Zivilisierte Marktwirtschaft

Buch Zivilisierte Marktwirtschaft

Eine wirtschaftsethische Orientierung

Haupt,


Rezension

„Mehr Markt“ ist das wirtschaft­slib­erale Paten­trezept zur Lösung aller ökonomischen und sozialen Probleme. Warum dieser Gedanke, gerade im Zeitalter der Glob­al­isierung, zu kurz greift und die ungebremste Gewin­n­max­imierung keineswegs dem Wohl aller dient, erklärt Peter Ulrich prägnant und sehr gut verständlich. Offen bleibt allerdings, ob die von ihm geforderte globale Wirtschaft­spoli­tik re­al­isier­bar ist – die in­ter­na­tionale Uneinigkeit selbst bei el­e­men­tarsten ökologischen und sozialen Regelungen spricht nicht gerade dafür. Und die Frage, wie sich der ve­r­ant­wortlich handelnde Wirtschaftsbürger verhalten soll, wenn ihn das System geradezu zum unethischen Handeln zwingt, wird zwar beantwortet, jedoch auf eine sehr abstrakte Art und Weise; konkrete Ver­hal­tensregeln oder -empfehlun­gen gibt es kaum. Wer allerdings eine fundierte und gut verständliche Darstellung der Wirtschaft­sethik sucht, ist mit diesem Buch sehr gut bedient. BooksInShort empfiehlt es allen, die in Unternehmen und Politik Ve­r­ant­wor­tung tragen.

Take-aways

  • Die ökonomisch-tech­nis­che Rationalität ist nicht die einzige Form der Rationalität.
  • Wirtschaften ist kein Selbstzweck, sondern immer eingebettet in die Fragen nach dem Sinn und der Gerechtigkeit.
  • Das Problem: Wer nicht untergehen will, ist im knallharten globalen Wettbewerb zu maximaler Effizienz gezwungen.
  • Die Forderung nach „mehr Markt“ hat ihre Wurzeln im Prozess der Mod­ernisierung, der als politische und ökonomische Lib­er­al­isierung ver­schiedene Gesichter hat.
  • Während der liberale Staat vom Einzelnen u. U. verlangt, eigene Interessen zurückzunehmen, wenn dadurch die Interessen anderer betroffen sind, fordert der liberale Markt das nicht.
  • Es wird ar­gu­men­tiert, dass der freie Markt automatisch dem Wohl aller diene. In Wirk­lichkeit ordnet er alles den Interessen des Kapitals unter.
  • Der vollständig ver­wirk­lichte freie Markt bedeutet das Recht des Stärkeren.
  • In der Konsequenz bedroht dies den liberalen Staat und damit die politische Freiheit.
  • Die Lösung ist der re­pub­likanis­che Lib­er­al­is­mus, in dem Eigennutz und Gewin­n­max­imierung zwar zulässig sind, aber durch berechtigte Interessen anderer Akteure begrenzt werden.
  • Angesichts der Glob­al­isierung benötigen wir eine supra­na­tionale Rah­menord­nung, in der weltweite Umwelt- und Sozial­stan­dards gesetzt werden.
 

Zusammenfassung

Effizienz und Vernunft

Planvoll und effizient zu produzieren, ist das Grund­prinzip wirtschaftlichen Handelns und ein klassisches Merkmal, das den Menschen vom Tier un­ter­schei­det. Nicht selten wird Effizienz deshalb als der Inbegriff von Rationalität überhaupt verstanden. Aber diese Vorstellung lässt einen wichtigen Aspekt unbeachtet: Zwar ist die ökonomisch-tech­nis­che Rationalität unschlagbar, wenn es darum geht, aus knappen Ressourcen so viel wie möglich her­auszu­holen.

„Wirtschaften ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck des guten Lebens.“

Effizientes Wirtschaften ist jedoch kein Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zum Zweck – nämlich zu einem guten Leben. Geht es um Entschei­dun­gen zwischen un­ter­schiedlichen Lebensentwürfen, um die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder nach dem guten Leben, dann gibt diese Form von Rationalität keine Antworten. Um welche zu finden, benötigen wir eine andere Art der Rationalität, nämlich die ethisch-prak­tis­che Vernunft. Diese erlaubt es uns, uns vernünftig mit anderen Menschen zu verständigen und dabei aufgrund guter, für alle nachvol­lziehbarer Gründe zu einer Entschei­dung zu kommen.

