente Transportmöglichkeiten vernetzt sind. Zur Überraschung der Umweltschützer aus aller Welt entwickelt sich eine relativ umwelt­fre­undliche Wirtschaft, die gerade genug Stahl, Kohle, Öl und Schienen braucht, wie es für das grosse Netz, das die Unternehmen in ländlichen Gebieten und Dörfern miteinander verbindet, nötig ist. In diesem Szenario stellt China fest, dass es Mod­ernisierun­gen auch ohne eine In­dus­tri­al­isierung oder eine Anpassung an westliche Standards durchführen kann. Chinas Wirtschaft gründet nicht auf "Economies of Scale", sondern auf einem massiven Netzwerk kleiner, produktiver Unternehmen.

„Kon­ven­tionelle Moral aus Szenario drei: Der grosse Tyrann - China wird nicht zu einem riesigen Singapur, sondern zu einem riesigen Nordkorea: aggressiv, brutal, streng zen­tral­isiert und ab­so­lutis­tisch; es saugt alle Kraft aus Hongkong, macht sämtliche kap­i­tal­is­tis­chen Experimente aus Dengs Erbe zunichte, tyran­nisiert Taiwan, steht auf ständigem Kriegsfuss mit seinen Nachbarn und exportiert Waffen und Unruhen in andere ver­brecherische Regimes der Welt.“

Die Kehrseite dieses Szenarios ist jedoch, dass der Versuch einer Mod­ernisierung ohne eine In­dus­tri­al­isierung nicht funk­tion­iert. Das Motto "Let Them Eat Bytes - Lasst sie Bytes essen" reicht nicht aus, um Millionen in Armut lebender Menschen vor dem Hungertod zu retten. Folgende Faktoren könnten u. a. das Szenario des vernetzten Chinas in einem Desaster enden lassen:

  • Das Fehlen eines aus­re­ichen­den Strassen- und Au­to­bahn­net­zes.
  • Mangelnde In­vesti­tio­nen in Grund­schul­bil­dung und weiterführende Schul­bil­dung.
  • Die un­zure­ichende Bekämpfung von Betrug und Korruption.
  • Eine zu starke Bee­in­flus­sung lokaler Unternehmen.
  • Durch die Regierung auferlegte Einschränkungen, die es diesen Unternehmen verbieten, Löhne festzuset­zen oder ihre Mitarbeiter nach Bedarf eigenständig einzustellen oder zu entlassen.

Szenario zwei: Die neuen Mandarine

In diesem Szenario spielt die mächtige Kultur der Ver­wandtschaft und der Beziehungen (Guanxi) die vorherrschende Rolle im neuen China. Auch dieses Szenario beruht, ähnlich wie das vorherge­hende, auf einem Netzwerk. Dieses besteht jedoch nicht aus der Vernetzung ländlicher und lokaler Unternehmen; es handelt sich vielmehr um ein Netz aus Netzen, dessen Knoten­punkte und Verbindun­gen aus Familien, Clans, Dorf- und Sprachge­mein­schaften geknüpft sind. Dieses Szenario scheitert u. a. an folgenden Faktoren:

  • Das Fehlen eines Rechtsstaat­sprinzips.
  • Das Fehlen einer Bestrafung von Betrug und Korruption.
  • Das Fehlen einer Zukun­ftsper­spek­tive.
  • Das Fehlen von Verfassungsänderungen, welche die Frage der Regierungsnach­folge regeln.

Szenario drei: Der Dieb von Peking

In diesem Szenario versinkt China in einem Sumpf der Dekadenz, Korruption und Machtgier. Schon allein die Tatsache, dass diese Geschichte von einer Bor­dellbe­sitzerin erzählt wird, vermittelt einen Eindruck davon, wie düster dieses dritte Szenario ist. China ist so gesetzlos, dass ein charis­ma­tis­cher Militärdiktator die Macht ergreifen kann; er schlägt Rebellionen nieder und vereint das Land. "Schlechte" Menschen, wie Richter, Rockstars und Porn­odarsteller werden "ausgemerzt", um es vorsichtig auszudrücken. Der Diktator, der versucht, von Stalin aufgestellte Rekorde zu brechen, zelebriert Massenex­eku­tio­nen, schiesst Satelliten ab und marschiert in Taiwan ein. Das gesamte Szenario ist eine einzige trostlose Vision.

Auswirkun­gen

Diese Szenarios implizieren, dass heutige Entschei­dun­gen sehr wohl von Bedeutung für die Zukunft sind, dass diese jedoch nicht vorherbes­timmt ist. Sowohl Japan als auch Taiwan spielen in jedem der Szenarios eine zentrale Rolle. Der Aufbau von Beziehungen ist von grundle­gen­der Bedeutung. Weitere zentrale Faktoren sind die Men­schen­rechte und die Fähigkeit Chinas, ein kon­struk­tives Engagement für bestimmte Fragen zu fördern. Die Entschei­dun­gen, die diesen Szenarios zugrunde liegen, haben ins­beson­dere tief greifende Auswirkun­gen, wenn man China mit Blick auf kommende Gen­er­a­tio­nen betrachtet.

Über die Autoren

James Ogilvy und Peter Schwartz sind als Partner für Global Business Network (GBN) tätig, ein Consulting- und Forschung­sun­ternehmen, das seine Kunden dabei unterstützt, Geschäftsstrate­gien zu entwickeln, die den Gegeben­heiten der globalen Märkte gerecht werden. Joe Flower ist Schrift­steller und Autor.