Effizienz und Vernunft
Planvoll und effizient zu produzieren, ist das Grundprinzip wirtschaftlichen Handelns und ein klassisches Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Nicht selten wird Effizienz deshalb als der Inbegriff von Rationalität überhaupt verstanden. Aber diese Vorstellung lässt einen wichtigen Aspekt unbeachtet: Zwar ist die ökonomisch-technische Rationalität unschlagbar, wenn es darum geht, aus knappen Ressourcen so viel wie möglich herauszuholen.
„Wirtschaften ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck des guten Lebens.“
Effizientes Wirtschaften ist jedoch kein Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zum Zweck – nämlich zu einem guten Leben. Geht es um Entscheidungen zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen, um die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder nach dem guten Leben, dann gibt diese Form von Rationalität keine Antworten. Um welche zu finden, benötigen wir eine andere Art der Rationalität, nämlich die ethisch-praktische Vernunft. Diese erlaubt es uns, uns vernünftig mit anderen Menschen zu verständigen und dabei aufgrund guter, für alle nachvollziehbarer Gründe zu einer Entscheidung zu kommen.
„Nicht alles, was ökonomisch als rational gilt, ist deshalb schon vernünftig.“
Beide Rationalitäten sind nicht ineinander überführbar oder voneinander abhängig, es sind einfach zwei unterschiedliche Formen von Vernunft. Inzwischen erscheint der Effizienzgedanke aber oft als oberste Form der Vernunft, der sich alles andere unterzuordnen hat. Dabei sind die gesellschaftlichen Konsequenzen maximaler Produktivitätssteigerung und Rationalisierung der Arbeit keineswegs vernünftig – man denke nur an Working Poor, Umweltzerstörung, zunehmende soziale Ungleichheit usw. Zur Lösung dieser Probleme benötigt man Antworten auf die Fragen nach dem Wozu (Sinndimension) und nach der gerechten Verteilung (Legitimitätsdimension). Die ökonomisch-technische Rationalität kann diese Punkte nicht klären.
Sinn und Legitimität
Wie sieht ein gutes und gelungenes Leben aus? Das ist in modernen, pluralistischen Gesellschaften eine Frage, die jeder für sich selbst beantworten darf, muss und will. Diese Selbstverwirklichung ist allerdings nicht unbegrenzt und auf Kosten anderer möglich: Die individuelle Sinnfindung, die persönliche Lebensführung und das Glück des Einzelnen sind immer nur möglich im Rahmen allgemeinverbindlicher Regeln und Grundsätze, den Regeln eines als gerecht empfundenen Zusammenlebens. Die legitime gesellschaftliche Ordnung ist also der Rahmen für das individuelle Glück.
„Die Freiheit des einen findet ihre legitimen Grenzen in der gleichen Freiheit des anderen.“
Diese beiden Dimensionen bieten erst die Grundlage für das effiziente Wirtschaften. Sie sind dem Effizienzdenken also über- und nicht untergeordnet, wie es derzeit oft den Anschein hat. Es ist folglich nicht per se alles gut, was eine möglichst effiziente Produktion oder möglichst gute Rahmenbedingungen für das Kapital bietet. Im Gegenteil, die Anzeichen mehren sich, dass das ungebremste Gewinnstreben eine wesentliche Ursache für massive soziale, ökologische und ökonomische Probleme ist. Sinn und Gerechtigkeit sind keine luxuriösen Fragen für Moralapostel oder Gutmenschen, sondern der Rahmen, in den das effiziente ökonomische Handeln eingebettet ist.
Der Sachzwanggedanke
Der angebliche Zwang zur Gewinnmaximierung bis zum Gehtnichtmehr scheint eine Folge des Wettbewerbs am Markt zu sein – wer nicht mitmacht, muss untergehen, so die Logik. Dies ist richtig, wenn in einer Gesellschaft die Gewinnmaximierung als oberste Norm begriffen wird, der sich alles andere unterzuordnen tat. Eine solche Gesellschaft ist jedoch nicht gottgegeben, sondern das Ergebnis gesellschaftlich-politischer Entscheidungen. Es geht nun nicht darum, jede egoistische oder auf Gewinnstreben zielende Regung zu geißeln und einen weltfremden Altruismus zu predigen. Aber es wäre von Vorteil, das ungehemmte Gewinnstreben in zumutbarer Weise zu begrenzen. Warum? Weil auch andere Akteure – die Mitarbeiter, die Kunden, die Umwelt – legitime und berechtigte Interessen haben, und man deshalb eben nicht alles machen darf, was der Gewinnmaximierung dient.