„Nicht alles, was ökonomisch als rational gilt, ist deshalb schon vernünftig.“

Beide Rationalitäten sind nicht ineinander überführbar oder voneinander abhängig, es sind einfach zwei un­ter­schiedliche Formen von Vernunft. Inzwischen erscheint der Ef­fizien­zgedanke aber oft als oberste Form der Vernunft, der sich alles andere un­terzuord­nen hat. Dabei sind die gesellschaftlichen Kon­se­quen­zen maximaler Produktivitätssteigerung und Ra­tio­nal­isierung der Arbeit keineswegs vernünftig – man denke nur an Working Poor, Umweltzerstörung, zunehmende soziale Un­gle­ich­heit usw. Zur Lösung dieser Probleme benötigt man Antworten auf die Fragen nach dem Wozu (Sin­ndi­men­sion) und nach der gerechten Verteilung (Legitimitätsdimension). Die ökonomisch-tech­nis­che Rationalität kann diese Punkte nicht klären.

Sinn und Legitimität

Wie sieht ein gutes und gelungenes Leben aus? Das ist in modernen, plu­ral­is­tis­chen Gesellschaften eine Frage, die jeder für sich selbst beantworten darf, muss und will. Diese Selb­stver­wirk­lichung ist allerdings nicht unbegrenzt und auf Kosten anderer möglich: Die in­di­vidu­elle Sinnfindung, die persönliche Lebensführung und das Glück des Einzelnen sind immer nur möglich im Rahmen all­ge­mein­verbindlicher Regeln und Grundsätze, den Regeln eines als gerecht empfundenen Zusam­men­lebens. Die legitime gesellschaftliche Ordnung ist also der Rahmen für das in­di­vidu­elle Glück.

„Die Freiheit des einen findet ihre legitimen Grenzen in der gleichen Freiheit des anderen.“

Diese beiden Dimensionen bieten erst die Grundlage für das effiziente Wirtschaften. Sie sind dem Ef­fizien­z­denken also über- und nicht un­ter­ge­ord­net, wie es derzeit oft den Anschein hat. Es ist folglich nicht per se alles gut, was eine möglichst effiziente Produktion oder möglichst gute Rah­menbe­din­gun­gen für das Kapital bietet. Im Gegenteil, die Anzeichen mehren sich, dass das ungebremste Gewinnstreben eine wesentliche Ursache für massive soziale, ökologische und ökonomische Probleme ist. Sinn und Gerechtigkeit sind keine luxuriösen Fragen für Morala­pos­tel oder Gutmenschen, sondern der Rahmen, in den das effiziente ökonomische Handeln eingebettet ist.

Der Sachzwanggedanke

Der angebliche Zwang zur Gewin­n­max­imierung bis zum Geht­nicht­mehr scheint eine Folge des Wettbewerbs am Markt zu sein – wer nicht mitmacht, muss untergehen, so die Logik. Dies ist richtig, wenn in einer Gesellschaft die Gewin­n­max­imierung als oberste Norm begriffen wird, der sich alles andere un­terzuord­nen tat. Eine solche Gesellschaft ist jedoch nicht gottgegeben, sondern das Ergebnis gesellschaftlich-poli­tis­cher Entschei­dun­gen. Es geht nun nicht darum, jede egoistische oder auf Gewinnstreben zielende Regung zu geißeln und einen weltfremden Altruismus zu predigen. Aber es wäre von Vorteil, das ungehemmte Gewinnstreben in zumutbarer Weise zu begrenzen. Warum? Weil auch andere Akteure – die Mitarbeiter, die Kunden, die Umwelt – legitime und berechtigte Interessen haben, und man deshalb eben nicht alles machen darf, was der Gewin­n­max­imierung dient.

„Eine strikte Gewinn- und Rentabilitäts­max­imierung im einseitigen Partikulärinteresse der Shareholder (und des Managements) ist ethisch un­vertret­bar.“

In der Praxis existieren diese Grenzen bereits: In en­twick­el­ten Gesellschaften gibt es nicht umsonst so etwas wie Men­schen­rechte, Sozial­stan­dards, Umweltschutz usw. Allerdings wird fleißig daran gearbeitet, diese Grenzen mit der Forderung nach „mehr Markt“ so weit wie möglich niederzureißen. Genau dieses Mehr an Markt führt aber erst zu dem mörderischen Wettbewerb, zur immer härteren Selb­st­be­haup­tung. Die Dereg­ulierung, die auf den ersten Blick als mehr Freiheit erscheint, ist also in Wirk­lichkeit ein immer härterer Zwangszusam­men­hang für den Einzelnen: Er wird – bei Strafe seines ökonomischen Untergangs – dazu gezwungen, sich den Spielregeln des Marktes un­terzuord­nen. Nun stellt sich natürlich die Frage, wer diesen Zustand aus welchem Grund will. Die Antwort liegt auf der Hand: diejenigen, die davon profitieren. Der scheinbare Sachzwang ist also keineswegs naturgegeben, sondern dient ganz bestimmten Interessen.

Die Parteilichkeit des Marktes

Der liberale Gedanke hat seine Wurzeln im Prozess der Mod­ernisierung. Mod­ernisierung heißt: Nicht mehr die Tradition, nicht mehr das, was man schon immer so gemacht hat, ist an sich richtig, sondern das, was vernünftig begründbar ist. Mod­ernisierung bedeutet gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Emanzi­pa­tion. Tra­di­tionelle Lebens­for­men, Weltan­schau­un­gen und Gesellschaftsstruk­turen lösen sich auf, und die Vernunft bleibt die einzige Instanz, die letzte Autorität, die die Moderne gelten lässt. Allerdings zeigte sich im Prozess der Mod­ernisierung schon sehr früh eine Ambivalenz: Der politische Lib­er­al­is­mus forderte eine Gesellschaft­sor­d­nung von freien und gleichen Bürgern, der wirtschaftliche Lib­er­al­is­mus jedoch die Freiheit der Marktkräfte. Je freier die Märkte, desto besser für alle, so das Credo. Berühmt geworden ist das Bild der un­sicht­baren Hand, die – quasi im magischen Alleingang – Wohlstand für alle bringen soll. Dies ist zwar ideengeschichtlich begründbar, inhaltlich aber schlicht falsch. Richtig ist vielmehr, dass der freie Markt diejenigen begünstigt, die über besonders viel Kapital (egal ob Sach-, Finanz- oder Hu­mankap­i­tal) verfügen und dieses möglichst effizient verwerten können. Andere, ebenso berechtigte Interessen sind demgegenüber im Nachteil. Der Markt ist also keineswegs neutral, sondern parteilich.

Liberaler Staat und freier Markt

Ein liberaler Staat lässt seinen Bürgern maximale Freiheit und beschränkt sie nur dort, wo die legitimen Rechte der anderen betroffen sind. Der liberale Staat bietet also gerade keine absolute Freiheit, in der automatisch das Recht des Stärkeren gelten würde, sondern er stellt vernünftige und nachvol­lziehbare Rah­menbe­din­gun­gen auf, innerhalb derer sich die freie Selb­stent­fal­tung zu bewegen hat.

„Wird nur die Gewin­nver­wen­dung als Ort der un­ternehmerischen Ve­r­ant­wor­tung verstanden, resultiert daraus das Konzept karitativer Un­ternehmensethik.“

Eine solche begrenzte Freiheit wider­spricht allerdings der Idee der absoluten Mark­t­frei­heit, wie sie sich in ne­olib­eraler Tradition her­aus­ge­bildet hat. Oberstes Ziel ist hier die Maximierung des eigenen Vorteils, beschrieben im Konzept des Homo oeconomicus. Dieser ist ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht und akzeptiert keinerlei Beschränkungen und Rück­sicht­nah­men auf andere. Beziehungen existieren nur, soweit sie ihm Vorteile bringen. In einer totalen Mark­t­ge­sellschaft ist der Staat nur der Garant für die Freiheit des Marktes und hat alle Beschränkungen der Märkte zu eliminieren. Die dahin­ter­ste­hende Logik: Je weniger Staat, desto mehr Freiheit. Die Logik des Marktes und die Macht des Geldes führen aber para­dox­er­weise dazu, dass die Freiheit der Bürger beschränkt wird. Denn genau dadurch haben nicht mehr alle die gleichen Rechte und die gleiche Freiheit zur persönlichen Selb­stver­wirk­lichung. Vor allem die Interessen der Schwächeren, etwa ihr Recht auf Bildung oder Gesundheit, geraten unter die Räder. Eine vollkommen ver­wirk­lichte totale Mark­t­ge­sellschaft kann deshalb kein politisch liberaler Staat sein.

Re­pub­likanis­cher Lib­er­al­is­mus

Die Lösung des Problems ist der re­pub­likanis­che Lib­er­al­is­mus. Dabei wird die Grundidee der zumutbaren Beschränkungen der Freiheit auch auf das Gewinnstreben übertragen. Es geht nicht darum, Eigennutz und Gewinnstreben prinzipiell zu verdammen, sondern – wie bei den politischen Rechten auch – zumutbare Grenzen zu setzen. Die Marktkräfte sollen also nicht, wie in Staats­ge­sellschaften, weitgehend unterdrückt werden, sondern in eine liberale, vernünftige Gesellschaft­sor­d­nung eingebunden sein. Freie Betätigung am Markt, freie Marktkräfte und Gewinnstreben sind durchaus zulässig – aber eben in einem gewissen Rahmen, genau wie Autonomie und Selb­stver­wirk­lichung des Einzelnen nur innerhalb gewisser gesellschaftlicher Regeln möglich sind. Hier bestehen enge Verbindun­gen zum klassischen Konzept der sozialen Mark­twirtschaft, auch wenn dieses in der Praxis oft auf eine kom­pen­satorische Sozialpoli­tik verkürzt wurde.