„Eine strikte Gewinn- und Rentabilitätsmaximierung im einseitigen Partikulärinteresse der Shareholder (und des Managements) ist ethisch unvertretbar.“
In der Praxis existieren diese Grenzen bereits: In entwickelten Gesellschaften gibt es nicht umsonst so etwas wie Menschenrechte, Sozialstandards, Umweltschutz usw. Allerdings wird fleißig daran gearbeitet, diese Grenzen mit der Forderung nach „mehr Markt“ so weit wie möglich niederzureißen. Genau dieses Mehr an Markt führt aber erst zu dem mörderischen Wettbewerb, zur immer härteren Selbstbehauptung. Die Deregulierung, die auf den ersten Blick als mehr Freiheit erscheint, ist also in Wirklichkeit ein immer härterer Zwangszusammenhang für den Einzelnen: Er wird – bei Strafe seines ökonomischen Untergangs – dazu gezwungen, sich den Spielregeln des Marktes unterzuordnen. Nun stellt sich natürlich die Frage, wer diesen Zustand aus welchem Grund will. Die Antwort liegt auf der Hand: diejenigen, die davon profitieren. Der scheinbare Sachzwang ist also keineswegs naturgegeben, sondern dient ganz bestimmten Interessen.
Die Parteilichkeit des Marktes
Der liberale Gedanke hat seine Wurzeln im Prozess der Modernisierung. Modernisierung heißt: Nicht mehr die Tradition, nicht mehr das, was man schon immer so gemacht hat, ist an sich richtig, sondern das, was vernünftig begründbar ist. Modernisierung bedeutet gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Emanzipation. Traditionelle Lebensformen, Weltanschauungen und Gesellschaftsstrukturen lösen sich auf, und die Vernunft bleibt die einzige Instanz, die letzte Autorität, die die Moderne gelten lässt. Allerdings zeigte sich im Prozess der Modernisierung schon sehr früh eine Ambivalenz: Der politische Liberalismus forderte eine Gesellschaftsordnung von freien und gleichen Bürgern, der wirtschaftliche Liberalismus jedoch die Freiheit der Marktkräfte. Je freier die Märkte, desto besser für alle, so das Credo. Berühmt geworden ist das Bild der unsichtbaren Hand, die – quasi im magischen Alleingang – Wohlstand für alle bringen soll. Dies ist zwar ideengeschichtlich begründbar, inhaltlich aber schlicht falsch. Richtig ist vielmehr, dass der freie Markt diejenigen begünstigt, die über besonders viel Kapital (egal ob Sach-, Finanz- oder Humankapital) verfügen und dieses möglichst effizient verwerten können. Andere, ebenso berechtigte Interessen sind demgegenüber im Nachteil. Der Markt ist also keineswegs neutral, sondern parteilich.
Liberaler Staat und freier Markt
Ein liberaler Staat lässt seinen Bürgern maximale Freiheit und beschränkt sie nur dort, wo die legitimen Rechte der anderen betroffen sind. Der liberale Staat bietet also gerade keine absolute Freiheit, in der automatisch das Recht des Stärkeren gelten würde, sondern er stellt vernünftige und nachvollziehbare Rahmenbedingungen auf, innerhalb derer sich die freie Selbstentfaltung zu bewegen hat.
„Wird nur die Gewinnverwendung als Ort der unternehmerischen Verantwortung verstanden, resultiert daraus das Konzept karitativer Unternehmensethik.“
Eine solche begrenzte Freiheit widerspricht allerdings der Idee der absoluten Marktfreiheit, wie sie sich in neoliberaler Tradition herausgebildet hat. Oberstes Ziel ist hier die Maximierung des eigenen Vorteils, beschrieben im Konzept des Homo oeconomicus. Dieser ist ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht und akzeptiert keinerlei Beschränkungen und Rücksichtnahmen auf andere. Beziehungen existieren nur, soweit sie ihm Vorteile bringen. In einer totalen Marktgesellschaft ist der Staat nur der Garant für die Freiheit des Marktes und hat alle Beschränkungen der Märkte zu eliminieren. Die dahinterstehende Logik: Je weniger Staat, desto mehr Freiheit. Die Logik des Marktes und die Macht des Geldes führen aber paradoxerweise dazu, dass die Freiheit der Bürger beschränkt wird. Denn genau dadurch haben nicht mehr alle die gleichen Rechte und die gleiche Freiheit zur persönlichen Selbstverwirklichung. Vor allem die Interessen der Schwächeren, etwa ihr Recht auf Bildung oder Gesundheit, geraten unter die Räder. Eine vollkommen verwirklichte totale Marktgesellschaft kann deshalb kein politisch liberaler Staat sein.