Zivil­isierte Un­ternehmensführung

Als Wirtschaftsbürger trägt der Einzelne eine wirtschaft­sethis­che Ve­r­ant­wor­tung. Er bleibt in seinem ökonomischen Handeln – genau wie im politischen – integer, wenn er immer auch nach der Legitimität seines Tuns fragt. Dies geschieht, indem er prüft, inwieweit sein Handeln aus der Perspektive der davon Betroffenen zulässig ist, indem er also die Interessen anderer nicht einseitig verletzt. Daneben kann der Wirtschaftsbürger auch über seine Konsum- und An­lageentschei­dun­gen Einfluss auf die Wirtschaft nehmen und nicht zuletzt gemein­wohlschädliche Praktiken in Unternehmen öffentlich machen (Whistle­blow­ing).

„Wirtschaftsbürger wollen sehr wohl erfolgreich sein, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihr Tun vor sich selbst wie vor anderen vertreten können.“

Auch die Unternehmen stehen in der Pflicht. Es ist der falsche Weg, erst mit allen Mitteln Gewin­n­max­imierung zu betreiben, um anschließend einen Teil des Gewinns als karitative Wohltaten zu verteilen – das wäre nur eine halbierte Wirtschaft­sethik. Es geht auch nicht darum, dass ethisches Verhalten ökonomisch notwendig ist, weil Skandale zu wirtschaftlichen Problemen führen – das wäre eine bedingte Ethik, eine Scheinethik. Gefordert ist vielmehr eine so genannte zivil­isierte Un­ternehmensführung: Unternehmen müssen sich fragen, inwieweit sie Gewinne auf Kosten anderer, unter Verletzung legitimer oder sogar vorrangiger Interessen erzielen. Gefordert sind konkret eine sinnvolle Geschäftsidee, bindende Grundsätze der Un­ternehmensführung, entsprechende An­reizsys­teme und ein Management, das moralische Integrität zur gelebten Un­ternehmen­skul­tur macht.

Supra­na­tionale Rah­menord­nung

All dies funk­tion­iert allerdings nur, wenn sich der Einzelne mit seinem ethisch ein­wand­freien Verhalten nicht ins Aus kapituliert bzw. auf dem Markt als Verlierer dasteht. Ein nationales Konzept sozialer Mark­twirtschaft mit gebändigten Marktkräften reicht heute nicht mehr aus: Im Zeitalter der Glob­al­isierung – die übrigens auch kein Naturgesetz ist, sondern das Ergebnis politischer Entschei­dun­gen – geht es nicht ohne in­ter­na­tional geltende und auch tatsächlich umgesetzte Spielregeln. Die Regeln müssen also für alle verbindlich sein – ansonsten ist der Ehrliche am Ende immer der Dumme, das Kapital sucht sich die rentabel­sten Anlagemöglichkeiten und setzt damit die nationale Politik unter Druck.

„Der Kern des re­pub­likanis­chen Wirtschaft­sethos besteht in der prinzip­iellen Bere­itschaft des Bürgers, seine Interessen nicht vo­raus­set­zungs- und rücksichtslos zu verfolgen.“

Eine supra­na­tionale Rah­menord­nung tut not, und zwar eben nicht als weltfremdes Gut­men­schen­tum, das irgendwie neben den wirtschaftlichen Zwängen existiert, sondern als klare Begrenzung des totalen Marktes, die eine Vo­raus­set­zung ist für die Freiheit der Bürger. Weltweit gültige Regeln, beispiel­sweise Sozial- und Umwelt­stan­dards oder die Men­schen­rechte sind kein Luxus, sondern die notwendige Bedingung für die Freiheit des Einzelnen. Die Schaffung einer solchen Rah­menord­nung ist wohl weniger bei der extrem marktgläubigen WTO als bei der UNO denkbar. Allerdings liegt hier – trotz erster Ansätze – noch ein langer Weg vor uns.

Über den Autor

Peter Ulrich hatte von 1987 bis zu seiner Emer­i­tierung 2009 den ersten Lehrstuhl für Wirtschaft­sethik an der Universität St. Gallen inne, wo er das Institut für Wirtschaft­sethik gründete und leitete.