Republikanischer Liberalismus
Die Lösung des Problems ist der republikanische Liberalismus. Dabei wird die Grundidee der zumutbaren Beschränkungen der Freiheit auch auf das Gewinnstreben übertragen. Es geht nicht darum, Eigennutz und Gewinnstreben prinzipiell zu verdammen, sondern – wie bei den politischen Rechten auch – zumutbare Grenzen zu setzen. Die Marktkräfte sollen also nicht, wie in Staatsgesellschaften, weitgehend unterdrückt werden, sondern in eine liberale, vernünftige Gesellschaftsordnung eingebunden sein. Freie Betätigung am Markt, freie Marktkräfte und Gewinnstreben sind durchaus zulässig – aber eben in einem gewissen Rahmen, genau wie Autonomie und Selbstverwirklichung des Einzelnen nur innerhalb gewisser gesellschaftlicher Regeln möglich sind. Hier bestehen enge Verbindungen zum klassischen Konzept der sozialen Marktwirtschaft, auch wenn dieses in der Praxis oft auf eine kompensatorische Sozialpolitik verkürzt wurde.
Zivilisierte Unternehmensführung
Als Wirtschaftsbürger trägt der Einzelne eine wirtschaftsethische Verantwortung. Er bleibt in seinem ökonomischen Handeln – genau wie im politischen – integer, wenn er immer auch nach der Legitimität seines Tuns fragt. Dies geschieht, indem er prüft, inwieweit sein Handeln aus der Perspektive der davon Betroffenen zulässig ist, indem er also die Interessen anderer nicht einseitig verletzt. Daneben kann der Wirtschaftsbürger auch über seine Konsum- und Anlageentscheidungen Einfluss auf die Wirtschaft nehmen und nicht zuletzt gemeinwohlschädliche Praktiken in Unternehmen öffentlich machen (Whistleblowing).
„Wirtschaftsbürger wollen sehr wohl erfolgreich sein, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihr Tun vor sich selbst wie vor anderen vertreten können.“
Auch die Unternehmen stehen in der Pflicht. Es ist der falsche Weg, erst mit allen Mitteln Gewinnmaximierung zu betreiben, um anschließend einen Teil des Gewinns als karitative Wohltaten zu verteilen – das wäre nur eine halbierte Wirtschaftsethik. Es geht auch nicht darum, dass ethisches Verhalten ökonomisch notwendig ist, weil Skandale zu wirtschaftlichen Problemen führen – das wäre eine bedingte Ethik, eine Scheinethik. Gefordert ist vielmehr eine so genannte zivilisierte Unternehmensführung: Unternehmen müssen sich fragen, inwieweit sie Gewinne auf Kosten anderer, unter Verletzung legitimer oder sogar vorrangiger Interessen erzielen. Gefordert sind konkret eine sinnvolle Geschäftsidee, bindende Grundsätze der Unternehmensführung, entsprechende Anreizsysteme und ein Management, das moralische Integrität zur gelebten Unternehmenskultur macht.
Supranationale Rahmenordnung
All dies funktioniert allerdings nur, wenn sich der Einzelne mit seinem ethisch einwandfreien Verhalten nicht ins Aus kapituliert bzw. auf dem Markt als Verlierer dasteht. Ein nationales Konzept sozialer Marktwirtschaft mit gebändigten Marktkräften reicht heute nicht mehr aus: Im Zeitalter der Globalisierung – die übrigens auch kein Naturgesetz ist, sondern das Ergebnis politischer Entscheidungen – geht es nicht ohne international geltende und auch tatsächlich umgesetzte Spielregeln. Die Regeln müssen also für alle verbindlich sein – ansonsten ist der Ehrliche am Ende immer der Dumme, das Kapital sucht sich die rentabelsten Anlagemöglichkeiten und setzt damit die nationale Politik unter Druck.
„Der Kern des republikanischen Wirtschaftsethos besteht in der prinzipiellen Bereitschaft des Bürgers, seine Interessen nicht voraussetzungs- und rücksichtslos zu verfolgen.“
Eine supranationale Rahmenordnung tut not, und zwar eben nicht als weltfremdes Gutmenschentum, das irgendwie neben den wirtschaftlichen Zwängen existiert, sondern als klare Begrenzung des totalen Marktes, die eine Voraussetzung ist für die Freiheit der Bürger. Weltweit gültige Regeln, beispielsweise Sozial- und Umweltstandards oder die Menschenrechte sind kein Luxus, sondern die notwendige Bedingung für die Freiheit des Einzelnen. Die Schaffung einer solchen Rahmenordnung ist wohl weniger bei der extrem marktgläubigen WTO als bei der UNO denkbar. Allerdings liegt hier – trotz erster Ansätze – noch ein langer Weg vor uns.